Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Weist sich diese Spitze als hohl. Der Verfasser des vorliegenden Buches hat
diesen Fehler vermieden, indem er als leitenden Gedanken für alle Erziehungs¬
thätigkeit die Ausbildung eines sittlichen Charakters hinstellt, der die Welt
in ihrem Sein und Wirken mit vollem Verständnis zu erfassen und auch mit
ganzer Kraft auf sie zurückzuwirken strebt.

Nachdem der Verfasser mit der Aufstellung des Hauptzieles die Grund¬
richtung seiner Pädagogik bestimmt hat, verfährt er durchaus angemessen,
wenn er sich nun anschickt, die Frage zu beantworten, wie weit es möglich
sei, das heranwachsende Geschlecht diesem Ziel anzunähern. Der ethischen
Zielbestimmung folgt notwendigerweise der psychologische Nachweis über die
Möglichkeit der Verwirklichung, ein Problem, das anch ausgedrückt werden
kann durch die Frage uach der Möglichkeit des Besserwerdeus. Seit langer
Zeit hat dieses Problem die denkende" Köpfe beschäftigt. Und immer wieder
drangt sich die Untersuchung heran, wie viel in der Bildung des heranwach¬
senden Geschlechts der Notwendigkeit und wie viel der Freiheit, was der
Natur, was der Kunst, was der Vererbung und was dem Erwerb zuzuschreiben
sei. Die einen huldigen der Ansicht, die Erziehung mache alles aus dem
Menschen, die andern behaupten, die Erziehung mache gar nichts aus ihm.

Die neuere Erziehungswissenschaft, die im Anschluß an Herbart aufs sorg¬
fältigste die Errungenschaften der Psychologie zu verwerten bestrebt ist, hält
sich von beiden Extremen fern, dn sie sich weder mit den Thatsachen der Er-
fahrung, noch mit dem Wesen des menschlichen Geistes vereinigen lassen.
Auch der Verfasser steht auf diesem Boden und folgt den Weisungen einer
Psychologie, die den Thatsachen der Erfahrung nicht widerspricht und die
Möglichkeit der Einwirkung auf die Bildung des jugendlichen Geistes deutlich
<^'ge, indem sie damit die Macht und die Schranken der Erziehung klar auf¬
deckt. Die Schranken liegen in den angebornen Anlagen, die nicht der Psychade
angehören, wohl aber auf der eigentümlichen Einkörpernng des Seelenwesens
in dem physischen Organismus beruhen. Die Macht der Erziehung zeigt sich
in den erworbnen Anlagen. In dem Auf- und Ausbau unsers Geisteslebens
fielen die erworbnen Vorstellungen eine ebenso wichtige Rolle, wie die an¬
gebornen Anlagen. Deshalb muß die Absicht des Erziehers darauf gerichtet
^in, diese erworbnen Vorstellungen so zweckmäßig zu gestalten und zu ver¬
enden, daß sie dem höchste" Ziele der Erziehung, der harmonischen Ausbil¬
dung des Geistes und der Grundlegung eines sittlichen Charakters, wirklich
^chprecheu. Kann der Erzieher nach seinem Erziehungszweck die erworbnen
Erstellungen im Geiste des Kindes erzieherisch gestalten und dadurch den
wirksamsten Einfluß auf die Belebung oder Abtötung der angebornen Anlagen
bewirken, so braucht er an der Macht der Erziehung nicht zu verzweifeln,
Indern darf die begründete Hoffnung hegen, seinen Zögling dem Ideal der
-Persönlichkeit näher 'zu bringen.


Grenzboten III 1893 4

Weist sich diese Spitze als hohl. Der Verfasser des vorliegenden Buches hat
diesen Fehler vermieden, indem er als leitenden Gedanken für alle Erziehungs¬
thätigkeit die Ausbildung eines sittlichen Charakters hinstellt, der die Welt
in ihrem Sein und Wirken mit vollem Verständnis zu erfassen und auch mit
ganzer Kraft auf sie zurückzuwirken strebt.

Nachdem der Verfasser mit der Aufstellung des Hauptzieles die Grund¬
richtung seiner Pädagogik bestimmt hat, verfährt er durchaus angemessen,
wenn er sich nun anschickt, die Frage zu beantworten, wie weit es möglich
sei, das heranwachsende Geschlecht diesem Ziel anzunähern. Der ethischen
Zielbestimmung folgt notwendigerweise der psychologische Nachweis über die
Möglichkeit der Verwirklichung, ein Problem, das anch ausgedrückt werden
kann durch die Frage uach der Möglichkeit des Besserwerdeus. Seit langer
Zeit hat dieses Problem die denkende» Köpfe beschäftigt. Und immer wieder
drangt sich die Untersuchung heran, wie viel in der Bildung des heranwach¬
senden Geschlechts der Notwendigkeit und wie viel der Freiheit, was der
Natur, was der Kunst, was der Vererbung und was dem Erwerb zuzuschreiben
sei. Die einen huldigen der Ansicht, die Erziehung mache alles aus dem
Menschen, die andern behaupten, die Erziehung mache gar nichts aus ihm.

