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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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In der utilitarischen, in der kirchlichen und politischen Erziehung herrscht
nicht das rein menschliche Interesse, sondern der Zweck eines andern, dem sich
der einzelne als Mittel zu unterwerfen hat. Der richtige Standpunkt ergiebt
sich nach der Ansicht des Verfassers, wenn wir fragen: Ans welchem Inter¬
esse erziehen Vater und Mutter ihre Kinder? Antwort: Weder um des Staates,
noch um der Kirche, sondern um der Kinder selbst willen, ans Liebe zu ihnen,
um ihres eignen Wertes willen. Maßgebend ist das rein menschliche Inter¬
esse, das die Eltern an den Kindern nehmen. Hier tritt die natürliche Grund-
wurzel aller Erziehungsthätigkeit zu Tage. Das Kind soll in erster Linie
um seiner selbst willen, aus rein menschlich-natürlichen Gründen erzogen werden.
Die Erziehung will vor allem den Menschen im Zögling sich frei entwickeln
lassen.

Dieses Streben nach rein menschlicher Erziehung tritt uns nun geschichtlich
in verschiednen Formen entgegen. Der Verfasser nimmt zu diesen Stellung,
und zwar so, daß er unsre heutige Kultur zunächst analysirt, um denn die
einseitige Betonung einer einzelnen Richtung zurückzuweisen.

Nach dem Verfasser setzt sich unsre Kultur aus drei Bestandteilen zu¬
sammen: 1. Die älteste und grundlegende Schicht ist der ans dem klassischen
Altertum zu uns sprechende Geist. Wissenschaft und Kunst werden durch ihn
noch heute stark beeinflußt, wenn auch das Bestreben nach Ablösung von diesem
Einfluß deutlich zu bemerken ist. Mit den idealen Elementen, die er mit sich
führt, durchdringt er bis zu einem gewissen Grade noch heute unser Leben,
aber ausschlaggebend ist er schou lange nicht mehr und darf es auch nicht
sein. Denn als zweite Schicht tritt hinzu der Geist des Christentums, der
an sittlichem Wert den antiken überragt. Er bildet die eigentliche Grundlage
für die Gestaltung der sittlichen Verhältnisse unsrer Lebensführung. Als dritte
und jüngste Schicht erscheint der realistische Geist der modernen Naturwissen¬
schaften und der modernen Technik mit seinen großartigen Errungenschaften,
mit den vielfachen Umwälzungen auf dem wirtschaftlichen Gebiete, den Ver¬
kehrserleichterungen und allen den Einrichtungen, in denen die Herrschaft des
Menschen über die Natur ins Ungemessene vergrößert erscheint.

Ans diesen drei Schichten setzt sich unsre heutige Bildung zusammen.
Einseitig und darum ungenügend muß jede pädagogische Richtung genannt
werden, die nur eines dieser Elemente anerkennt und die andern verachtet, nur
eines als Hauptziel gelten lassen und die andern entweder ganz verneinen oder
ungebührlich zurückdrängen will. Deshalb verwirft der Verfasser die einseitig
humanistische wie die einseitig realistische Richtung. Auch kann er weder den
ästhetisch-künstlerischen Standpunkt in seiner einseitigen Ausprägung anerkennen,
noch den moralistischen, wie ihn die Nationalisten uns hinterließen.

Worin erblickt nun der Verfasser das absolut wertvolle Ziel der Er¬
ziehung? Das Musterbild, sagt er, das dem Erzieher vorschweben soll, ist


In der utilitarischen, in der kirchlichen und politischen Erziehung herrscht
nicht das rein menschliche Interesse, sondern der Zweck eines andern, dem sich
der einzelne als Mittel zu unterwerfen hat. Der richtige Standpunkt ergiebt
sich nach der Ansicht des Verfassers, wenn wir fragen: Ans welchem Inter¬
esse erziehen Vater und Mutter ihre Kinder? Antwort: Weder um des Staates,
noch um der Kirche, sondern um der Kinder selbst willen, ans Liebe zu ihnen,
um ihres eignen Wertes willen. Maßgebend ist das rein menschliche Inter¬
esse, das die Eltern an den Kindern nehmen. Hier tritt die natürliche Grund-
wurzel aller Erziehungsthätigkeit zu Tage. Das Kind soll in erster Linie
um seiner selbst willen, aus rein menschlich-natürlichen Gründen erzogen werden.
Die Erziehung will vor allem den Menschen im Zögling sich frei entwickeln
lassen.

Dieses Streben nach rein menschlicher Erziehung tritt uns nun geschichtlich
in verschiednen Formen entgegen. Der Verfasser nimmt zu diesen Stellung,
und zwar so, daß er unsre heutige Kultur zunächst analysirt, um denn die
einseitige Betonung einer einzelnen Richtung zurückzuweisen.

Nach dem Verfasser setzt sich unsre Kultur aus drei Bestandteilen zu¬
sammen: 1. Die älteste und grundlegende Schicht ist der ans dem klassischen
Altertum zu uns sprechende Geist. Wissenschaft und Kunst werden durch ihn
noch heute stark beeinflußt, wenn auch das Bestreben nach Ablösung von diesem
Einfluß deutlich zu bemerken ist. Mit den idealen Elementen, die er mit sich
führt, durchdringt er bis zu einem gewissen Grade noch heute unser Leben,
aber ausschlaggebend ist er schou lange nicht mehr und darf es auch nicht
sein. Denn als zweite Schicht tritt hinzu der Geist des Christentums, der
an sittlichem Wert den antiken überragt. Er bildet die eigentliche Grundlage
für die Gestaltung der sittlichen Verhältnisse unsrer Lebensführung. Als dritte
und jüngste Schicht erscheint der realistische Geist der modernen Naturwissen¬
schaften und der modernen Technik mit seinen großartigen Errungenschaften,
mit den vielfachen Umwälzungen auf dem wirtschaftlichen Gebiete, den Ver¬
kehrserleichterungen und allen den Einrichtungen, in denen die Herrschaft des
Menschen über die Natur ins Ungemessene vergrößert erscheint.

Ans diesen drei Schichten setzt sich unsre heutige Bildung zusammen.
Einseitig und darum ungenügend muß jede pädagogische Richtung genannt
werden, die nur eines dieser Elemente anerkennt und die andern verachtet, nur
eines als Hauptziel gelten lassen und die andern entweder ganz verneinen oder
ungebührlich zurückdrängen will. Deshalb verwirft der Verfasser die einseitig
humanistische wie die einseitig realistische Richtung. Auch kann er weder den
ästhetisch-künstlerischen Standpunkt in seiner einseitigen Ausprägung anerkennen,
noch den moralistischen, wie ihn die Nationalisten uns hinterließen.

Worin erblickt nun der Verfasser das absolut wertvolle Ziel der Er¬
ziehung? Das Musterbild, sagt er, das dem Erzieher vorschweben soll, ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/30>, abgerufen am 23.11.2024.