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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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zu deren Bereich noch heute im Süden Indiens eine geschlossene Masse
von achtundzwanzig Millionen Menschen gehört. Voran stehen das Tamil
und das Telugu, die je von zehn Millionen Menschen gesprochen werden
und beide eine bedeutende eigne Litteratur haben. Das arische Sprachgebiet
umspannt die weiten Ebnen im Norden der Vindhjas und die Westküste bis
hinab uach Goa. Die hierher gehörigen Sprachen sind: Sindhi, Pandschabi,
Hindi (in den Nordwestprvvinzen), Bengali, Urija (in Orissa), Maraldi und
Gndscharathi. Sie sind sämtlich aus dem Prakrit oder Sanskrit hervorge¬
gangen, ähnlich wie die romanischen Sprachen aus dem Lateinischen; aber wie
in den einzelnen Ländern Süd- und Westeuropas, so hat auch in den Pro¬
vinzen Hindustans die Entwicklung verschiedne Wege eingeschlagen, und der
Bengali kann sich mit seiner Muttersprache oben im Fünfstromland ebenso¬
wenig verständlich machen, wie der Kastilianer an der Seine. An das Hindi
schließt sich nahe das Urdr oder Hindustani an, eine unter der muhamme-
danischen Herrschaft aus dem Persischen der Eroberer und dem Hindi der
Unterworfnen hervorgegangne Imgrm tiÄnoa, die offizielle Sprache der Nord-
westprovinzen. Hindustani wird namentlich von den obern Klassen, von der
städtischen Bevölkerung und von den Muhammedanern gesprochen. Endlich
ist noch das an der Westküste von der kleinen, aber reichen und unternehmenden
Gemeinde der Parsis gesprochne Altpersisch zu erwähnen.

Für viele der erwähnten Sprachen sind übrigens auch eigne Schriftzeichen
im Gebrauch. Schon dem globe-trotwr, der Indien im Fluge durcheilt, fällt
^' auf, daß in den öffentlichen Bekanntmachungen und Anschlägen bald die
von rechts nach links geschriebnen persischen Schriftzüge, bald die an das
Hebräische erinnernden viereckigen Gebilde des Nagari, bald wieder die runden
gefälligen Formen der Tamilschrift erscheinen.

Es fehlt den Millionen Indiens aber auch die Gewöhnung an eine staat¬
liche Zusanunengehörigkeit und das daraus entspringende Bewußtsein der In¬
teressengemeinschaft. Der Ausdehnung der Staaten sind von der Natur Grenzen
gesteckt, über die hinaus ein Zusammenhalt uicht mehr möglich ist, und die
vor der Zeit der Eisenbahnen und Telegraphen natürlich weit enger gezogen
waren als jetzt. So ist es in der That früher nie zu einer politischen Eini¬
gung der indischen Halbinsel gekommen. Wohl verzeichnet die Geschichte ver¬
schiedne Versuche, ein großindisches Reich zu gründen, aber sie sind sämtlich
der Macht der räumlichen Verhältnisse gescheitert. So haben in der ersten
'"uhammedanischen Periode (1000 bis etwa 1500) die Sklavenkönige (1206
bis 1290) fast alles Land nördlich von den Vindjas zu einem Reiche ver¬
fügt, das dann von den ersten Herrschern der Tughlakdynastie (1320 bis 1414)
über einen Teil des Dekkau ausgedehnt wurde. Aber mit dieser übermüßigen
Erweiterung stellten sich auch sofort die Mißstände der Satrapenwirtschaft ein.
' >e Verwaltung der entferntem Provinzen mußte Statthaltern übertragen


Grenzboten III 1893 !Z5

zu deren Bereich noch heute im Süden Indiens eine geschlossene Masse
von achtundzwanzig Millionen Menschen gehört. Voran stehen das Tamil
und das Telugu, die je von zehn Millionen Menschen gesprochen werden
und beide eine bedeutende eigne Litteratur haben. Das arische Sprachgebiet
umspannt die weiten Ebnen im Norden der Vindhjas und die Westküste bis
hinab uach Goa. Die hierher gehörigen Sprachen sind: Sindhi, Pandschabi,
Hindi (in den Nordwestprvvinzen), Bengali, Urija (in Orissa), Maraldi und
Gndscharathi. Sie sind sämtlich aus dem Prakrit oder Sanskrit hervorge¬
gangen, ähnlich wie die romanischen Sprachen aus dem Lateinischen; aber wie
in den einzelnen Ländern Süd- und Westeuropas, so hat auch in den Pro¬
vinzen Hindustans die Entwicklung verschiedne Wege eingeschlagen, und der
Bengali kann sich mit seiner Muttersprache oben im Fünfstromland ebenso¬
wenig verständlich machen, wie der Kastilianer an der Seine. An das Hindi
schließt sich nahe das Urdr oder Hindustani an, eine unter der muhamme-
danischen Herrschaft aus dem Persischen der Eroberer und dem Hindi der
Unterworfnen hervorgegangne Imgrm tiÄnoa, die offizielle Sprache der Nord-
westprovinzen. Hindustani wird namentlich von den obern Klassen, von der
städtischen Bevölkerung und von den Muhammedanern gesprochen. Endlich
ist noch das an der Westküste von der kleinen, aber reichen und unternehmenden
Gemeinde der Parsis gesprochne Altpersisch zu erwähnen.

