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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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vom Mittelpunkte des Unterrichts

Schulen bisher nicht geruht haben, von ihrem Dasein Notiz zu nehmen. Man
sage nicht, die Werke dieser Dichter seien zu teuer für die Schule. Für das
Geld, das die Eltern für mathematische und naturwissenschaftliche Lehrbücher,
für griechische, lateinische, französische und englische Grammatiker, für dick¬
bäuchige Wörterbücher und Logarithmentafeln wegwerfen müssen, die später
in die Rumpelkammer wandern, ließe sich eine ganz hübsche Sammlung deutscher
Dichter anlegen, die den Schüler durchs Leben begleite" könnte.

Wir haben dann im jüngsten Abschnitt unsrer Litteratur -- die neueste
Litteratur in deutscher Sprache, die berlinisch-jüdische Spelunken- "beziehungs¬
weise" Snlonpvesie rechne ich selbstverständlich nicht zur deutschen Dichtkunst --
noch zwei Dichter, mit denen man die Schüler auch lieber möglichst genau
bekannt machen sollte, statt so zu thun, als hätten Körner, Rückert und Geibel
für die Gegenwart noch irgendwelche Bedeutung. Was diese beiden Meister
individueller Charakteristik von der Schule fern gehalten hat, das sind wohl
wesentlich drei Punkte, die sie zur Jugendbildung in hohem Maße geeignet
machen. Das ist erstens der sichere Griff, mit dem sie aus dem Urquell
unsers Volkstums schöpfen; das ist zweitens der siegreiche Humor, mit dem
sie auch die ernstesten Lagen des Lebens verklären; und das ist drittens, als
Folge der beiden ersten Punkte, eine Beliebtheit ohne gleichen, die den jammer¬
vollen Verfall unsers litterarischen Geschmacks glänzend überdauert hat, und
an der sich darum der Geschmack am ehesten wieder aufrichten könnte. Die
beiden Dichter sind -- trotz Wilhelm Meister und Wahlverwandtschaften
nebst ihrem stattlichen Gefolge -- die Klassiker unsrer Prvsaerzählung,
vie um Haupteslänge alles überragen, was nach Goethes Tode zu schreiben
begann: Scheffel und Reuter. Daß sich die Schule die beispiellose Verbrei¬
tung von Scheffels Ekkehard nicht zu nutze macht, um dadurch die Neigung
für nationale Kultur zu wecken, ist einfach unbegreiflich. Freilich gehört dazu
ein Lehrer, der in der deutscheu Kulturgeschichte Bescheid weiß. Aber was
nicht gleich in der Vollendung zu haben ist, das nimmt man, so gut mans
bekommen kann, und sorgt für bessern Nachwuchs. Weitere Wor^e darüber zu
verlieren, daß die litterarische Seite des deutscheu Unterrichts ihre beste Stütze
am Ekkehard fände, scheint mir überflüssig zu sein. Daß der Ekkehard eine
wahre Erfrischung des Unterrichts bedeuten würde, ist schon daraus zu schließen,
daß unsre Schulpedanten in den Kultusministerien noch nicht darauf verfallen
sind, obgleich das nationalste Werk der neuhochdeutschen Litteratur für die Be¬
achtung ziemlich nahe lag, wenn man Deutsch in den Mittelpunkt des Unter¬
richts rücken wollte. Was Scheffel für den litterarischen Teil des Unterrichts
sein könnte, das kann Fritz Reuter für den deutschen Sprachunterricht werden.
Ich bin durchaus kein Freund der Dialektdichtung, und die Salontirolerei unsrer
Familienblätter ist mir in der Seele zuwider. Aber Fritz Reuters nieder¬
deutsche Mundart ist kein Reklamcmüntelchen, das er nach Bedarf an- und ab-


vom Mittelpunkte des Unterrichts

Schulen bisher nicht geruht haben, von ihrem Dasein Notiz zu nehmen. Man
sage nicht, die Werke dieser Dichter seien zu teuer für die Schule. Für das
Geld, das die Eltern für mathematische und naturwissenschaftliche Lehrbücher,
für griechische, lateinische, französische und englische Grammatiker, für dick¬
bäuchige Wörterbücher und Logarithmentafeln wegwerfen müssen, die später
in die Rumpelkammer wandern, ließe sich eine ganz hübsche Sammlung deutscher
Dichter anlegen, die den Schüler durchs Leben begleite» könnte.

Wir haben dann im jüngsten Abschnitt unsrer Litteratur — die neueste
Litteratur in deutscher Sprache, die berlinisch-jüdische Spelunken- „beziehungs¬
weise" Snlonpvesie rechne ich selbstverständlich nicht zur deutschen Dichtkunst —
noch zwei Dichter, mit denen man die Schüler auch lieber möglichst genau
bekannt machen sollte, statt so zu thun, als hätten Körner, Rückert und Geibel
für die Gegenwart noch irgendwelche Bedeutung. Was diese beiden Meister
individueller Charakteristik von der Schule fern gehalten hat, das sind wohl
wesentlich drei Punkte, die sie zur Jugendbildung in hohem Maße geeignet
machen. Das ist erstens der sichere Griff, mit dem sie aus dem Urquell
unsers Volkstums schöpfen; das ist zweitens der siegreiche Humor, mit dem
sie auch die ernstesten Lagen des Lebens verklären; und das ist drittens, als
Folge der beiden ersten Punkte, eine Beliebtheit ohne gleichen, die den jammer¬
vollen Verfall unsers litterarischen Geschmacks glänzend überdauert hat, und
an der sich darum der Geschmack am ehesten wieder aufrichten könnte. Die
beiden Dichter sind — trotz Wilhelm Meister und Wahlverwandtschaften
nebst ihrem stattlichen Gefolge — die Klassiker unsrer Prvsaerzählung,
vie um Haupteslänge alles überragen, was nach Goethes Tode zu schreiben
begann: Scheffel und Reuter. Daß sich die Schule die beispiellose Verbrei¬
tung von Scheffels Ekkehard nicht zu nutze macht, um dadurch die Neigung
für nationale Kultur zu wecken, ist einfach unbegreiflich. Freilich gehört dazu
ein Lehrer, der in der deutscheu Kulturgeschichte Bescheid weiß. Aber was
nicht gleich in der Vollendung zu haben ist, das nimmt man, so gut mans
bekommen kann, und sorgt für bessern Nachwuchs. Weitere Wor^e darüber zu
verlieren, daß die litterarische Seite des deutscheu Unterrichts ihre beste Stütze
am Ekkehard fände, scheint mir überflüssig zu sein. Daß der Ekkehard eine
wahre Erfrischung des Unterrichts bedeuten würde, ist schon daraus zu schließen,
daß unsre Schulpedanten in den Kultusministerien noch nicht darauf verfallen
sind, obgleich das nationalste Werk der neuhochdeutschen Litteratur für die Be¬
achtung ziemlich nahe lag, wenn man Deutsch in den Mittelpunkt des Unter¬
richts rücken wollte. Was Scheffel für den litterarischen Teil des Unterrichts
sein könnte, das kann Fritz Reuter für den deutschen Sprachunterricht werden.
Ich bin durchaus kein Freund der Dialektdichtung, und die Salontirolerei unsrer
Familienblätter ist mir in der Seele zuwider. Aber Fritz Reuters nieder¬
deutsche Mundart ist kein Reklamcmüntelchen, das er nach Bedarf an- und ab-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/230>, abgerufen am 01.09.2024.