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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Indische Zustände

^ Diesen Gegensätzen in der Natur des Landes entsprechen natürlich die
größten Unterschiede in dem Charakter seiner Bewohner. So finden wir ans
der einen Seite in der schwülen, erschlaffenden Luft, inmitten der feuchten,
tropischen Vegetation und auf dem maßlos produktiven Boden Bengalens ein
kleines, schwächliches, feiges Geschlecht. "Die Kastilianer -- schrieb einst
Macaulay -- haben das Sprichwort, daß in Valencia die Erde Wasser sei
und die Männer Weiber; diese Beschreibung läßt sich mindestens ebenso gut
auf die weite Ebne des untern Ganges anwenden. Die physische Organisation
des Bengali ist schwach bis zum Weibischen. Er lebt in einem fortwährenden
Dampfbade. Bei seinen Beschäftigungen sitzt er, seine Glieder sind zart, seine
Bewegungen langsam. Vor körperlicher Anstrengung scheut er zurück, nie läßt
er sich als Soldat anwerben. All jene Millionen liefern nicht einen Sepoh
zu dem Heere der Kompanie." Ans der andern Seite haben wir die Menschen
oben im Fünfstromlande. Dort in dem trocknen Klima mit seinen kalten, stär¬
kenden Wintern, auf einem Boden, der die Thätigkeit des Menschen anstrengt
und dann erst belohnt, lebt ein großes, schlankes, thatkräftiges Geschlecht. Dort
findet, moralisch und physisch, die anglo-indische Armee ihren besten Ersatz;
dort messen die Rekruten oft über sechs Fuß; dort drängt sich jeder zum
Kriegsdienst; dort entstanden jene Sils-Heere, die den britischen Truppen auf
dem Schlachtfelde ebenbürtig gegenübertraten und von einem anglo-indischen
Geschichtschreiber an Festigkeit lind religiöser Glut mit den "Eisenfeilen Crom-
wells" verglichen werden konnten.

Weit bedeutender aber noch als die physischen Unterschiede zwischen den
Bewohnern der einzelnen Landesteile sind die innern Gegensätze in der unge¬
heuern Bevölkerung. Vor allem fehlt den Millionen Indiens das Gefühl
einer gemeinsamen Abstammung und als äußeres Zeichen dazu die Gemein-
schaft der Sprache. Wir sagen mit Absicht nicht "die Gemeinsamkeit der Ab¬
stammung," sondern "das Gefühl einer gemeinsamen Abstammung." Denn
auch hier ist es nur der Glaube, der selig macht. In Wirklichkeit ist ja in
keinem Lande mit alter Geschichte die gesamte Bevölkerung gleichen Ursprungs.
Nach welchem Teile der alten Welt wir auch die Blicke lenken, überall finden
wir, daß sich im Laufe der Jahrtausende Volksmassen verschiedner Abkunft
über- und nebeneinander gelagert haben. Aber in den meisten Ländern Europas
sind die verschiednen Bestandteile nach und uach zu einer einheitlichen Nation
zusammengewachsen. So ist z. B. in England aus Jbereu, Kelten, Angel¬
sachsen, Dänen und Normannen das jetzige englische Volk als eine gleichartige,
untrennbare Einheit hervorgegangen. Anders in Indien. Auch hier zeigt sich
uns ein Nach-, Neben- und Übereinander verschiedner Klaffen. Alte Gräber
beweisen das Vorhandensein eines eigentümlichen, gänzlich verschollnen Ge¬
schlechts sür das Steinalter. Über sie scheinen sich zunächst in einer jenseits
aller Überlieferung liegenden Zeit von Nordosten her Horden tibeto-birmesischer


Indische Zustände

^ Diesen Gegensätzen in der Natur des Landes entsprechen natürlich die
größten Unterschiede in dem Charakter seiner Bewohner. So finden wir ans
der einen Seite in der schwülen, erschlaffenden Luft, inmitten der feuchten,
tropischen Vegetation und auf dem maßlos produktiven Boden Bengalens ein
kleines, schwächliches, feiges Geschlecht. „Die Kastilianer — schrieb einst
Macaulay — haben das Sprichwort, daß in Valencia die Erde Wasser sei
und die Männer Weiber; diese Beschreibung läßt sich mindestens ebenso gut
auf die weite Ebne des untern Ganges anwenden. Die physische Organisation
des Bengali ist schwach bis zum Weibischen. Er lebt in einem fortwährenden
Dampfbade. Bei seinen Beschäftigungen sitzt er, seine Glieder sind zart, seine
Bewegungen langsam. Vor körperlicher Anstrengung scheut er zurück, nie läßt
er sich als Soldat anwerben. All jene Millionen liefern nicht einen Sepoh
zu dem Heere der Kompanie." Ans der andern Seite haben wir die Menschen
oben im Fünfstromlande. Dort in dem trocknen Klima mit seinen kalten, stär¬
kenden Wintern, auf einem Boden, der die Thätigkeit des Menschen anstrengt
und dann erst belohnt, lebt ein großes, schlankes, thatkräftiges Geschlecht. Dort
findet, moralisch und physisch, die anglo-indische Armee ihren besten Ersatz;
dort messen die Rekruten oft über sechs Fuß; dort drängt sich jeder zum
Kriegsdienst; dort entstanden jene Sils-Heere, die den britischen Truppen auf
dem Schlachtfelde ebenbürtig gegenübertraten und von einem anglo-indischen
Geschichtschreiber an Festigkeit lind religiöser Glut mit den „Eisenfeilen Crom-
wells" verglichen werden konnten.