Für viele der erwähnten Sprachen sind übrigens auch eigne Schriftzeichen
im Gebrauch. Schon dem globe-trotwr, der Indien im Fluge durcheilt, fällt
^' auf, daß in den öffentlichen Bekanntmachungen und Anschlägen bald die
von rechts nach links geschriebnen persischen Schriftzüge, bald die an das
Hebräische erinnernden viereckigen Gebilde des Nagari, bald wieder die runden
gefälligen Formen der Tamilschrift erscheinen.

Es fehlt den Millionen Indiens aber auch die Gewöhnung an eine staat¬
liche Zusanunengehörigkeit und das daraus entspringende Bewußtsein der In¬
teressengemeinschaft. Der Ausdehnung der Staaten sind von der Natur Grenzen
gesteckt, über die hinaus ein Zusammenhalt uicht mehr möglich ist, und die
vor der Zeit der Eisenbahnen und Telegraphen natürlich weit enger gezogen
waren als jetzt. So ist es in der That früher nie zu einer politischen Eini¬
gung der indischen Halbinsel gekommen. Wohl verzeichnet die Geschichte ver¬
schiedne Versuche, ein großindisches Reich zu gründen, aber sie sind sämtlich
der Macht der räumlichen Verhältnisse gescheitert. So haben in der ersten
'»uhammedanischen Periode (1000 bis etwa 1500) die Sklavenkönige (1206
bis 1290) fast alles Land nördlich von den Vindjas zu einem Reiche ver¬
fügt, das dann von den ersten Herrschern der Tughlakdynastie (1320 bis 1414)
über einen Teil des Dekkau ausgedehnt wurde. Aber mit dieser übermüßigen
Erweiterung stellten sich auch sofort die Mißstände der Satrapenwirtschaft ein.
' >e Verwaltung der entferntem Provinzen mußte Statthaltern übertragen


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[0281] zu deren Bereich noch heute im Süden Indiens eine geschlossene Masse von achtundzwanzig Millionen Menschen gehört. Voran stehen das Tamil und das Telugu, die je von zehn Millionen Menschen gesprochen werden und beide eine bedeutende eigne Litteratur haben. Das arische Sprachgebiet umspannt die weiten Ebnen im Norden der Vindhjas und die Westküste bis hinab uach Goa. Die hierher gehörigen Sprachen sind: Sindhi, Pandschabi, Hindi (in den Nordwestprvvinzen), Bengali, Urija (in Orissa), Maraldi und Gndscharathi. Sie sind sämtlich aus dem Prakrit oder Sanskrit hervorge¬ gangen, ähnlich wie die romanischen Sprachen aus dem Lateinischen; aber wie in den einzelnen Ländern Süd- und Westeuropas, so hat auch in den Pro¬ vinzen Hindustans die Entwicklung verschiedne Wege eingeschlagen, und der Bengali kann sich mit seiner Muttersprache oben im Fünfstromland ebenso¬ wenig verständlich machen, wie der Kastilianer an der Seine. An das Hindi schließt sich nahe das Urdr oder Hindustani an, eine unter der muhamme- danischen Herrschaft aus dem Persischen der Eroberer und dem Hindi der Unterworfnen hervorgegangne Imgrm tiÄnoa, die offizielle Sprache der Nord- westprovinzen. Hindustani wird namentlich von den obern Klassen, von der städtischen Bevölkerung und von den Muhammedanern gesprochen. Endlich ist noch das an der Westküste von der kleinen, aber reichen und unternehmenden Gemeinde der Parsis gesprochne Altpersisch zu erwähnen. Für viele der erwähnten Sprachen sind übrigens auch eigne Schriftzeichen im Gebrauch. Schon dem globe-trotwr, der Indien im Fluge durcheilt, fällt ^' auf, daß in den öffentlichen Bekanntmachungen und Anschlägen bald die von rechts nach links geschriebnen persischen Schriftzüge, bald die an das Hebräische erinnernden viereckigen Gebilde des Nagari, bald wieder die runden gefälligen Formen der Tamilschrift erscheinen. Es fehlt den Millionen Indiens aber auch die Gewöhnung an eine staat¬ liche Zusanunengehörigkeit und das daraus entspringende Bewußtsein der In¬ teressengemeinschaft. Der Ausdehnung der Staaten sind von der Natur Grenzen gesteckt, über die hinaus ein Zusammenhalt uicht mehr möglich ist, und die vor der Zeit der Eisenbahnen und Telegraphen natürlich weit enger gezogen waren als jetzt. So ist es in der That früher nie zu einer politischen Eini¬ gung der indischen Halbinsel gekommen. Wohl verzeichnet die Geschichte ver¬ schiedne Versuche, ein großindisches Reich zu gründen, aber sie sind sämtlich der Macht der räumlichen Verhältnisse gescheitert. So haben in der ersten '»uhammedanischen Periode (1000 bis etwa 1500) die Sklavenkönige (1206 bis 1290) fast alles Land nördlich von den Vindjas zu einem Reiche ver¬ fügt, das dann von den ersten Herrschern der Tughlakdynastie (1320 bis 1414) über einen Teil des Dekkau ausgedehnt wurde. Aber mit dieser übermüßigen Erweiterung stellten sich auch sofort die Mißstände der Satrapenwirtschaft ein. ' >e Verwaltung der entferntem Provinzen mußte Statthaltern übertragen Grenzboten III 1893 !Z5

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/281>, abgerufen am 28.07.2024.