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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

alleine --," zur snftigeu Zote übergehend, jauchzt er: "Auf der Vogelwiese hab
ich sie gefragt--," zappelt und strampelt dann aus vollster Überzeugung: "Gigerl
sein, das ist fein," und wälzt sich endlich mit den schonen Versen: "Im Grünewald,
im Grünewald ist Holzauktion" nach Herzenslust in dem Schlamme des wider¬
wärtigsten Blödsinns. So wenig Mittel, und so viel Erfolg! Das tönt von der
Possen- und Opcrettenbühne, das klingt vom Konzertpodium, das quiekt aus dem
Leierkasten, das liegt allen, groß und klein, Mann, Weib und Kind, im Munde
und Pflanzt sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit fort.

Der Nährboden dieser neuen Volkspoesie ist Berlin, und ihr Duft erinnert
ja auch lebhaft an die eigentümliche, aus Mist- und Asphaltgeruch zusammengesetzte
Großstadtluft, wie sie uach heißen Tagen aufsteigt und Herrn Oskar Blumenthal
fo erfreuliche Tantiemen abwirft. Notabene: ist es nicht bezeichnend, daß auf
dem Höhepunkt der Blumenthalschen Farce ein Gassenhauer ("Mit meiner Man-
doline") steht?

Der Gassenhauer hat mit praktischem Blick die ganz und gar nicht mehr
metaphysische" Bedürfnisse des modernen Menschen erkannt und feiert sie in Ton
und Wort. Sein Gift schleicht sich in die Seelen der jungen Leute, ja der Kinder.
Ruhig hören die Eltern ihren Jungen das schöne Lied von der Holzauktion plärren
oder auf dem Klavier hämmern, sie lachen wohl gar darüber und summen mit.
Und so ergreift durchs Ohr hindurch die Trivialität, die Gemeinheit schnell und
fest Besitz von den Seelen und vertilgt auch die letzten Neste von Schönheitssinn
und Harmonie. Des Knaben Wunderhorn hat ausgeklungen. Das Volkslied ist
tot -- es lebe das Pöbellied!




Litteratur
Vom Kapitalismus zur Einzelarbeit. Von Willy Pastor. Berlin, Puttkammer
und Mühlbrecht, 1892

Ein geistreiches Büchlein voll anregender Gedanken, geschichtsphilosophischer
wie praktischer. Der Verfasser glaubt, wie schon der Titel andeutet, nu den Fort¬
schritt der Menschheit zu immer individueller" Bildungen und hofft daher auch
mit Werner Siemers von der Elektrotechnik die Auflösung der Großbetriebe und
die Dezentralisiruug der Industrie. Er schließt mit den Sätzen: "Abgehenden
Völkern beschert ihr böser Geist haltlose Naturen, aufgehende finden zähe Charaktere.
Das verfallende Spanien regierte ein Philipp II- ^der aber sein Reich nicht dnrch
Haltlosigkeit, sondern durch zähes, verbohrtes Festhalten am Alten zu Grunde ge¬
richtet hatj, an der Spitze Deutschlands, das zu großen Dingen berufen scheint,
steht ein Wilhelm II. Das Horoskop steht günstig. Nun denn: es waltet in jeder
Zeit ein geheimes Bündnis verwandter Geister. Schließt, die ihr zusammen gehört,
den Kreis fester."


Litteratur

alleine —," zur snftigeu Zote übergehend, jauchzt er: „Auf der Vogelwiese hab
ich sie gefragt—," zappelt und strampelt dann aus vollster Überzeugung: „Gigerl
sein, das ist fein," und wälzt sich endlich mit den schonen Versen: „Im Grünewald,
im Grünewald ist Holzauktion" nach Herzenslust in dem Schlamme des wider¬
wärtigsten Blödsinns. So wenig Mittel, und so viel Erfolg! Das tönt von der
Possen- und Opcrettenbühne, das klingt vom Konzertpodium, das quiekt aus dem
Leierkasten, das liegt allen, groß und klein, Mann, Weib und Kind, im Munde
und Pflanzt sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit fort.

Der Nährboden dieser neuen Volkspoesie ist Berlin, und ihr Duft erinnert
ja auch lebhaft an die eigentümliche, aus Mist- und Asphaltgeruch zusammengesetzte
Großstadtluft, wie sie uach heißen Tagen aufsteigt und Herrn Oskar Blumenthal
fo erfreuliche Tantiemen abwirft. Notabene: ist es nicht bezeichnend, daß auf
dem Höhepunkt der Blumenthalschen Farce ein Gassenhauer („Mit meiner Man-
doline") steht?