Die neuere Erziehungswissenschaft, die im Anschluß an Herbart aufs sorg¬
fältigste die Errungenschaften der Psychologie zu verwerten bestrebt ist, hält
sich von beiden Extremen fern, dn sie sich weder mit den Thatsachen der Er-
fahrung, noch mit dem Wesen des menschlichen Geistes vereinigen lassen.
Auch der Verfasser steht auf diesem Boden und folgt den Weisungen einer
Psychologie, die den Thatsachen der Erfahrung nicht widerspricht und die
Möglichkeit der Einwirkung auf die Bildung des jugendlichen Geistes deutlich
<^'ge, indem sie damit die Macht und die Schranken der Erziehung klar auf¬
deckt. Die Schranken liegen in den angebornen Anlagen, die nicht der Psychade
angehören, wohl aber auf der eigentümlichen Einkörpernng des Seelenwesens
in dem physischen Organismus beruhen. Die Macht der Erziehung zeigt sich
in den erworbnen Anlagen. In dem Auf- und Ausbau unsers Geisteslebens
fielen die erworbnen Vorstellungen eine ebenso wichtige Rolle, wie die an¬
gebornen Anlagen. Deshalb muß die Absicht des Erziehers darauf gerichtet
^in, diese erworbnen Vorstellungen so zweckmäßig zu gestalten und zu ver¬
enden, daß sie dem höchste» Ziele der Erziehung, der harmonischen Ausbil¬
dung des Geistes und der Grundlegung eines sittlichen Charakters, wirklich
^chprecheu. Kann der Erzieher nach seinem Erziehungszweck die erworbnen
Erstellungen im Geiste des Kindes erzieherisch gestalten und dadurch den
wirksamsten Einfluß auf die Belebung oder Abtötung der angebornen Anlagen
bewirken, so braucht er an der Macht der Erziehung nicht zu verzweifeln,
Indern darf die begründete Hoffnung hegen, seinen Zögling dem Ideal der
-Persönlichkeit näher 'zu bringen.


