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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Bilder aus dem Westen

streiten, hatte sie die letzten Reste ihrer Garderobe verkauft, und um das Maß
ihrer Leiden voll zu machen, war sie bei einem ihrer Bittgänge ausgeglitten,
hatte ein Bein gebrochen und konnte nun nur noch Mütterrollen übernehmen.
Heute Abend nahm sie mit schwerem Herzen Abschied von ihrem Fach als
jugendliche Liebhaberin und spielte die Luise in Kabale und Liebe. Hinkend,
wegen ihres schlecht geheilten Fußes, empfahl sie sich dankend, daß wir ihr
ein paar Billets abnahmen. Sie war übrigens aus einem wohlbekannten alt-
adlichen Berliner Hause.

Inzwischen hatte der kleinere der beiden Jungen nebenan nach langem Streit
endlich den Fünfzigcentschein halb durchgerissen, hatte vom Vater eine Ohrfeige
dafür bekommen und wälzte sich nun laut heulend im Grase, während der
Vater ärgerlich den Platz verließ und auf die Straße hinausging.

Was schreist du denn so mörderisch? fragte die Mutter, indem sie aus
dem Hause herzueilte.

Ach, der Mann hat mich gehauen!

Wer?

Nun, der Mann, der alle Sonntage zu uns ins Haus kommt. -- Er
meinte seinen Vater!

Von dem ältern der beiden Jungen erzählte man sich, daß seinetwegen
ein Lehrer, der ihn geschlagen hatte, gerichtlich belangt worden sei, nicht
wegen härterer Züchtigung -- er hatte ihm nur ein Klaps versetzt --, sondern
weil er sich an einem freien Bürger der Vereinigten Staaten vergriffen hatte.
Als ihn sein Vater eines Tages darüber belehrt hatte, wozu die Polizisten
dawären, nämlich daß sie Unruhen zu schlichten hätten, war der Junge bei
der nächsten Rüge, die er vom Vater bekommen hatte, nach der Straßenecke
zu dem Polizisten gelaufen, der sich dort aufhielt, und hatte ihn ersucht, seinen
Alten zu arretiren, da er Unruhe gestiftet habe!

Inzwischen hatten die auf der Fahrstraße zwitschernden Sperlinge dein
Flüchtling seiue Beute wieder abgejagt -- es war eine Heuschrecke -- und
gingen nun ans Zerpflücken und Zerteilen des fetten Bissens, der gerade genug
für einen gewesen wäre, bis sich wieder ein neuer Streit entspann gegen den,
der von all den kleinen Teilchen das größte erhascht hatte. Über uns aber
schmetterte eine Lerche, ohne sich von dem Gezänk der Spatzen beirren zu lassen,
ihr frohes Lied in den blauen Himmel hinein.

Während ich darüber grübelte, welchen Parteien wohl Papagei, Spott¬
drossel und Lerche entsprechen würden, wenn die Spatzen die Sozialdemokratie
wären, kamen nach beendigtem Gottesdienst aus der deutschen Kirche die
Gläubigen, die diesmal zugleich als Gläubiger hingeeilt waren, mit er¬
hitzten Köpfen, lebhaft gestikulirend, voran unser guter Meister Vögelein.
Auf unsre Frage, wie die Sache abgelaufen sei, erwiderte er hastig: Er will
sich auf nichts einlassen. Aber wir wollen ihn schon kriegen. Noch heute


Bilder aus dem Westen

streiten, hatte sie die letzten Reste ihrer Garderobe verkauft, und um das Maß
ihrer Leiden voll zu machen, war sie bei einem ihrer Bittgänge ausgeglitten,
hatte ein Bein gebrochen und konnte nun nur noch Mütterrollen übernehmen.
Heute Abend nahm sie mit schwerem Herzen Abschied von ihrem Fach als
jugendliche Liebhaberin und spielte die Luise in Kabale und Liebe. Hinkend,
wegen ihres schlecht geheilten Fußes, empfahl sie sich dankend, daß wir ihr
ein paar Billets abnahmen. Sie war übrigens aus einem wohlbekannten alt-
adlichen Berliner Hause.

Inzwischen hatte der kleinere der beiden Jungen nebenan nach langem Streit
endlich den Fünfzigcentschein halb durchgerissen, hatte vom Vater eine Ohrfeige
dafür bekommen und wälzte sich nun laut heulend im Grase, während der
Vater ärgerlich den Platz verließ und auf die Straße hinausging.

Was schreist du denn so mörderisch? fragte die Mutter, indem sie aus
dem Hause herzueilte.

Ach, der Mann hat mich gehauen!

Wer?

Nun, der Mann, der alle Sonntage zu uns ins Haus kommt. — Er
meinte seinen Vater!