Der Gassenhauer hat mit praktischem Blick die ganz und gar nicht mehr
metaphysische» Bedürfnisse des modernen Menschen erkannt und feiert sie in Ton
und Wort. Sein Gift schleicht sich in die Seelen der jungen Leute, ja der Kinder.
Ruhig hören die Eltern ihren Jungen das schöne Lied von der Holzauktion plärren
oder auf dem Klavier hämmern, sie lachen wohl gar darüber und summen mit.
Und so ergreift durchs Ohr hindurch die Trivialität, die Gemeinheit schnell und
fest Besitz von den Seelen und vertilgt auch die letzten Neste von Schönheitssinn
und Harmonie. Des Knaben Wunderhorn hat ausgeklungen. Das Volkslied ist
tot — es lebe das Pöbellied!




Litteratur
Vom Kapitalismus zur Einzelarbeit. Von Willy Pastor. Berlin, Puttkammer
und Mühlbrecht, 1892

Ein geistreiches Büchlein voll anregender Gedanken, geschichtsphilosophischer
wie praktischer. Der Verfasser glaubt, wie schon der Titel andeutet, nu den Fort¬
schritt der Menschheit zu immer individueller» Bildungen und hofft daher auch
mit Werner Siemers von der Elektrotechnik die Auflösung der Großbetriebe und
die Dezentralisiruug der Industrie. Er schließt mit den Sätzen: „Abgehenden
Völkern beschert ihr böser Geist haltlose Naturen, aufgehende finden zähe Charaktere.
Das verfallende Spanien regierte ein Philipp II- ^der aber sein Reich nicht dnrch
Haltlosigkeit, sondern durch zähes, verbohrtes Festhalten am Alten zu Grunde ge¬
richtet hatj, an der Spitze Deutschlands, das zu großen Dingen berufen scheint,
steht ein Wilhelm II. Das Horoskop steht günstig. Nun denn: es waltet in jeder
Zeit ein geheimes Bündnis verwandter Geister. Schließt, die ihr zusammen gehört,
den Kreis fester."


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[0294] Litteratur alleine —," zur snftigeu Zote übergehend, jauchzt er: „Auf der Vogelwiese hab ich sie gefragt—," zappelt und strampelt dann aus vollster Überzeugung: „Gigerl sein, das ist fein," und wälzt sich endlich mit den schonen Versen: „Im Grünewald, im Grünewald ist Holzauktion" nach Herzenslust in dem Schlamme des wider¬ wärtigsten Blödsinns. So wenig Mittel, und so viel Erfolg! Das tönt von der Possen- und Opcrettenbühne, das klingt vom Konzertpodium, das quiekt aus dem Leierkasten, das liegt allen, groß und klein, Mann, Weib und Kind, im Munde und Pflanzt sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit fort. Der Nährboden dieser neuen Volkspoesie ist Berlin, und ihr Duft erinnert ja auch lebhaft an die eigentümliche, aus Mist- und Asphaltgeruch zusammengesetzte Großstadtluft, wie sie uach heißen Tagen aufsteigt und Herrn Oskar Blumenthal fo erfreuliche Tantiemen abwirft. Notabene: ist es nicht bezeichnend, daß auf dem Höhepunkt der Blumenthalschen Farce ein Gassenhauer („Mit meiner Man- doline") steht? Der Gassenhauer hat mit praktischem Blick die ganz und gar nicht mehr metaphysische» Bedürfnisse des modernen Menschen erkannt und feiert sie in Ton und Wort. Sein Gift schleicht sich in die Seelen der jungen Leute, ja der Kinder. Ruhig hören die Eltern ihren Jungen das schöne Lied von der Holzauktion plärren oder auf dem Klavier hämmern, sie lachen wohl gar darüber und summen mit. Und so ergreift durchs Ohr hindurch die Trivialität, die Gemeinheit schnell und fest Besitz von den Seelen und vertilgt auch die letzten Neste von Schönheitssinn und Harmonie. Des Knaben Wunderhorn hat ausgeklungen. Das Volkslied ist tot — es lebe das Pöbellied! Litteratur Vom Kapitalismus zur Einzelarbeit. Von Willy Pastor. Berlin, Puttkammer und Mühlbrecht, 1892 Ein geistreiches Büchlein voll anregender Gedanken, geschichtsphilosophischer wie praktischer. Der Verfasser glaubt, wie schon der Titel andeutet, nu den Fort¬ schritt der Menschheit zu immer individueller» Bildungen und hofft daher auch mit Werner Siemers von der Elektrotechnik die Auflösung der Großbetriebe und die Dezentralisiruug der Industrie. Er schließt mit den Sätzen: „Abgehenden Völkern beschert ihr böser Geist haltlose Naturen, aufgehende finden zähe Charaktere. Das verfallende Spanien regierte ein Philipp II- ^der aber sein Reich nicht dnrch Haltlosigkeit, sondern durch zähes, verbohrtes Festhalten am Alten zu Grunde ge¬ richtet hatj, an der Spitze Deutschlands, das zu großen Dingen berufen scheint, steht ein Wilhelm II. Das Horoskop steht günstig. Nun denn: es waltet in jeder Zeit ein geheimes Bündnis verwandter Geister. Schließt, die ihr zusammen gehört, den Kreis fester."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/294>, abgerufen am 23.11.2024.