Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.Indische Zustände Lande nördlich von den Pyrenäen Iberer, Kelten, Römer und Germanen längst Das deutlichste Zeichen dieser fortdauernden Spaltungen ist das ganz Indische Zustände Lande nördlich von den Pyrenäen Iberer, Kelten, Römer und Germanen längst Das deutlichste Zeichen dieser fortdauernden Spaltungen ist das ganz <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0280" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215370"/> <fw type="header" place="top"> Indische Zustände</fw><lb/> <p xml:id="ID_970" prev="#ID_969"> Lande nördlich von den Pyrenäen Iberer, Kelten, Römer und Germanen längst<lb/> aufgehört haben, ein selbständiges Dasein zu führen, und samt und sonders<lb/> aufgegangen sind in der ans ihrer Mischung neu entstandnen französischen<lb/> Nation, haben im Süden des Himalaya weder die arischen Einwandrer die<lb/> altern Bewohner nichtkaukasischer Abkunft in sich aufgenommen oder mit sich<lb/> verschmolzen, noch ist es den muhammedanischen Eroberern gelungen, den<lb/> unterjochten Millionen den religiösen und sozialen Stempel des Islam auf¬<lb/> zuprägen. Noch heute leben in den nordöstlichen Provinzen Indiens, wie in<lb/> Assam, die Nachkommen jener alten tibeto-birmesischen Scharen, noch heute<lb/> führen die versprengten Überreste der kolarischen Nasse, wie die Santals,<lb/> Kurkus u. s. f., inmitten einer arischen Bevölkerung ein selbständiges Dasein,<lb/> noch hente nimmt den ganzen Süden der Halbinsel eine geschlossene Masse<lb/> drawidischer Stämme ein, noch hente ist das skythische Blut der Vorfahren in<lb/> den Dschats des Pnndschab unvermischt, noch heute bekennt sich nur ein Fünftel<lb/> der Gesamtbevölkerung zur Lehre Muhammeds. Die zweihundertsechzig Mil¬<lb/> lionen Indiens bilden also kein einheitliches Ganze, keine Nation.</p><lb/> <p xml:id="ID_971" next="#ID_972"> Das deutlichste Zeichen dieser fortdauernden Spaltungen ist das ganz<lb/> unglaubliche Gemenge von Sprachen. Der Bericht über die Volkszählung<lb/> von 1881 sagt, daß es in Indien nicht weniger als hundcrtsechzehu ver-<lb/> schiedne Sprachen gebe — wohlgemerkt Sprachen, nicht etwa Mundarten —,<lb/> von denen achtzehn von mehr als je einer Million Menschen gesprochen würden.<lb/> Andre, von Sprachforschern gemachte Zusammenstellungen ergeben allein hundert-<lb/> zweiundvierzig nichtarische Sprachen, die, wenn sie auch ihrem Ursprung nach<lb/> gruppenweise zusammengehören, doch sämtlich ihre eigne Grammatik und ihren<lb/> eignen Wörterschatz ausweisen. Dieses Heer von indischen Sprachen zerfüllt<lb/> in zwei große Klassen, in die arischen und die nichtarischen Ursprungs. Unter<lb/> den zweiten können wir wieder drei größere Gruppen unterscheiden, die tibeto-<lb/> birmesische, die kolarische und die drawidische, die nnter sich und mit den<lb/> arischen Sprachen ungefähr ebenso nahe verwandt sind, wie das Englische mit<lb/> der Sprache der Finnen oder das Deutsche mit dem Kauderwelsch der Neger<lb/> in unsern afrikanischen Schutzgebieten. Die tibeto-birmesischen Sprachen finden<lb/> sich vor allem in den Ausläufern des nordöstlichen Himalaya. Mehrere haben<lb/> noch heute Ausdrücke, die ihren chinesischen Ursprung beweisen, während andre<lb/> in ihrem grammatikalischen Ban die Stammverwandtschaft mit dem Mon¬<lb/> golischen verraten. Die kolarischen Sprachen sind in der Hauptsache über die<lb/> mittlern Teile der Halbinsel zerstreut. Die zersprengten Stämme der kola¬<lb/> rischen Nasse haben jede Erinnerung an ihre Verwandtschaft verloren und<lb/> weisen den Gedanken an Zusammengehörigkeit schroff von der Hand, aber ihre<lb/> Sprachen tragen sichtlich den Stempel gemeinsamen Ursprungs. Die bedeu¬<lb/> tendste, Sandau, wird von mehr als einer Million Menschen gesprochen.<lb/> Die wichtigste Gruppe der nichtarischen Sprachen aber ist die drawidische,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0280]