Von dem ältern der beiden Jungen erzählte man sich, daß seinetwegen
ein Lehrer, der ihn geschlagen hatte, gerichtlich belangt worden sei, nicht
wegen härterer Züchtigung — er hatte ihm nur ein Klaps versetzt —, sondern
weil er sich an einem freien Bürger der Vereinigten Staaten vergriffen hatte.
Als ihn sein Vater eines Tages darüber belehrt hatte, wozu die Polizisten
dawären, nämlich daß sie Unruhen zu schlichten hätten, war der Junge bei
der nächsten Rüge, die er vom Vater bekommen hatte, nach der Straßenecke
zu dem Polizisten gelaufen, der sich dort aufhielt, und hatte ihn ersucht, seinen
Alten zu arretiren, da er Unruhe gestiftet habe!

Inzwischen hatten die auf der Fahrstraße zwitschernden Sperlinge dein
Flüchtling seiue Beute wieder abgejagt — es war eine Heuschrecke — und
gingen nun ans Zerpflücken und Zerteilen des fetten Bissens, der gerade genug
für einen gewesen wäre, bis sich wieder ein neuer Streit entspann gegen den,
der von all den kleinen Teilchen das größte erhascht hatte. Über uns aber
schmetterte eine Lerche, ohne sich von dem Gezänk der Spatzen beirren zu lassen,
ihr frohes Lied in den blauen Himmel hinein.

Während ich darüber grübelte, welchen Parteien wohl Papagei, Spott¬
drossel und Lerche entsprechen würden, wenn die Spatzen die Sozialdemokratie
wären, kamen nach beendigtem Gottesdienst aus der deutschen Kirche die
Gläubigen, die diesmal zugleich als Gläubiger hingeeilt waren, mit er¬
hitzten Köpfen, lebhaft gestikulirend, voran unser guter Meister Vögelein.
Auf unsre Frage, wie die Sache abgelaufen sei, erwiderte er hastig: Er will
sich auf nichts einlassen. Aber wir wollen ihn schon kriegen. Noch heute


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[0236] Bilder aus dem Westen streiten, hatte sie die letzten Reste ihrer Garderobe verkauft, und um das Maß ihrer Leiden voll zu machen, war sie bei einem ihrer Bittgänge ausgeglitten, hatte ein Bein gebrochen und konnte nun nur noch Mütterrollen übernehmen. Heute Abend nahm sie mit schwerem Herzen Abschied von ihrem Fach als jugendliche Liebhaberin und spielte die Luise in Kabale und Liebe. Hinkend, wegen ihres schlecht geheilten Fußes, empfahl sie sich dankend, daß wir ihr ein paar Billets abnahmen. Sie war übrigens aus einem wohlbekannten alt- adlichen Berliner Hause. Inzwischen hatte der kleinere der beiden Jungen nebenan nach langem Streit endlich den Fünfzigcentschein halb durchgerissen, hatte vom Vater eine Ohrfeige dafür bekommen und wälzte sich nun laut heulend im Grase, während der Vater ärgerlich den Platz verließ und auf die Straße hinausging. Was schreist du denn so mörderisch? fragte die Mutter, indem sie aus dem Hause herzueilte. Ach, der Mann hat mich gehauen! Wer? Nun, der Mann, der alle Sonntage zu uns ins Haus kommt. — Er meinte seinen Vater! Von dem ältern der beiden Jungen erzählte man sich, daß seinetwegen ein Lehrer, der ihn geschlagen hatte, gerichtlich belangt worden sei, nicht wegen härterer Züchtigung — er hatte ihm nur ein Klaps versetzt —, sondern weil er sich an einem freien Bürger der Vereinigten Staaten vergriffen hatte. Als ihn sein Vater eines Tages darüber belehrt hatte, wozu die Polizisten dawären, nämlich daß sie Unruhen zu schlichten hätten, war der Junge bei der nächsten Rüge, die er vom Vater bekommen hatte, nach der Straßenecke zu dem Polizisten gelaufen, der sich dort aufhielt, und hatte ihn ersucht, seinen Alten zu arretiren, da er Unruhe gestiftet habe! Inzwischen hatten die auf der Fahrstraße zwitschernden Sperlinge dein Flüchtling seiue Beute wieder abgejagt — es war eine Heuschrecke — und gingen nun ans Zerpflücken und Zerteilen des fetten Bissens, der gerade genug für einen gewesen wäre, bis sich wieder ein neuer Streit entspann gegen den, der von all den kleinen Teilchen das größte erhascht hatte. Über uns aber schmetterte eine Lerche, ohne sich von dem Gezänk der Spatzen beirren zu lassen, ihr frohes Lied in den blauen Himmel hinein. Während ich darüber grübelte, welchen Parteien wohl Papagei, Spott¬ drossel und Lerche entsprechen würden, wenn die Spatzen die Sozialdemokratie wären, kamen nach beendigtem Gottesdienst aus der deutschen Kirche die Gläubigen, die diesmal zugleich als Gläubiger hingeeilt waren, mit er¬ hitzten Köpfen, lebhaft gestikulirend, voran unser guter Meister Vögelein. Auf unsre Frage, wie die Sache abgelaufen sei, erwiderte er hastig: Er will sich auf nichts einlassen. Aber wir wollen ihn schon kriegen. Noch heute

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/236>, abgerufen am 24.11.2024.