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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Indische Zustände

können, als ob in diesem Staatenbunde der Kern zu einer indischen Nation
läge, als ob der Vrahmanismus im Begriff wäre, für die Hindu dasselbe zu
thun, was für so viele andre Raffen die Religion gethan hat. Aber nichts
dergleichen geschah. Der Brahmanismus wird nicht zum Patriotismus, und
die Marathabewegung blieb von Anfang bis zu Ende nur eine Organisation
des Raubes."

Und der Islam? Hat er nicht sieben Jahrhunderte lang die politische
Herrschaft über den größern Teil der Halbinsel in den Händen gehabt?
Warum hat er nicht den Millionen Indiens seinen Stempel aufzuprägen und
sie in der Lehre Muhammeds zu einigen vermocht? Andre Religionen sind
ja auch seinem Anprall erlegen. Die uralte Lehre Zoroasters wurde vom
Erdboden hinweggespült durch die erste Welle des Islam. Selbst das Christen¬
tum mußte in Asien vor ihm zurückweichen. Wodurch hat der Vrcchmanismus
dem Ansturm widerstanden? Wohl nicht minder infolge seiner glücklicher"
geographischen Lage als durch seine innere Kraft. Die gewaltigen Ketten des
Snleiman und die jenseits liegenden Wüsten schützten ihn gegen die erste
Springflut des Islam. Die hochgehenden Wellen des Glaubenseifers, die
die Lehre Muhammeds in siebzig Jahren bis an die Säulen des Herkules
und an den Snleiman getragen hatten, waren halb gebrochen, als sie die
Ebnen des Indus erreichten. Allmählich nur wurde die muhammedanische
Herrschaft auf der Halbinsel begründet, und mit Mühe nur wurde sie auf¬
recht erhalten. Die militärischen Abenteurer aus Zentralasien, die in Indien
Reiche oder Dynastien begründeten, kümmerten sich wenig um geistige Dinge.
Der unsichere Stand ihrer eignen Herrschaft ließ ihnen schon keine Ruhe, ihre
ununterbrochne kriegerische Thätigkeit keine Zeit dazu. Meist waren sie rohe
Afghanen oder Mongolen, "selbst nur schlecht gegründet in der Lehre Mu¬
hammeds und unberührt von dem echten semitischen Enthusiasmus, der die
ersten arabischen Fahnenträger des Islam angetrieben hatte." Die Herrschaft,
die sie gründeten, war eine rein militärische, und der Erfolg des Islam be¬
stand in der Hauptsache nur in der Gründling einer langen Reihe von kurz¬
lebigen politischen Gebilde" und darin, daß er eine Konsolidirung des Brah¬
manismus verhinderte.

Es ist nicht anders: auch das Band einer gemeinsamen Religion fehlt
den Millionen Indiens. Ja die Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses
verursacht sogar eine grundsätzliche Feindschaft zwischen einzelnen Bestandteilen
der Bevölkerung. So blickt der Muhammedaner mit unverhohlenem Groll
^auf den götzendienerischen Hindu. Noch schaut dieser mit Grimm ans die aus
Steinen früherer Siwatempel erbauten Moscheen. Bei allen größern Festen
kommt es zu blutigen Reibereien, und nur die Macht der englischen Negierung
verhindert ernstere Kämpfe. So bildet denn die indische Halbinsel in keiner
Hinsicht ein zusammengehöriges Ganze. Diese Thatsache dürfen wir bei Be-


Indische Zustände

können, als ob in diesem Staatenbunde der Kern zu einer indischen Nation
läge, als ob der Vrahmanismus im Begriff wäre, für die Hindu dasselbe zu
thun, was für so viele andre Raffen die Religion gethan hat. Aber nichts
dergleichen geschah. Der Brahmanismus wird nicht zum Patriotismus, und
die Marathabewegung blieb von Anfang bis zu Ende nur eine Organisation
des Raubes."

Und der Islam? Hat er nicht sieben Jahrhunderte lang die politische
Herrschaft über den größern Teil der Halbinsel in den Händen gehabt?
Warum hat er nicht den Millionen Indiens seinen Stempel aufzuprägen und
sie in der Lehre Muhammeds zu einigen vermocht? Andre Religionen sind
ja auch seinem Anprall erlegen. Die uralte Lehre Zoroasters wurde vom
Erdboden hinweggespült durch die erste Welle des Islam. Selbst das Christen¬
tum mußte in Asien vor ihm zurückweichen. Wodurch hat der Vrcchmanismus
dem Ansturm widerstanden? Wohl nicht minder infolge seiner glücklicher»
geographischen Lage als durch seine innere Kraft. Die gewaltigen Ketten des
Snleiman und die jenseits liegenden Wüsten schützten ihn gegen die erste
Springflut des Islam. Die hochgehenden Wellen des Glaubenseifers, die
die Lehre Muhammeds in siebzig Jahren bis an die Säulen des Herkules
und an den Snleiman getragen hatten, waren halb gebrochen, als sie die
Ebnen des Indus erreichten. Allmählich nur wurde die muhammedanische
Herrschaft auf der Halbinsel begründet, und mit Mühe nur wurde sie auf¬
recht erhalten. Die militärischen Abenteurer aus Zentralasien, die in Indien
Reiche oder Dynastien begründeten, kümmerten sich wenig um geistige Dinge.
Der unsichere Stand ihrer eignen Herrschaft ließ ihnen schon keine Ruhe, ihre
ununterbrochne kriegerische Thätigkeit keine Zeit dazu. Meist waren sie rohe
Afghanen oder Mongolen, „selbst nur schlecht gegründet in der Lehre Mu¬
hammeds und unberührt von dem echten semitischen Enthusiasmus, der die
ersten arabischen Fahnenträger des Islam angetrieben hatte." Die Herrschaft,
die sie gründeten, war eine rein militärische, und der Erfolg des Islam be¬
stand in der Hauptsache nur in der Gründling einer langen Reihe von kurz¬
lebigen politischen Gebilde» und darin, daß er eine Konsolidirung des Brah¬
manismus verhinderte.

