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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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iLharles Kingsley als Dichter und Sozialreformer

voller Hvchkirchler, hatte sich um das irdische Heil seiner Herde blutwenig ge¬
kümmert. Die sittlichen und wirtschaftlichen Zustände in der Gemeinde waren
grauenhaft. Der junge Pfarrer lernte dort das ganze Elend der englischen
Landbevölkerung gründlich kennen. Bald sah er ein, daß mit dem alther¬
gebrachten Formelkram, mit dem bloßen Predigen von himmlischer Seligkeit
nichts mehr auszurichten sei bei Menschen, die in verpesteten Höhlen wohnten,
vor Hunger und Arbeit stumpf wie das Vieh geworden waren und ingrimmig
auf die unthätigen, das Leben in vollen Zügen genießenden Großgrundbesitzer
und Kapitalisten schauten. Wie in Eversley, war es ans allen englischen
Pfarren. Mit bitterm Groll sah Kingsley, wie der entsetzlichen Not des Volkes
von der orthodoxen Hochkirche und den behaglich auf ihren Pfründen lebenden
Geistlichen nicht das geringste Verständnis entgegengebracht wurde, wie die
tiefer empfindenden, still mit sich ringenden, selbständig denkenden Theologen,
diese eigentlichen Seelsorger des Volkes, immer mehr hinter die kaltherzigen
Streber und salbungsvollen Schönredner zurückgedrängt wurden, wie sich die
Kirche -- ganz so wie gegenwärtig in Deutschland -- noch immer nicht an¬
schicken wollte, die ganze Ausbildung und Erziehung ihrer Theologen aus den
Grenzen eines überlebten dogmatischen Formelkrams herauszuheben und den
Bedürfnissen und Forderungen der Gegenwart anzupassen. Er klagt über die
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<Ü8AN8t. "Sie zetern -- sagt er -- über jedermann, nur nicht über sich selbst,
aber in solchen hergebrachten Salbadereien, daß kein Ohr mehr durch die ewig
wiederholten Redensarten von Erbsünde, unbußfertigen Herzen u. s. w. be¬
rührt wird."

Hier auf dem Lande erlebte Kingsley die furchtbaren Wahrheiten, die
Carlhle in seinen Schriften (Uig>rei8in und ?"8t auel ?rö86ire der englischen
Nation ins Gesicht geschleudert hatte. Alle rücksichtslosen, wuchtigen Sätze
dieses Mannes waren ihm wie aus der Seele geschrieben. So, wenn Carlhle
in?A8t g.ira?re8vnd sagt: "Man steige in die untern Klassen hinab, wo man
will, in der Stadt oder auf dem Lande, und durch welchen Kanal man will:
man ziehe die darüber vorhandnen amtlichen Erhebungen zu Rate, öder man
thue selbst die Augen auf und sehe sich um. Stets wird sich dasselbe traurige
Bild ergeben. Man wird nämlich zugestehen müssen, daß der arbeitende Teil
der reichen englischen Nation in einen Zustand versunken ist oder versinkt, der,
wenn man alle Seiten dieses Zustandes in Erwägung zieht, buchstäblich noch
nie seinesgleichen gehabt hat."

Das alles konnte Kingsley nun aus seineu Erfahrungen bestätigen. Er
erkannte, daß Opfer gebracht werden müßten, daß der selbstsüchtige Indivi¬
dualismus, der die bevorzugten Stunde Englands beherrschte und leitete, der
Selbstverleugnung, dem Altruismus Platz macheu müßte, wenn gesündre Zu-


iLharles Kingsley als Dichter und Sozialreformer

voller Hvchkirchler, hatte sich um das irdische Heil seiner Herde blutwenig ge¬
kümmert. Die sittlichen und wirtschaftlichen Zustände in der Gemeinde waren
grauenhaft. Der junge Pfarrer lernte dort das ganze Elend der englischen
Landbevölkerung gründlich kennen. Bald sah er ein, daß mit dem alther¬
gebrachten Formelkram, mit dem bloßen Predigen von himmlischer Seligkeit
nichts mehr auszurichten sei bei Menschen, die in verpesteten Höhlen wohnten,
vor Hunger und Arbeit stumpf wie das Vieh geworden waren und ingrimmig
auf die unthätigen, das Leben in vollen Zügen genießenden Großgrundbesitzer
und Kapitalisten schauten. Wie in Eversley, war es ans allen englischen
Pfarren. Mit bitterm Groll sah Kingsley, wie der entsetzlichen Not des Volkes
von der orthodoxen Hochkirche und den behaglich auf ihren Pfründen lebenden
Geistlichen nicht das geringste Verständnis entgegengebracht wurde, wie die
tiefer empfindenden, still mit sich ringenden, selbständig denkenden Theologen,
diese eigentlichen Seelsorger des Volkes, immer mehr hinter die kaltherzigen
Streber und salbungsvollen Schönredner zurückgedrängt wurden, wie sich die
Kirche — ganz so wie gegenwärtig in Deutschland — noch immer nicht an¬
schicken wollte, die ganze Ausbildung und Erziehung ihrer Theologen aus den
Grenzen eines überlebten dogmatischen Formelkrams herauszuheben und den
Bedürfnissen und Forderungen der Gegenwart anzupassen. Er klagt über die
Urteilslosigkeit ok ello olsrN dus^ vieil tllöir ovmiuöutinA ana squalMing- einel
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aber in solchen hergebrachten Salbadereien, daß kein Ohr mehr durch die ewig
wiederholten Redensarten von Erbsünde, unbußfertigen Herzen u. s. w. be¬
rührt wird."

