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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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und dem blühenden Unsinn der Sektirerei die drüben so imposant sich erhebende
katholische Kirche triumphirend gegenüberstellt. Er ist auch Franzose, und
darin liegt ein zweiter Grund der Abneigung und des Mangels an Ver¬
ständnis, der zur Abneigung gehört. Natürlich ist ihm auch deutsches Wesen
nicht sympathisch, er macht dessen Einfluß auf das geistige und religiöse Leben
für transatlantische Entwicklungen verantwortlich, in denen von deutschem Ein¬
fluß sowenig ist, wie in dem bekannten Büchlein von der Trübung des Lammes.
In dieser Frage würde ein vollkommen unparteiischer Richter die zwei großen
Zeugen aufrufen, Neuengland für unbeeinflußte Entwicklung, den jungen Westen
für deutsche (und skandinavische) Einflüsse. Die in Neuenglnnd überwältigend
rasch um sich greifende Enttirchlichung würde ihn lehren, daß der Deutsche
auf diesem Gebiete nicht so ohne weiteres zu belasten ist, zumal da die katho¬
lischen Deutschen des Westens so fest und treu zur Kirche stehen wie die un¬
wissendsten Jrländer. Auch daß er den "Materialismus Büchners" als eine
Einfuhrware von den deutschen Universitäten bezeichnet, ist unbillig, denn diese
ursprünglich französische Pflanze hat sehr viel früher ohne Mitwirkung dieses
flachen Nachschreibers ihre leichtbeschwingten, verbreitungsfähigen Keime übers
Meer fliegen lassen. Wo Jannet die französischen Kanadier loben kann, thut
er es. Und so weiter. Aber wir gestehen gern, daß bei all diesen Schranken
und Blenden sein Urteil sehr oft das Richtige trifft, und daß es eine wahre
Wohlthat ist, die amerikanischen Neubildungen, besonders auf staatlichem und
gesellschaftlichen Gebiete, nicht bloß angestaunt und erhoben, sondern auch ein¬
mal kritisch zerlegt zu scheu. Er legt den Finger schonungslos ans offen¬
kundig faule Stellen, die von andern gern vertuscht werden: in der Gesellschaft
die Geldsucht, die den rohen, ungebildeten Luxus gebiert; im Staate die Kor¬
ruption, die anständige Leute aus dem politischen Leben hinausdrängt; in der
Familie das kühle Nebeneinanderstellen des Mannes und des Weibes, die Ver¬
trüge schließen wie Fremde und ihre Ehe trennen, als ob es eine Reisebekannt¬
schaft wäre, sodaß sich schon vor zehn Jahren die ^uti-vivoros I^ö-iguL bildete,
die aber nichts ausrichtet; in der Kirche die Verlogenheit und Weltlichkeit, das
kurzsichtige Sektenwesen. Daß in dem allen der undesiuirbcire und unübersetz¬
bare alte englische Li-int den eigentlichen Füulniserreger bildet, hat Herr Jannet
nicht gehörig betont, und doch ist es praktisch wichtig und völkerpsvcholvgisch
interessant. Es paßt dein Herrn nicht in den Kram, zu bekennen, daß das
wirksamste Gegengift gegen dieses Übel die deutsche Ehrlichkeit "ud Offenheit
ist, a Lvi'taiu xrodll/, in der ein so tiefblickender Amerikaner wie N. W. Emerson
die vorzüglichste Eigenschaft des Deutschen sieht.

Einen Beweis, daß sich das Bedürfnis aufdrängt, billig abwägend den
Dingen auf den^Grund zu gehen, sehen wir darin, daß sich der Bearbeiter
Jauuets, or. Walter Kämpfe, bemüht, in den manchmal sehr starken Trank,
den Jannet kredenzt, das Wasser der Mäßigung zu gießen. Zu diesem Zwecke


und dem blühenden Unsinn der Sektirerei die drüben so imposant sich erhebende
katholische Kirche triumphirend gegenüberstellt. Er ist auch Franzose, und
darin liegt ein zweiter Grund der Abneigung und des Mangels an Ver¬
ständnis, der zur Abneigung gehört. Natürlich ist ihm auch deutsches Wesen
nicht sympathisch, er macht dessen Einfluß auf das geistige und religiöse Leben
für transatlantische Entwicklungen verantwortlich, in denen von deutschem Ein¬
fluß sowenig ist, wie in dem bekannten Büchlein von der Trübung des Lammes.
In dieser Frage würde ein vollkommen unparteiischer Richter die zwei großen
Zeugen aufrufen, Neuengland für unbeeinflußte Entwicklung, den jungen Westen
für deutsche (und skandinavische) Einflüsse. Die in Neuenglnnd überwältigend
rasch um sich greifende Enttirchlichung würde ihn lehren, daß der Deutsche
auf diesem Gebiete nicht so ohne weiteres zu belasten ist, zumal da die katho¬
lischen Deutschen des Westens so fest und treu zur Kirche stehen wie die un¬
wissendsten Jrländer. Auch daß er den „Materialismus Büchners" als eine
Einfuhrware von den deutschen Universitäten bezeichnet, ist unbillig, denn diese
ursprünglich französische Pflanze hat sehr viel früher ohne Mitwirkung dieses
flachen Nachschreibers ihre leichtbeschwingten, verbreitungsfähigen Keime übers
Meer fliegen lassen. Wo Jannet die französischen Kanadier loben kann, thut
er es. Und so weiter. Aber wir gestehen gern, daß bei all diesen Schranken
und Blenden sein Urteil sehr oft das Richtige trifft, und daß es eine wahre
Wohlthat ist, die amerikanischen Neubildungen, besonders auf staatlichem und
gesellschaftlichen Gebiete, nicht bloß angestaunt und erhoben, sondern auch ein¬
mal kritisch zerlegt zu scheu. Er legt den Finger schonungslos ans offen¬
kundig faule Stellen, die von andern gern vertuscht werden: in der Gesellschaft
die Geldsucht, die den rohen, ungebildeten Luxus gebiert; im Staate die Kor¬
ruption, die anständige Leute aus dem politischen Leben hinausdrängt; in der
Familie das kühle Nebeneinanderstellen des Mannes und des Weibes, die Ver¬
trüge schließen wie Fremde und ihre Ehe trennen, als ob es eine Reisebekannt¬
schaft wäre, sodaß sich schon vor zehn Jahren die ^uti-vivoros I^ö-iguL bildete,
die aber nichts ausrichtet; in der Kirche die Verlogenheit und Weltlichkeit, das
kurzsichtige Sektenwesen. Daß in dem allen der undesiuirbcire und unübersetz¬
bare alte englische Li-int den eigentlichen Füulniserreger bildet, hat Herr Jannet
nicht gehörig betont, und doch ist es praktisch wichtig und völkerpsvcholvgisch
interessant. Es paßt dein Herrn nicht in den Kram, zu bekennen, daß das
wirksamste Gegengift gegen dieses Übel die deutsche Ehrlichkeit »ud Offenheit
ist, a Lvi'taiu xrodll/, in der ein so tiefblickender Amerikaner wie N. W. Emerson
die vorzüglichste Eigenschaft des Deutschen sieht.