Es ist nicht anders: auch das Band einer gemeinsamen Religion fehlt
den Millionen Indiens. Ja die Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses
verursacht sogar eine grundsätzliche Feindschaft zwischen einzelnen Bestandteilen
der Bevölkerung. So blickt der Muhammedaner mit unverhohlenem Groll
^auf den götzendienerischen Hindu. Noch schaut dieser mit Grimm ans die aus
Steinen früherer Siwatempel erbauten Moscheen. Bei allen größern Festen
kommt es zu blutigen Reibereien, und nur die Macht der englischen Negierung
verhindert ernstere Kämpfe. So bildet denn die indische Halbinsel in keiner
Hinsicht ein zusammengehöriges Ganze. Diese Thatsache dürfen wir bei Be-


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[0286] Indische Zustände können, als ob in diesem Staatenbunde der Kern zu einer indischen Nation läge, als ob der Vrahmanismus im Begriff wäre, für die Hindu dasselbe zu thun, was für so viele andre Raffen die Religion gethan hat. Aber nichts dergleichen geschah. Der Brahmanismus wird nicht zum Patriotismus, und die Marathabewegung blieb von Anfang bis zu Ende nur eine Organisation des Raubes." Und der Islam? Hat er nicht sieben Jahrhunderte lang die politische Herrschaft über den größern Teil der Halbinsel in den Händen gehabt? Warum hat er nicht den Millionen Indiens seinen Stempel aufzuprägen und sie in der Lehre Muhammeds zu einigen vermocht? Andre Religionen sind ja auch seinem Anprall erlegen. Die uralte Lehre Zoroasters wurde vom Erdboden hinweggespült durch die erste Welle des Islam. Selbst das Christen¬ tum mußte in Asien vor ihm zurückweichen. Wodurch hat der Vrcchmanismus dem Ansturm widerstanden? Wohl nicht minder infolge seiner glücklicher» geographischen Lage als durch seine innere Kraft. Die gewaltigen Ketten des Snleiman und die jenseits liegenden Wüsten schützten ihn gegen die erste Springflut des Islam. Die hochgehenden Wellen des Glaubenseifers, die die Lehre Muhammeds in siebzig Jahren bis an die Säulen des Herkules und an den Snleiman getragen hatten, waren halb gebrochen, als sie die Ebnen des Indus erreichten. Allmählich nur wurde die muhammedanische Herrschaft auf der Halbinsel begründet, und mit Mühe nur wurde sie auf¬ recht erhalten. Die militärischen Abenteurer aus Zentralasien, die in Indien Reiche oder Dynastien begründeten, kümmerten sich wenig um geistige Dinge. Der unsichere Stand ihrer eignen Herrschaft ließ ihnen schon keine Ruhe, ihre ununterbrochne kriegerische Thätigkeit keine Zeit dazu. Meist waren sie rohe Afghanen oder Mongolen, „selbst nur schlecht gegründet in der Lehre Mu¬ hammeds und unberührt von dem echten semitischen Enthusiasmus, der die ersten arabischen Fahnenträger des Islam angetrieben hatte." Die Herrschaft, die sie gründeten, war eine rein militärische, und der Erfolg des Islam be¬ stand in der Hauptsache nur in der Gründling einer langen Reihe von kurz¬ lebigen politischen Gebilde» und darin, daß er eine Konsolidirung des Brah¬ manismus verhinderte. Es ist nicht anders: auch das Band einer gemeinsamen Religion fehlt den Millionen Indiens. Ja die Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses verursacht sogar eine grundsätzliche Feindschaft zwischen einzelnen Bestandteilen der Bevölkerung. So blickt der Muhammedaner mit unverhohlenem Groll ^auf den götzendienerischen Hindu. Noch schaut dieser mit Grimm ans die aus Steinen früherer Siwatempel erbauten Moscheen. Bei allen größern Festen kommt es zu blutigen Reibereien, und nur die Macht der englischen Negierung verhindert ernstere Kämpfe. So bildet denn die indische Halbinsel in keiner Hinsicht ein zusammengehöriges Ganze. Diese Thatsache dürfen wir bei Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/286>, abgerufen am 24.11.2024.