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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Indische Zustände

werden, die alsbald darauf ausginge", sich unabhängig zu machen. Schon
1340 riß sich Bengalen los, Gudscherat 1391, und das Reich war längst in
innerer Auflösung begriffen, als Timurs Scharen (1398) darüber hereinbrachen.
Einen neuen Anlauf zur Gründung einer indische"? Universalmonarchie nahmen
die mongolischen Kaiser. Aber wir müssen uns wohl hüten, die Dauer oder
die Ausdehnung des Reichs der Großmoguln zu überschätzen. Wir können
seine Anfänge nicht früher setzen als in das Jahr 1526, als Berber in der
Schlacht von Panipat die Herrschaft über Delhi gewann; aber erst mit der
Thronbesteigung Akbars 1556 beginnt die ununterbrochne Herrschaft der mon¬
golischen Dynastie, und das Jahr 1707, das Todesjahr des Kaisers Aurangzeb,
bezeichnet schon den Anfang vom Ende, den Beginn des raschen Verfalls. Auch
umschloß der Staat Akbars bei seinem Tode (1605) nur noch das Land nördlich
von Nerbadda (Hindustan), und gerade die Bemühungen seiner Nachfolger, auch
das Delkan zu erobern, brachen die Kraft des lose zusammengefügten Reichs-
für immer. In die Zeit der allgemeinen Verwirrung nach Aurangzebs Tode
fallen dann die Ursprünge der englischen Herrschaft (Schlacht von Plasseh 1757),
die sich in einem Jahrhundert (Einverleibung von Audh 1856) über die ganze
Halbinsel ausbreitete. Es sehlt also den Millionen Indiens die Erinnerung an
eine gemeinsame politische Vergangenheit, es fehlt ihnen das durch die Ge¬
wohnheit geschaffne Gefühl der staatlichen Zusammengehörigkeit.

Was aber von ganz Indien gilt, läßt sich im einzelnen auch von den
verschiednen Teilen nachweisen. Fast keiner hat längere Zeit demselben poli¬
tischen Verbände angehört, fast keiner eine längere Reihe von Jahren unter
demselben Herrscherhause gestanden, fast keiner auch nur eine fünfzigjährige
Periode ruhiger Entwicklung gehabt. Heute entstanden Staaten, um morgen
wieder zu verschwinden; Provinzen wurden einverleibt, um sich alsbald wieder
loszutrennen; Grenzen wurden gezogen, um sich sofort wieder zu verschieben; Dy¬
nastien wurden gegründet, um sofort wieder zu fallen. Soweit die geschichtliche
Überlieferung zurückreicht, besonders seit dem ersten Auftreten des Islam, zeigt
sie uus auf der ganzen Halbinsel ein formloses Gewirr unfertiger politischer
Bildungen, ein rastlos auf- und abwogendes Meer, ein unaufhörliches Werden
und Vergehen von staatlichen Eintagsfliegen.

Guizot kommt, indem er den Ursachen der anhaltenden Verwirrung aller
öffentlichen Verhältnisse Westeuropas zwischen dem fünften und neunten Jahr¬
hundert nachspürt, zu dem Schluß, daß sie in der Fortdauer der Völker¬
wanderung zu suchen seien. "Vom Süden preßten die Muhammedaner, vom
Norden die Germanen und Slawen. Die Folge dieser doppelten Invasion
mußte eine fortdauernde Unordnung im Innern des westeuropäischen Gebiets
sein. Die Bevölkerungen wurden unaufhörlich verdrängt, die einen auf die
andern zurückgeworfen. Es konnte sich nichts festes bilden, kein Teil der Ge¬
sellschaft sich setzen und sich ordnen." Diese Beschreibung läßt sich fast Wort


Indische Zustände

werden, die alsbald darauf ausginge», sich unabhängig zu machen. Schon
1340 riß sich Bengalen los, Gudscherat 1391, und das Reich war längst in
innerer Auflösung begriffen, als Timurs Scharen (1398) darüber hereinbrachen.
Einen neuen Anlauf zur Gründung einer indische»? Universalmonarchie nahmen
die mongolischen Kaiser. Aber wir müssen uns wohl hüten, die Dauer oder
die Ausdehnung des Reichs der Großmoguln zu überschätzen. Wir können
seine Anfänge nicht früher setzen als in das Jahr 1526, als Berber in der
Schlacht von Panipat die Herrschaft über Delhi gewann; aber erst mit der
Thronbesteigung Akbars 1556 beginnt die ununterbrochne Herrschaft der mon¬
golischen Dynastie, und das Jahr 1707, das Todesjahr des Kaisers Aurangzeb,
bezeichnet schon den Anfang vom Ende, den Beginn des raschen Verfalls. Auch
umschloß der Staat Akbars bei seinem Tode (1605) nur noch das Land nördlich
von Nerbadda (Hindustan), und gerade die Bemühungen seiner Nachfolger, auch
das Delkan zu erobern, brachen die Kraft des lose zusammengefügten Reichs-
für immer. In die Zeit der allgemeinen Verwirrung nach Aurangzebs Tode
fallen dann die Ursprünge der englischen Herrschaft (Schlacht von Plasseh 1757),
die sich in einem Jahrhundert (Einverleibung von Audh 1856) über die ganze
Halbinsel ausbreitete. Es sehlt also den Millionen Indiens die Erinnerung an
eine gemeinsame politische Vergangenheit, es fehlt ihnen das durch die Ge¬
wohnheit geschaffne Gefühl der staatlichen Zusammengehörigkeit.

