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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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für Wort auf Indien anwenden. Hier wie dort die gleichen Zustände, die
gleichen Ursachen. Indem sich aus dem zentralasiatischen Völkerstrudel Welle
auf Welle über Indien ergoß, wurde jede Festigung verhindert. Was die
Vorgänger zu bauen begonnen hatten, rissen die Nachfolger nieder. Immer
von neuem dasselbe Gähren und Wogen unsteter, auseinanderstrebender Ele¬
mente. Immer wieder die gleichen, alles zerstörenden Sturmfluten. Keine
Periode ruhiger Entwicklung, kein Ansatz zu politischer Festigung, und daher
auch kein Fortgang der Verschmelzung.

Aber es giebt ja außer der Gemeinschaft der Sprache und der Gewohn¬
heit der staatlichen Zusammengehörigkeit noch ein drittes einigendes Band sür
die Bevölkerung eines Landes: die Gemeinschaft der Religion. In den Kämpfen
gegen die Mauren hat sich die christliche Bevölkerung Spaniens zusammen¬
gefunden. Die Bedrohung ihrer Gewissensfreiheit weit mehr als die Beein¬
trächtigung ihrer materiellen Interessen hat die Generalstaaten von Spanien
losgerissen. An dem Unterschiede des Glaubens nicht weniger als an dein
des Blutes nährt sich der Gegensatz Irlands zu England. Und wenn Deutsch¬
land weit später zur nationalen Einigung durchgedrungen ist, als sein west¬
licher Nachbar, so trägt die Spaltung in zwei sich ungefähr das Gleichgewicht
haltende konfessionelle Lager gewiß einen großen Teil der Schuld. Wie steht
es nun mit diesem religiösen Band in Indien? Auf den ersten Blick möchte
man meinen, es sei dort vorhanden. Der Brahmanismus erstreckt sich über
die Halbinsel in ihrer ganzen Ausdehnung. Nicht etwa, daß er die einzige
Religion auf indischem Boden wäre; wir zählen auch nicht weniger als fünfzig
Millionen Muhammedaner, daneben noch einige Millionen Buddhisten, eine
Anzcchls Sikhs und Parsis. Aber volle vier Fünftel der Bevölkerung, rund
zweihundert Millionen gehören dem Brahmanismus an. Auch hat er soviel
wirkliche Lebenskraft, daß er mehr als einmal furchtbare Angriffe überstanden
hat. Der Buddhismus dagegen, im Süden des Himalaya entsprungen, hat
ein Jahrtausend lang dort geblüht, aber während er in andern Ländern die
größten Eroberungen machte, die je einer Religion gelungen sind, ist er ans
seinem Heimatboden schließlich dem Brahmaglauben unterlegen. Ebenso wenig
vermochte die Lehre Muhammeds gegen ihn, die doch binnen siebzig Jahren
alles Land zwischen dein Suleiman und dem Atlas unterworfen und inner¬
halb dieses weiten Gebiets alle frühern Religionen verdrängt hatte. Und der
gänzliche Mißerfolg der heute über die ganze Halbinsel verbreiteten christlichen
Missionen läßt sich kaum noch vonseiten der Frommen bestreiten.

Aber was ist im Grnnde dieser Vrahmanismns in seiner heutigen Form?
Worin besteht sein eigentliches Wesen? "Wir sind in Enropa so sehr gewohnt,
sag^ der beste.Kenner der sozialen und religiösen Zustände Indiens^), mit dein



''') Sir Alfred Lyall, ^.si^dio Ltnüiss. Wir raten jedem, der sich über die sozialen und
"ligiösen Zustände Indiens unterrichten will, dieses ausgezeichnete Buch zu lesen.

für Wort auf Indien anwenden. Hier wie dort die gleichen Zustände, die
gleichen Ursachen. Indem sich aus dem zentralasiatischen Völkerstrudel Welle
auf Welle über Indien ergoß, wurde jede Festigung verhindert. Was die
Vorgänger zu bauen begonnen hatten, rissen die Nachfolger nieder. Immer
von neuem dasselbe Gähren und Wogen unsteter, auseinanderstrebender Ele¬
mente. Immer wieder die gleichen, alles zerstörenden Sturmfluten. Keine
Periode ruhiger Entwicklung, kein Ansatz zu politischer Festigung, und daher
auch kein Fortgang der Verschmelzung.