Hier auf dem Lande erlebte Kingsley die furchtbaren Wahrheiten, die
Carlhle in seinen Schriften (Uig>rei8in und ?»8t auel ?rö86ire der englischen
Nation ins Gesicht geschleudert hatte. Alle rücksichtslosen, wuchtigen Sätze
dieses Mannes waren ihm wie aus der Seele geschrieben. So, wenn Carlhle
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will, in der Stadt oder auf dem Lande, und durch welchen Kanal man will:
man ziehe die darüber vorhandnen amtlichen Erhebungen zu Rate, öder man
thue selbst die Augen auf und sehe sich um. Stets wird sich dasselbe traurige
Bild ergeben. Man wird nämlich zugestehen müssen, daß der arbeitende Teil
der reichen englischen Nation in einen Zustand versunken ist oder versinkt, der,
wenn man alle Seiten dieses Zustandes in Erwägung zieht, buchstäblich noch
nie seinesgleichen gehabt hat."

Das alles konnte Kingsley nun aus seineu Erfahrungen bestätigen. Er
erkannte, daß Opfer gebracht werden müßten, daß der selbstsüchtige Indivi¬
dualismus, der die bevorzugten Stunde Englands beherrschte und leitete, der
Selbstverleugnung, dem Altruismus Platz macheu müßte, wenn gesündre Zu-


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[0324] iLharles Kingsley als Dichter und Sozialreformer voller Hvchkirchler, hatte sich um das irdische Heil seiner Herde blutwenig ge¬ kümmert. Die sittlichen und wirtschaftlichen Zustände in der Gemeinde waren grauenhaft. Der junge Pfarrer lernte dort das ganze Elend der englischen Landbevölkerung gründlich kennen. Bald sah er ein, daß mit dem alther¬ gebrachten Formelkram, mit dem bloßen Predigen von himmlischer Seligkeit nichts mehr auszurichten sei bei Menschen, die in verpesteten Höhlen wohnten, vor Hunger und Arbeit stumpf wie das Vieh geworden waren und ingrimmig auf die unthätigen, das Leben in vollen Zügen genießenden Großgrundbesitzer und Kapitalisten schauten. Wie in Eversley, war es ans allen englischen Pfarren. Mit bitterm Groll sah Kingsley, wie der entsetzlichen Not des Volkes von der orthodoxen Hochkirche und den behaglich auf ihren Pfründen lebenden Geistlichen nicht das geringste Verständnis entgegengebracht wurde, wie die tiefer empfindenden, still mit sich ringenden, selbständig denkenden Theologen, diese eigentlichen Seelsorger des Volkes, immer mehr hinter die kaltherzigen Streber und salbungsvollen Schönredner zurückgedrängt wurden, wie sich die Kirche — ganz so wie gegenwärtig in Deutschland — noch immer nicht an¬ schicken wollte, die ganze Ausbildung und Erziehung ihrer Theologen aus den Grenzen eines überlebten dogmatischen Formelkrams herauszuheben und den Bedürfnissen und Forderungen der Gegenwart anzupassen. Er klagt über die Urteilslosigkeit ok ello olsrN dus^ vieil tllöir ovmiuöutinA ana squalMing- einel äootriue-pivlvivF, vitiis eilf portal ok Iklzour turusck xnvt^ troni tllL vlluroll vieil <Ü8AN8t. „Sie zetern — sagt er — über jedermann, nur nicht über sich selbst, aber in solchen hergebrachten Salbadereien, daß kein Ohr mehr durch die ewig wiederholten Redensarten von Erbsünde, unbußfertigen Herzen u. s. w. be¬ rührt wird." Hier auf dem Lande erlebte Kingsley die furchtbaren Wahrheiten, die Carlhle in seinen Schriften (Uig>rei8in und ?»8t auel ?rö86ire der englischen Nation ins Gesicht geschleudert hatte. Alle rücksichtslosen, wuchtigen Sätze dieses Mannes waren ihm wie aus der Seele geschrieben. So, wenn Carlhle in?A8t g.ira?re8vnd sagt: „Man steige in die untern Klassen hinab, wo man will, in der Stadt oder auf dem Lande, und durch welchen Kanal man will: man ziehe die darüber vorhandnen amtlichen Erhebungen zu Rate, öder man thue selbst die Augen auf und sehe sich um. Stets wird sich dasselbe traurige Bild ergeben. Man wird nämlich zugestehen müssen, daß der arbeitende Teil der reichen englischen Nation in einen Zustand versunken ist oder versinkt, der, wenn man alle Seiten dieses Zustandes in Erwägung zieht, buchstäblich noch nie seinesgleichen gehabt hat." Das alles konnte Kingsley nun aus seineu Erfahrungen bestätigen. Er erkannte, daß Opfer gebracht werden müßten, daß der selbstsüchtige Indivi¬ dualismus, der die bevorzugten Stunde Englands beherrschte und leitete, der Selbstverleugnung, dem Altruismus Platz macheu müßte, wenn gesündre Zu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/324>, abgerufen am 28.07.2024.