Indische Zustände
Lande nördlich von den Pyrenäen Iberer, Kelten, Römer und Germanen längst
aufgehört haben, ein selbständiges Dasein zu führen, und samt und sonders
aufgegangen sind in der ans ihrer Mischung neu entstandnen französischen
Nation, haben im Süden des Himalaya weder die arischen Einwandrer die
altern Bewohner nichtkaukasischer Abkunft in sich aufgenommen oder mit sich
verschmolzen, noch ist es den muhammedanischen Eroberern gelungen, den
unterjochten Millionen den religiösen und sozialen Stempel des Islam auf¬
zuprägen. Noch heute leben in den nordöstlichen Provinzen Indiens, wie in
Assam, die Nachkommen jener alten tibeto-birmesischen Scharen, noch heute
führen die versprengten Überreste der kolarischen Nasse, wie die Santals,
Kurkus u. s. f., inmitten einer arischen Bevölkerung ein selbständiges Dasein,
noch hente nimmt den ganzen Süden der Halbinsel eine geschlossene Masse
drawidischer Stämme ein, noch hente ist das skythische Blut der Vorfahren in
den Dschats des Pnndschab unvermischt, noch heute bekennt sich nur ein Fünftel
der Gesamtbevölkerung zur Lehre Muhammeds. Die zweihundertsechzig Mil¬
lionen Indiens bilden also kein einheitliches Ganze, keine Nation.
Das deutlichste Zeichen dieser fortdauernden Spaltungen ist das ganz
unglaubliche Gemenge von Sprachen. Der Bericht über die Volkszählung
von 1881 sagt, daß es in Indien nicht weniger als hundcrtsechzehu ver-
schiedne Sprachen gebe — wohlgemerkt Sprachen, nicht etwa Mundarten —,
von denen achtzehn von mehr als je einer Million Menschen gesprochen würden.
Andre, von Sprachforschern gemachte Zusammenstellungen ergeben allein hundert-
zweiundvierzig nichtarische Sprachen, die, wenn sie auch ihrem Ursprung nach
gruppenweise zusammengehören, doch sämtlich ihre eigne Grammatik und ihren
eignen Wörterschatz ausweisen. Dieses Heer von indischen Sprachen zerfüllt
in zwei große Klassen, in die arischen und die nichtarischen Ursprungs. Unter
den zweiten können wir wieder drei größere Gruppen unterscheiden, die tibeto-
birmesische, die kolarische und die drawidische, die nnter sich und mit den
arischen Sprachen ungefähr ebenso nahe verwandt sind, wie das Englische mit
der Sprache der Finnen oder das Deutsche mit dem Kauderwelsch der Neger
in unsern afrikanischen Schutzgebieten. Die tibeto-birmesischen Sprachen finden
sich vor allem in den Ausläufern des nordöstlichen Himalaya. Mehrere haben
noch heute Ausdrücke, die ihren chinesischen Ursprung beweisen, während andre
in ihrem grammatikalischen Ban die Stammverwandtschaft mit dem Mon¬
golischen verraten. Die kolarischen Sprachen sind in der Hauptsache über die
mittlern Teile der Halbinsel zerstreut. Die zersprengten Stämme der kola¬
rischen Nasse haben jede Erinnerung an ihre Verwandtschaft verloren und
weisen den Gedanken an Zusammengehörigkeit schroff von der Hand, aber ihre
Sprachen tragen sichtlich den Stempel gemeinsamen Ursprungs. Die bedeu¬
tendste, Sandau, wird von mehr als einer Million Menschen gesprochen.
Die wichtigste Gruppe der nichtarischen Sprachen aber ist die drawidische,
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