Weit bedeutender aber noch als die physischen Unterschiede zwischen den
Bewohnern der einzelnen Landesteile sind die innern Gegensätze in der unge¬
heuern Bevölkerung. Vor allem fehlt den Millionen Indiens das Gefühl
einer gemeinsamen Abstammung und als äußeres Zeichen dazu die Gemein-
schaft der Sprache. Wir sagen mit Absicht nicht „die Gemeinsamkeit der Ab¬
stammung," sondern „das Gefühl einer gemeinsamen Abstammung." Denn
auch hier ist es nur der Glaube, der selig macht. In Wirklichkeit ist ja in
keinem Lande mit alter Geschichte die gesamte Bevölkerung gleichen Ursprungs.
Nach welchem Teile der alten Welt wir auch die Blicke lenken, überall finden
wir, daß sich im Laufe der Jahrtausende Volksmassen verschiedner Abkunft
über- und nebeneinander gelagert haben. Aber in den meisten Ländern Europas
sind die verschiednen Bestandteile nach und uach zu einer einheitlichen Nation
zusammengewachsen. So ist z. B. in England aus Jbereu, Kelten, Angel¬
sachsen, Dänen und Normannen das jetzige englische Volk als eine gleichartige,
untrennbare Einheit hervorgegangen. Anders in Indien. Auch hier zeigt sich
uns ein Nach-, Neben- und Übereinander verschiedner Klaffen. Alte Gräber
beweisen das Vorhandensein eines eigentümlichen, gänzlich verschollnen Ge¬
schlechts sür das Steinalter. Über sie scheinen sich zunächst in einer jenseits
aller Überlieferung liegenden Zeit von Nordosten her Horden tibeto-birmesischer


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[0278] Indische Zustände ^ Diesen Gegensätzen in der Natur des Landes entsprechen natürlich die größten Unterschiede in dem Charakter seiner Bewohner. So finden wir ans der einen Seite in der schwülen, erschlaffenden Luft, inmitten der feuchten, tropischen Vegetation und auf dem maßlos produktiven Boden Bengalens ein kleines, schwächliches, feiges Geschlecht. „Die Kastilianer — schrieb einst Macaulay — haben das Sprichwort, daß in Valencia die Erde Wasser sei und die Männer Weiber; diese Beschreibung läßt sich mindestens ebenso gut auf die weite Ebne des untern Ganges anwenden. Die physische Organisation des Bengali ist schwach bis zum Weibischen. Er lebt in einem fortwährenden Dampfbade. Bei seinen Beschäftigungen sitzt er, seine Glieder sind zart, seine Bewegungen langsam. Vor körperlicher Anstrengung scheut er zurück, nie läßt er sich als Soldat anwerben. All jene Millionen liefern nicht einen Sepoh zu dem Heere der Kompanie." Ans der andern Seite haben wir die Menschen oben im Fünfstromlande. Dort in dem trocknen Klima mit seinen kalten, stär¬ kenden Wintern, auf einem Boden, der die Thätigkeit des Menschen anstrengt und dann erst belohnt, lebt ein großes, schlankes, thatkräftiges Geschlecht. Dort findet, moralisch und physisch, die anglo-indische Armee ihren besten Ersatz; dort messen die Rekruten oft über sechs Fuß; dort drängt sich jeder zum Kriegsdienst; dort entstanden jene Sils-Heere, die den britischen Truppen auf dem Schlachtfelde ebenbürtig gegenübertraten und von einem anglo-indischen Geschichtschreiber an Festigkeit lind religiöser Glut mit den „Eisenfeilen Crom- wells" verglichen werden konnten. Weit bedeutender aber noch als die physischen Unterschiede zwischen den Bewohnern der einzelnen Landesteile sind die innern Gegensätze in der unge¬ heuern Bevölkerung. Vor allem fehlt den Millionen Indiens das Gefühl einer gemeinsamen Abstammung und als äußeres Zeichen dazu die Gemein- schaft der Sprache. Wir sagen mit Absicht nicht „die Gemeinsamkeit der Ab¬ stammung," sondern „das Gefühl einer gemeinsamen Abstammung." Denn auch hier ist es nur der Glaube, der selig macht. In Wirklichkeit ist ja in keinem Lande mit alter Geschichte die gesamte Bevölkerung gleichen Ursprungs. Nach welchem Teile der alten Welt wir auch die Blicke lenken, überall finden wir, daß sich im Laufe der Jahrtausende Volksmassen verschiedner Abkunft über- und nebeneinander gelagert haben. Aber in den meisten Ländern Europas sind die verschiednen Bestandteile nach und uach zu einer einheitlichen Nation zusammengewachsen. So ist z. B. in England aus Jbereu, Kelten, Angel¬ sachsen, Dänen und Normannen das jetzige englische Volk als eine gleichartige, untrennbare Einheit hervorgegangen. Anders in Indien. Auch hier zeigt sich uns ein Nach-, Neben- und Übereinander verschiedner Klaffen. Alte Gräber beweisen das Vorhandensein eines eigentümlichen, gänzlich verschollnen Ge¬ schlechts sür das Steinalter. Über sie scheinen sich zunächst in einer jenseits aller Überlieferung liegenden Zeit von Nordosten her Horden tibeto-birmesischer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/278>, abgerufen am 27.11.2024.