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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Indische Zustände

urteilung der politischen Verhältnisse der Halbinsel nie außer Acht lassen.
Indien ist ein rein geographischer Begriff, etwa wie Europa.

Dasselbe gilt aber auch wieder von den verschiednen Teilen. Nirgends
bildet die Bevölkerung ein gleichartiges Ganze. Überall dasselbe formlose
Gewirr unfertiger Bildungen. Die Bevölkerung Indiens befindet sich noch
heute auf einer Stufe geschichtlicher Entwicklung, die die großen Kulturnatiouen
Europas um mehr als ein Jahrtausend hinter sich liegen haben. Um in der
Geschichte Westeuropas ein Gegenstück zu den politischen und sozialen Zu¬
stünden Indiens zu finden, müssen wir bis in die Zeit der Mervvinger zurück¬
gehe!?. Und ein den indischen religiösen Verhältnissen entsprechendes Bild
bietet sich uns erst, wenn wir uns in die letzten Jahrhunderte des vorchrist¬
lichen Polytheismus versetzen. Wir sind gewöhnt, mit geographischen Be¬
zeichnungen auch den Gedanken an bestimmte politische Gebilde, mit dem Namen
einer großen historischen Religion auch den Begriff einer Kirche zu verbinden;
so fällt es schwer, uns darüber klar zu werden, was Indien eigentlich ist.
Unwillkürlich sind wir geneigt, die gleichen Formen menschlicher Gesellschaft,
in denen wir leben, und die wir rings um uns sehen, auch außerhalb unsers
Erdteils vorauszusetzen. Die mit den Worten Vaterland, Heimat, Patrio¬
tismus und dergleichen verknüpften Begriffe sind uns durch die Gewohnheit
der Jahrhunderte in Fleisch und Blut übergegangen. In Indien ist politische
Bürgerschaft bis jetzt noch ein unbekanntes Ding. Die Bevölkerung Indiens
zerfällt in viele Hunderttausende verschiedner Stämme und Klane, Kasten und
Gilden, Sekten und fromme Brüderschaften, und die Beziehungen des Ein¬
zelnen zum Staat sind diesen engern, das ganze gesellschaftliche Leben be¬
herrschenden Verhältnissen untergeordnet. "Geographische Grenzen, sagt Lyall,
entsprechen durchaus uicht irgendwelchen bestimmten Verbänden oder Volks¬
gruppen. Sie haben verhältnismüßig nur wenig politische Bedeutung. Es
ist wenig für die Kenntnis eines Mannes gewonnen, wenn man weiß, welchem
Staat er angehört, oder in welchem Gebiet er wohnt. Denn das sind Dinge,
die an sich keinen Unterschied in Abstammung, Einrichtung oder Gewohnheiten
bezeichnen." Mit gleichem Recht ist hervorgehoben worden, daß die Bezeich¬
nung "Hindu" überhaupt keine bestimmte Definition zulasse. Man sagt, daß
in Indien zweihundert Millionen Hindu leben; aber was ist denn ein Hindu?
In Indien heißt Hindu jeder, der nicht Muhammedaner oder Christ oder
Vekenner einer andern großen Religion ist. Wie der Brahmanismus oder
Hinduismus ein religiöses Chaos ist, so ist auch der Name Hindu "keine
nationale oder geographische Benennung, sondern er bezeichnet ganz oberflächlich
eine zufällig zusammengewürfelte Masse von Sekten, Stämmen und erblichen
Berufen."

Diese Spaltungen, die durch das ganze gesellschaftliche Leben der Halb¬
insel gehen, finden ihren bezeichnendsten Ausdruck in dem Kastenwesen.


Indische Zustände

urteilung der politischen Verhältnisse der Halbinsel nie außer Acht lassen.
Indien ist ein rein geographischer Begriff, etwa wie Europa.