Grenzboten III 1893 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0033" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215123"/>
          <p xml:id="ID_101" prev="#ID_100"> Weist sich diese Spitze als hohl. Der Verfasser des vorliegenden Buches hat<lb/>
diesen Fehler vermieden, indem er als leitenden Gedanken für alle Erziehungs¬<lb/>
thätigkeit die Ausbildung eines sittlichen Charakters hinstellt, der die Welt<lb/>
in ihrem Sein und Wirken mit vollem Verständnis zu erfassen und auch mit<lb/>
ganzer Kraft auf sie zurückzuwirken strebt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_102"> Nachdem der Verfasser mit der Aufstellung des Hauptzieles die Grund¬<lb/>
richtung seiner Pädagogik bestimmt hat, verfährt er durchaus angemessen,<lb/>
wenn er sich nun anschickt, die Frage zu beantworten, wie weit es möglich<lb/>
sei, das heranwachsende Geschlecht diesem Ziel anzunähern. Der ethischen<lb/>
Zielbestimmung folgt notwendigerweise der psychologische Nachweis über die<lb/>
Möglichkeit der Verwirklichung, ein Problem, das anch ausgedrückt werden<lb/>
kann durch die Frage uach der Möglichkeit des Besserwerdeus. Seit langer<lb/>
Zeit hat dieses Problem die denkende» Köpfe beschäftigt. Und immer wieder<lb/>
drangt sich die Untersuchung heran, wie viel in der Bildung des heranwach¬<lb/>
senden Geschlechts der Notwendigkeit und wie viel der Freiheit, was der<lb/>
Natur, was der Kunst, was der Vererbung und was dem Erwerb zuzuschreiben<lb/>
sei. Die einen huldigen der Ansicht, die Erziehung mache alles aus dem<lb/>
Menschen, die andern behaupten, die Erziehung mache gar nichts aus ihm.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_103"> Die neuere Erziehungswissenschaft, die im Anschluß an Herbart aufs sorg¬<lb/>
fältigste die Errungenschaften der Psychologie zu verwerten bestrebt ist, hält<lb/>
sich von beiden Extremen fern, dn sie sich weder mit den Thatsachen der Er-<lb/>
fahrung, noch mit dem Wesen des menschlichen Geistes vereinigen lassen.<lb/>
Auch der Verfasser steht auf diesem Boden und folgt den Weisungen einer<lb/>
Psychologie, die den Thatsachen der Erfahrung nicht widerspricht und die<lb/>
Möglichkeit der Einwirkung auf die Bildung des jugendlichen Geistes deutlich<lb/>
&lt;^'ge, indem sie damit die Macht und die Schranken der Erziehung klar auf¬<lb/>
deckt. Die Schranken liegen in den angebornen Anlagen, die nicht der Psychade<lb/>
angehören, wohl aber auf der eigentümlichen Einkörpernng des Seelenwesens<lb/>
in dem physischen Organismus beruhen. Die Macht der Erziehung zeigt sich<lb/>
in den erworbnen Anlagen. In dem Auf- und Ausbau unsers Geisteslebens<lb/>
fielen die erworbnen Vorstellungen eine ebenso wichtige Rolle, wie die an¬<lb/>
gebornen Anlagen. Deshalb muß die Absicht des Erziehers darauf gerichtet<lb/>
^in, diese erworbnen Vorstellungen so zweckmäßig zu gestalten und zu ver¬<lb/>
enden, daß sie dem höchste» Ziele der Erziehung, der harmonischen Ausbil¬<lb/>
dung des Geistes und der Grundlegung eines sittlichen Charakters, wirklich<lb/>
^chprecheu. Kann der Erzieher nach seinem Erziehungszweck die erworbnen<lb/>
Erstellungen im Geiste des Kindes erzieherisch gestalten und dadurch den<lb/>
wirksamsten Einfluß auf die Belebung oder Abtötung der angebornen Anlagen<lb/>
bewirken, so braucht er an der Macht der Erziehung nicht zu verzweifeln,<lb/>
Indern darf die begründete Hoffnung hegen, seinen Zögling dem Ideal der<lb/>
-Persönlichkeit näher 'zu bringen.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1893 4</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0033] Weist sich diese Spitze als hohl. Der Verfasser des vorliegenden Buches hat diesen Fehler vermieden, indem er als leitenden Gedanken für alle Erziehungs¬ thätigkeit die Ausbildung eines sittlichen Charakters hinstellt, der die Welt in ihrem Sein und Wirken mit vollem Verständnis zu erfassen und auch mit ganzer Kraft auf sie zurückzuwirken strebt. Nachdem der Verfasser mit der Aufstellung des Hauptzieles die Grund¬ richtung seiner Pädagogik bestimmt hat, verfährt er durchaus angemessen, wenn er sich nun anschickt, die Frage zu beantworten, wie weit es möglich sei, das heranwachsende Geschlecht diesem Ziel anzunähern. Der ethischen Zielbestimmung folgt notwendigerweise der psychologische Nachweis über die Möglichkeit der Verwirklichung, ein Problem, das anch ausgedrückt werden kann durch die Frage uach der Möglichkeit des Besserwerdeus. Seit langer Zeit hat dieses Problem die denkende» Köpfe beschäftigt. Und immer wieder drangt sich die Untersuchung heran, wie viel in der Bildung des heranwach¬ senden Geschlechts der Notwendigkeit und wie viel der Freiheit, was der Natur, was der Kunst, was der Vererbung und was dem Erwerb zuzuschreiben sei. Die einen huldigen der Ansicht, die Erziehung mache alles aus dem Menschen, die andern behaupten, die Erziehung mache gar nichts aus ihm. Die neuere Erziehungswissenschaft, die im Anschluß an Herbart aufs sorg¬ fältigste die Errungenschaften der Psychologie zu verwerten bestrebt ist, hält sich von beiden Extremen fern, dn sie sich weder mit den Thatsachen der Er- fahrung, noch mit dem Wesen des menschlichen Geistes vereinigen lassen. Auch der Verfasser steht auf diesem Boden und folgt den Weisungen einer Psychologie, die den Thatsachen der Erfahrung nicht widerspricht und die Möglichkeit der Einwirkung auf die Bildung des jugendlichen Geistes deutlich <^'ge, indem sie damit die Macht und die Schranken der Erziehung klar auf¬ deckt. Die Schranken liegen in den angebornen Anlagen, die nicht der Psychade angehören, wohl aber auf der eigentümlichen Einkörpernng des Seelenwesens in dem physischen Organismus beruhen. Die Macht der Erziehung zeigt sich in den erworbnen Anlagen. In dem Auf- und Ausbau unsers Geisteslebens fielen die erworbnen Vorstellungen eine ebenso wichtige Rolle, wie die an¬ gebornen Anlagen. Deshalb muß die Absicht des Erziehers darauf gerichtet ^in, diese erworbnen Vorstellungen so zweckmäßig zu gestalten und zu ver¬ enden, daß sie dem höchste» Ziele der Erziehung, der harmonischen Ausbil¬ dung des Geistes und der Grundlegung eines sittlichen Charakters, wirklich ^chprecheu. Kann der Erzieher nach seinem Erziehungszweck die erworbnen Erstellungen im Geiste des Kindes erzieherisch gestalten und dadurch den wirksamsten Einfluß auf die Belebung oder Abtötung der angebornen Anlagen bewirken, so braucht er an der Macht der Erziehung nicht zu verzweifeln, Indern darf die begründete Hoffnung hegen, seinen Zögling dem Ideal der -Persönlichkeit näher 'zu bringen. Grenzboten III 1893 4

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/33
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/33>, abgerufen am 24.11.2024.