Aber es giebt ja außer der Gemeinschaft der Sprache und der Gewohn¬
heit der staatlichen Zusammengehörigkeit noch ein drittes einigendes Band sür
die Bevölkerung eines Landes: die Gemeinschaft der Religion. In den Kämpfen
gegen die Mauren hat sich die christliche Bevölkerung Spaniens zusammen¬
gefunden. Die Bedrohung ihrer Gewissensfreiheit weit mehr als die Beein¬
trächtigung ihrer materiellen Interessen hat die Generalstaaten von Spanien
losgerissen. An dem Unterschiede des Glaubens nicht weniger als an dein
des Blutes nährt sich der Gegensatz Irlands zu England. Und wenn Deutsch¬
land weit später zur nationalen Einigung durchgedrungen ist, als sein west¬
licher Nachbar, so trägt die Spaltung in zwei sich ungefähr das Gleichgewicht
haltende konfessionelle Lager gewiß einen großen Teil der Schuld. Wie steht
es nun mit diesem religiösen Band in Indien? Auf den ersten Blick möchte
man meinen, es sei dort vorhanden. Der Brahmanismus erstreckt sich über
die Halbinsel in ihrer ganzen Ausdehnung. Nicht etwa, daß er die einzige
Religion auf indischem Boden wäre; wir zählen auch nicht weniger als fünfzig
Millionen Muhammedaner, daneben noch einige Millionen Buddhisten, eine
Anzcchls Sikhs und Parsis. Aber volle vier Fünftel der Bevölkerung, rund
zweihundert Millionen gehören dem Brahmanismus an. Auch hat er soviel
wirkliche Lebenskraft, daß er mehr als einmal furchtbare Angriffe überstanden
hat. Der Buddhismus dagegen, im Süden des Himalaya entsprungen, hat
ein Jahrtausend lang dort geblüht, aber während er in andern Ländern die
größten Eroberungen machte, die je einer Religion gelungen sind, ist er ans
seinem Heimatboden schließlich dem Brahmaglauben unterlegen. Ebenso wenig
vermochte die Lehre Muhammeds gegen ihn, die doch binnen siebzig Jahren
alles Land zwischen dein Suleiman und dem Atlas unterworfen und inner¬
halb dieses weiten Gebiets alle frühern Religionen verdrängt hatte. Und der
gänzliche Mißerfolg der heute über die ganze Halbinsel verbreiteten christlichen
Missionen läßt sich kaum noch vonseiten der Frommen bestreiten.

Aber was ist im Grnnde dieser Vrahmanismns in seiner heutigen Form?
Worin besteht sein eigentliches Wesen? „Wir sind in Enropa so sehr gewohnt,
sag^ der beste.Kenner der sozialen und religiösen Zustände Indiens^), mit dein



''') Sir Alfred Lyall, ^.si^dio Ltnüiss. Wir raten jedem, der sich über die sozialen und
"ligiösen Zustände Indiens unterrichten will, dieses ausgezeichnete Buch zu lesen.
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[0283] für Wort auf Indien anwenden. Hier wie dort die gleichen Zustände, die gleichen Ursachen. Indem sich aus dem zentralasiatischen Völkerstrudel Welle auf Welle über Indien ergoß, wurde jede Festigung verhindert. Was die Vorgänger zu bauen begonnen hatten, rissen die Nachfolger nieder. Immer von neuem dasselbe Gähren und Wogen unsteter, auseinanderstrebender Ele¬ mente. Immer wieder die gleichen, alles zerstörenden Sturmfluten. Keine Periode ruhiger Entwicklung, kein Ansatz zu politischer Festigung, und daher auch kein Fortgang der Verschmelzung. Aber es giebt ja außer der Gemeinschaft der Sprache und der Gewohn¬ heit der staatlichen Zusammengehörigkeit noch ein drittes einigendes Band sür die Bevölkerung eines Landes: die Gemeinschaft der Religion. In den Kämpfen gegen die Mauren hat sich die christliche Bevölkerung Spaniens zusammen¬ gefunden. Die Bedrohung ihrer Gewissensfreiheit weit mehr als die Beein¬ trächtigung ihrer materiellen Interessen hat die Generalstaaten von Spanien losgerissen. An dem Unterschiede des Glaubens nicht weniger als an dein des Blutes nährt sich der Gegensatz Irlands zu England. Und wenn Deutsch¬ land weit später zur nationalen Einigung durchgedrungen ist, als sein west¬ licher Nachbar, so trägt die Spaltung in zwei sich ungefähr das Gleichgewicht haltende konfessionelle Lager gewiß einen großen Teil der Schuld. Wie steht es nun mit diesem religiösen Band in Indien? Auf den ersten Blick möchte man meinen, es sei dort vorhanden. Der Brahmanismus erstreckt sich über die Halbinsel in ihrer ganzen Ausdehnung. Nicht etwa, daß er die einzige Religion auf indischem Boden wäre; wir zählen auch nicht weniger als fünfzig Millionen Muhammedaner, daneben noch einige Millionen Buddhisten, eine Anzcchls Sikhs und Parsis. Aber volle vier Fünftel der Bevölkerung, rund zweihundert Millionen gehören dem Brahmanismus an. Auch hat er soviel wirkliche Lebenskraft, daß er mehr als einmal furchtbare Angriffe überstanden hat. Der Buddhismus dagegen, im Süden des Himalaya entsprungen, hat ein Jahrtausend lang dort geblüht, aber während er in andern Ländern die größten Eroberungen machte, die je einer Religion gelungen sind, ist er ans seinem Heimatboden schließlich dem Brahmaglauben unterlegen. Ebenso wenig vermochte die Lehre Muhammeds gegen ihn, die doch binnen siebzig Jahren alles Land zwischen dein Suleiman und dem Atlas unterworfen und inner¬ halb dieses weiten Gebiets alle frühern Religionen verdrängt hatte. Und der gänzliche Mißerfolg der heute über die ganze Halbinsel verbreiteten christlichen Missionen läßt sich kaum noch vonseiten der Frommen bestreiten. Aber was ist im Grnnde dieser Vrahmanismns in seiner heutigen Form? Worin besteht sein eigentliches Wesen? „Wir sind in Enropa so sehr gewohnt, sag^ der beste.Kenner der sozialen und religiösen Zustände Indiens^), mit dein ''') Sir Alfred Lyall, ^.si^dio Ltnüiss. Wir raten jedem, der sich über die sozialen und "ligiösen Zustände Indiens unterrichten will, dieses ausgezeichnete Buch zu lesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/283>, abgerufen am 28.07.2024.