Was aber von ganz Indien gilt, läßt sich im einzelnen auch von den
verschiednen Teilen nachweisen. Fast keiner hat längere Zeit demselben poli¬
tischen Verbände angehört, fast keiner eine längere Reihe von Jahren unter
demselben Herrscherhause gestanden, fast keiner auch nur eine fünfzigjährige
Periode ruhiger Entwicklung gehabt. Heute entstanden Staaten, um morgen
wieder zu verschwinden; Provinzen wurden einverleibt, um sich alsbald wieder
loszutrennen; Grenzen wurden gezogen, um sich sofort wieder zu verschieben; Dy¬
nastien wurden gegründet, um sofort wieder zu fallen. Soweit die geschichtliche
Überlieferung zurückreicht, besonders seit dem ersten Auftreten des Islam, zeigt
sie uus auf der ganzen Halbinsel ein formloses Gewirr unfertiger politischer
Bildungen, ein rastlos auf- und abwogendes Meer, ein unaufhörliches Werden
und Vergehen von staatlichen Eintagsfliegen.

Guizot kommt, indem er den Ursachen der anhaltenden Verwirrung aller
öffentlichen Verhältnisse Westeuropas zwischen dem fünften und neunten Jahr¬
hundert nachspürt, zu dem Schluß, daß sie in der Fortdauer der Völker¬
wanderung zu suchen seien. „Vom Süden preßten die Muhammedaner, vom
Norden die Germanen und Slawen. Die Folge dieser doppelten Invasion
mußte eine fortdauernde Unordnung im Innern des westeuropäischen Gebiets
sein. Die Bevölkerungen wurden unaufhörlich verdrängt, die einen auf die
andern zurückgeworfen. Es konnte sich nichts festes bilden, kein Teil der Ge¬
sellschaft sich setzen und sich ordnen." Diese Beschreibung läßt sich fast Wort


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[0282] Indische Zustände werden, die alsbald darauf ausginge», sich unabhängig zu machen. Schon 1340 riß sich Bengalen los, Gudscherat 1391, und das Reich war längst in innerer Auflösung begriffen, als Timurs Scharen (1398) darüber hereinbrachen. Einen neuen Anlauf zur Gründung einer indische»? Universalmonarchie nahmen die mongolischen Kaiser. Aber wir müssen uns wohl hüten, die Dauer oder die Ausdehnung des Reichs der Großmoguln zu überschätzen. Wir können seine Anfänge nicht früher setzen als in das Jahr 1526, als Berber in der Schlacht von Panipat die Herrschaft über Delhi gewann; aber erst mit der Thronbesteigung Akbars 1556 beginnt die ununterbrochne Herrschaft der mon¬ golischen Dynastie, und das Jahr 1707, das Todesjahr des Kaisers Aurangzeb, bezeichnet schon den Anfang vom Ende, den Beginn des raschen Verfalls. Auch umschloß der Staat Akbars bei seinem Tode (1605) nur noch das Land nördlich von Nerbadda (Hindustan), und gerade die Bemühungen seiner Nachfolger, auch das Delkan zu erobern, brachen die Kraft des lose zusammengefügten Reichs- für immer. In die Zeit der allgemeinen Verwirrung nach Aurangzebs Tode fallen dann die Ursprünge der englischen Herrschaft (Schlacht von Plasseh 1757), die sich in einem Jahrhundert (Einverleibung von Audh 1856) über die ganze Halbinsel ausbreitete. Es sehlt also den Millionen Indiens die Erinnerung an eine gemeinsame politische Vergangenheit, es fehlt ihnen das durch die Ge¬ wohnheit geschaffne Gefühl der staatlichen Zusammengehörigkeit. Was aber von ganz Indien gilt, läßt sich im einzelnen auch von den verschiednen Teilen nachweisen. Fast keiner hat längere Zeit demselben poli¬ tischen Verbände angehört, fast keiner eine längere Reihe von Jahren unter demselben Herrscherhause gestanden, fast keiner auch nur eine fünfzigjährige Periode ruhiger Entwicklung gehabt. Heute entstanden Staaten, um morgen wieder zu verschwinden; Provinzen wurden einverleibt, um sich alsbald wieder loszutrennen; Grenzen wurden gezogen, um sich sofort wieder zu verschieben; Dy¬ nastien wurden gegründet, um sofort wieder zu fallen. Soweit die geschichtliche Überlieferung zurückreicht, besonders seit dem ersten Auftreten des Islam, zeigt sie uus auf der ganzen Halbinsel ein formloses Gewirr unfertiger politischer Bildungen, ein rastlos auf- und abwogendes Meer, ein unaufhörliches Werden und Vergehen von staatlichen Eintagsfliegen. Guizot kommt, indem er den Ursachen der anhaltenden Verwirrung aller öffentlichen Verhältnisse Westeuropas zwischen dem fünften und neunten Jahr¬ hundert nachspürt, zu dem Schluß, daß sie in der Fortdauer der Völker¬ wanderung zu suchen seien. „Vom Süden preßten die Muhammedaner, vom Norden die Germanen und Slawen. Die Folge dieser doppelten Invasion mußte eine fortdauernde Unordnung im Innern des westeuropäischen Gebiets sein. Die Bevölkerungen wurden unaufhörlich verdrängt, die einen auf die andern zurückgeworfen. Es konnte sich nichts festes bilden, kein Teil der Ge¬ sellschaft sich setzen und sich ordnen." Diese Beschreibung läßt sich fast Wort

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/282>, abgerufen am 24.11.2024.