Dasselbe gilt aber auch wieder von den verschiednen Teilen. Nirgends
bildet die Bevölkerung ein gleichartiges Ganze. Überall dasselbe formlose
Gewirr unfertiger Bildungen. Die Bevölkerung Indiens befindet sich noch
heute auf einer Stufe geschichtlicher Entwicklung, die die großen Kulturnatiouen
Europas um mehr als ein Jahrtausend hinter sich liegen haben. Um in der
Geschichte Westeuropas ein Gegenstück zu den politischen und sozialen Zu¬
stünden Indiens zu finden, müssen wir bis in die Zeit der Mervvinger zurück¬
gehe!?. Und ein den indischen religiösen Verhältnissen entsprechendes Bild
bietet sich uns erst, wenn wir uns in die letzten Jahrhunderte des vorchrist¬
lichen Polytheismus versetzen. Wir sind gewöhnt, mit geographischen Be¬
zeichnungen auch den Gedanken an bestimmte politische Gebilde, mit dem Namen
einer großen historischen Religion auch den Begriff einer Kirche zu verbinden;
so fällt es schwer, uns darüber klar zu werden, was Indien eigentlich ist.
Unwillkürlich sind wir geneigt, die gleichen Formen menschlicher Gesellschaft,
in denen wir leben, und die wir rings um uns sehen, auch außerhalb unsers
Erdteils vorauszusetzen. Die mit den Worten Vaterland, Heimat, Patrio¬
tismus und dergleichen verknüpften Begriffe sind uns durch die Gewohnheit
der Jahrhunderte in Fleisch und Blut übergegangen. In Indien ist politische
Bürgerschaft bis jetzt noch ein unbekanntes Ding. Die Bevölkerung Indiens
zerfällt in viele Hunderttausende verschiedner Stämme und Klane, Kasten und
Gilden, Sekten und fromme Brüderschaften, und die Beziehungen des Ein¬
zelnen zum Staat sind diesen engern, das ganze gesellschaftliche Leben be¬
herrschenden Verhältnissen untergeordnet. „Geographische Grenzen, sagt Lyall,
entsprechen durchaus uicht irgendwelchen bestimmten Verbänden oder Volks¬
gruppen. Sie haben verhältnismüßig nur wenig politische Bedeutung. Es
ist wenig für die Kenntnis eines Mannes gewonnen, wenn man weiß, welchem
Staat er angehört, oder in welchem Gebiet er wohnt. Denn das sind Dinge,
die an sich keinen Unterschied in Abstammung, Einrichtung oder Gewohnheiten
bezeichnen." Mit gleichem Recht ist hervorgehoben worden, daß die Bezeich¬
nung „Hindu" überhaupt keine bestimmte Definition zulasse. Man sagt, daß
in Indien zweihundert Millionen Hindu leben; aber was ist denn ein Hindu?
In Indien heißt Hindu jeder, der nicht Muhammedaner oder Christ oder
Vekenner einer andern großen Religion ist. Wie der Brahmanismus oder
Hinduismus ein religiöses Chaos ist, so ist auch der Name Hindu „keine
nationale oder geographische Benennung, sondern er bezeichnet ganz oberflächlich
eine zufällig zusammengewürfelte Masse von Sekten, Stämmen und erblichen
Berufen."

Diese Spaltungen, die durch das ganze gesellschaftliche Leben der Halb¬
insel gehen, finden ihren bezeichnendsten Ausdruck in dem Kastenwesen.


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[0287] Indische Zustände urteilung der politischen Verhältnisse der Halbinsel nie außer Acht lassen. Indien ist ein rein geographischer Begriff, etwa wie Europa. Dasselbe gilt aber auch wieder von den verschiednen Teilen. Nirgends bildet die Bevölkerung ein gleichartiges Ganze. Überall dasselbe formlose Gewirr unfertiger Bildungen. Die Bevölkerung Indiens befindet sich noch heute auf einer Stufe geschichtlicher Entwicklung, die die großen Kulturnatiouen Europas um mehr als ein Jahrtausend hinter sich liegen haben. Um in der Geschichte Westeuropas ein Gegenstück zu den politischen und sozialen Zu¬ stünden Indiens zu finden, müssen wir bis in die Zeit der Mervvinger zurück¬ gehe!?. Und ein den indischen religiösen Verhältnissen entsprechendes Bild bietet sich uns erst, wenn wir uns in die letzten Jahrhunderte des vorchrist¬ lichen Polytheismus versetzen. Wir sind gewöhnt, mit geographischen Be¬ zeichnungen auch den Gedanken an bestimmte politische Gebilde, mit dem Namen einer großen historischen Religion auch den Begriff einer Kirche zu verbinden; so fällt es schwer, uns darüber klar zu werden, was Indien eigentlich ist. Unwillkürlich sind wir geneigt, die gleichen Formen menschlicher Gesellschaft, in denen wir leben, und die wir rings um uns sehen, auch außerhalb unsers Erdteils vorauszusetzen. Die mit den Worten Vaterland, Heimat, Patrio¬ tismus und dergleichen verknüpften Begriffe sind uns durch die Gewohnheit der Jahrhunderte in Fleisch und Blut übergegangen. In Indien ist politische Bürgerschaft bis jetzt noch ein unbekanntes Ding. Die Bevölkerung Indiens zerfällt in viele Hunderttausende verschiedner Stämme und Klane, Kasten und Gilden, Sekten und fromme Brüderschaften, und die Beziehungen des Ein¬ zelnen zum Staat sind diesen engern, das ganze gesellschaftliche Leben be¬ herrschenden Verhältnissen untergeordnet. „Geographische Grenzen, sagt Lyall, entsprechen durchaus uicht irgendwelchen bestimmten Verbänden oder Volks¬ gruppen. Sie haben verhältnismüßig nur wenig politische Bedeutung. Es ist wenig für die Kenntnis eines Mannes gewonnen, wenn man weiß, welchem Staat er angehört, oder in welchem Gebiet er wohnt. Denn das sind Dinge, die an sich keinen Unterschied in Abstammung, Einrichtung oder Gewohnheiten bezeichnen." Mit gleichem Recht ist hervorgehoben worden, daß die Bezeich¬ nung „Hindu" überhaupt keine bestimmte Definition zulasse. Man sagt, daß in Indien zweihundert Millionen Hindu leben; aber was ist denn ein Hindu? In Indien heißt Hindu jeder, der nicht Muhammedaner oder Christ oder Vekenner einer andern großen Religion ist. Wie der Brahmanismus oder Hinduismus ein religiöses Chaos ist, so ist auch der Name Hindu „keine nationale oder geographische Benennung, sondern er bezeichnet ganz oberflächlich eine zufällig zusammengewürfelte Masse von Sekten, Stämmen und erblichen Berufen." Diese Spaltungen, die durch das ganze gesellschaftliche Leben der Halb¬ insel gehen, finden ihren bezeichnendsten Ausdruck in dem Kastenwesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/287>, abgerufen am 23.11.2024.