Einen Beweis, daß sich das Bedürfnis aufdrängt, billig abwägend den
Dingen auf den^Grund zu gehen, sehen wir darin, daß sich der Bearbeiter
Jauuets, or. Walter Kämpfe, bemüht, in den manchmal sehr starken Trank,
den Jannet kredenzt, das Wasser der Mäßigung zu gießen. Zu diesem Zwecke


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[0317] und dem blühenden Unsinn der Sektirerei die drüben so imposant sich erhebende katholische Kirche triumphirend gegenüberstellt. Er ist auch Franzose, und darin liegt ein zweiter Grund der Abneigung und des Mangels an Ver¬ ständnis, der zur Abneigung gehört. Natürlich ist ihm auch deutsches Wesen nicht sympathisch, er macht dessen Einfluß auf das geistige und religiöse Leben für transatlantische Entwicklungen verantwortlich, in denen von deutschem Ein¬ fluß sowenig ist, wie in dem bekannten Büchlein von der Trübung des Lammes. In dieser Frage würde ein vollkommen unparteiischer Richter die zwei großen Zeugen aufrufen, Neuengland für unbeeinflußte Entwicklung, den jungen Westen für deutsche (und skandinavische) Einflüsse. Die in Neuenglnnd überwältigend rasch um sich greifende Enttirchlichung würde ihn lehren, daß der Deutsche auf diesem Gebiete nicht so ohne weiteres zu belasten ist, zumal da die katho¬ lischen Deutschen des Westens so fest und treu zur Kirche stehen wie die un¬ wissendsten Jrländer. Auch daß er den „Materialismus Büchners" als eine Einfuhrware von den deutschen Universitäten bezeichnet, ist unbillig, denn diese ursprünglich französische Pflanze hat sehr viel früher ohne Mitwirkung dieses flachen Nachschreibers ihre leichtbeschwingten, verbreitungsfähigen Keime übers Meer fliegen lassen. Wo Jannet die französischen Kanadier loben kann, thut er es. Und so weiter. Aber wir gestehen gern, daß bei all diesen Schranken und Blenden sein Urteil sehr oft das Richtige trifft, und daß es eine wahre Wohlthat ist, die amerikanischen Neubildungen, besonders auf staatlichem und gesellschaftlichen Gebiete, nicht bloß angestaunt und erhoben, sondern auch ein¬ mal kritisch zerlegt zu scheu. Er legt den Finger schonungslos ans offen¬ kundig faule Stellen, die von andern gern vertuscht werden: in der Gesellschaft die Geldsucht, die den rohen, ungebildeten Luxus gebiert; im Staate die Kor¬ ruption, die anständige Leute aus dem politischen Leben hinausdrängt; in der Familie das kühle Nebeneinanderstellen des Mannes und des Weibes, die Ver¬ trüge schließen wie Fremde und ihre Ehe trennen, als ob es eine Reisebekannt¬ schaft wäre, sodaß sich schon vor zehn Jahren die ^uti-vivoros I^ö-iguL bildete, die aber nichts ausrichtet; in der Kirche die Verlogenheit und Weltlichkeit, das kurzsichtige Sektenwesen. Daß in dem allen der undesiuirbcire und unübersetz¬ bare alte englische Li-int den eigentlichen Füulniserreger bildet, hat Herr Jannet nicht gehörig betont, und doch ist es praktisch wichtig und völkerpsvcholvgisch interessant. Es paßt dein Herrn nicht in den Kram, zu bekennen, daß das wirksamste Gegengift gegen dieses Übel die deutsche Ehrlichkeit »ud Offenheit ist, a Lvi'taiu xrodll/, in der ein so tiefblickender Amerikaner wie N. W. Emerson die vorzüglichste Eigenschaft des Deutschen sieht. Einen Beweis, daß sich das Bedürfnis aufdrängt, billig abwägend den Dingen auf den^Grund zu gehen, sehen wir darin, daß sich der Bearbeiter Jauuets, or. Walter Kämpfe, bemüht, in den manchmal sehr starken Trank, den Jannet kredenzt, das Wasser der Mäßigung zu gießen. Zu diesem Zwecke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/317>, abgerufen am 23.11.2024.