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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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vom Mittelpunkte des Unterrichts

ist für den Primanerverstand zu hoch. Die Jugend haftet um Einzelheiten,
und das anspruchsvolle Drama ist gar kein rechtes Gebiet für sie. Nun
wirds zwar die Schule weder dahin bringen, daß kein Quartaner mehr ge¬
legentlich einen Apfel stiehlt, noch dahin, daß sich kein Primaner mehr für
den "Kampf um Rom" begeistert. Das wäre aber auch schade. Es genügt
vollkommen, wenn sie dem Quartaner das Äpfelstchlen zu einer Ungezogenheit
stempelt, die er sich abgewöhnen muß, und wenn sie in den schäumenden
Becher der Primauerschwärmerei einige Tropfen vcrstaudeskühler Kritik träufelt,
damit er das Buch Felix Dcchns, zu dem er freiwillig gegriffen hat, in reiferen
Alter ebenso freiwillig beiseite legt und, wenn er nach Idealismus begehrt,
einen Band Schiller zur Hand nimmt. Denn hat die Schule die jugendliche
Schwärmerei in die gesunden Bahnen deutschen Denkens und Fühlens gelenkt,
so braucht sie um den Idealismus nicht besorgt zu sein. Ein Charakter, dessen
Stamm fest in seinem Volke wurzelt, zieht aus der alten Mutter Erde zu
allen Zeiten hinlängliche Nahrung, um die Äste, die in den freien Himmels-
raum ragen, mit dem grünen Laub des Idealismus zu schmücken.

Wenn man also der Meinung ist, der deutsche Unterricht habe den Cha¬
rakter des Schülers zu bilden, so Hütte man für ein deutsches Lesebuch in
erster Linie Dichter zu wählen, deren Stärke die Zeichnung individueller
Charaktere ist. Denn Individualitäten, von deutschen Dichter" geschildert,
werden immer Gelegenheit geben, die deutschen Begriffe von sittlicher Tüchtig¬
keit zu erläutern. Ob der Dichter Idealist ist, ob es seine Personen sind,
das hat wenig zu sagen. Daß der Mensch, der immer strebend sich bemüht,
niemals ganz verkommen kann, das läßt sich an Richard dein Dritten min¬
destens eben so gut zeigen, wie am Faust. Was die Schule, besonders bei
der Lektüre ganzer Dichtwerke, zu meiden hat, das sind die allzu feinen Unter¬
suchungen über die Beziehung der Geschlechter zu einander. So kann Grill-
parzers Goldnes Vließ sicherlich so durchgenommen werden, daß die Schiller
einen hohen Gewinn davontragen. Denn die Individualität der Medea wächst
zu solcher Rissengrvße empor, daß für kleinliche Difteleien kein Raum bleibt.
Dagegen wird man mit Recht Bedenken tragen, Sappho, Melitta, Hero und
die lüsterne Jüdin von Toledo in die Schule einzuführen. Aber den König
Ottokar, von dem es übrigens schon eine Schulaufgabe giebt, würde ich ungern
vermissen, trotz des bösen Zawisch Rosenberg. Ganz vorzüglich für die Schule
geeignet, um seiner festen Charaktcrführnng willen, wäre Otto Ludwigs Erb¬
förster; denn auch die Übertreibung einer an sich tüchtigen Eigenschaft liegt
hier so auf der Hand, daß sie selbst der Urteilskraft eines Primaners unter¬
worfen ist. Füge ich noch hinzu, daß ein gewisser Friedrich Hebbel eine
Agnes Bernauerin und eine Nibelungentrilvgie geschrieben hat, so haben wir
da gleich drei hochbedeutende Dichterindividualitüten der nachklassischen Zeit,
von denen die große Masse der Gebildeten keine Nhnuug hat, weil die deutschen


vom Mittelpunkte des Unterrichts

ist für den Primanerverstand zu hoch. Die Jugend haftet um Einzelheiten,
und das anspruchsvolle Drama ist gar kein rechtes Gebiet für sie. Nun
wirds zwar die Schule weder dahin bringen, daß kein Quartaner mehr ge¬
legentlich einen Apfel stiehlt, noch dahin, daß sich kein Primaner mehr für
den „Kampf um Rom" begeistert. Das wäre aber auch schade. Es genügt
vollkommen, wenn sie dem Quartaner das Äpfelstchlen zu einer Ungezogenheit
stempelt, die er sich abgewöhnen muß, und wenn sie in den schäumenden
Becher der Primauerschwärmerei einige Tropfen vcrstaudeskühler Kritik träufelt,
damit er das Buch Felix Dcchns, zu dem er freiwillig gegriffen hat, in reiferen
Alter ebenso freiwillig beiseite legt und, wenn er nach Idealismus begehrt,
einen Band Schiller zur Hand nimmt. Denn hat die Schule die jugendliche
Schwärmerei in die gesunden Bahnen deutschen Denkens und Fühlens gelenkt,
so braucht sie um den Idealismus nicht besorgt zu sein. Ein Charakter, dessen
Stamm fest in seinem Volke wurzelt, zieht aus der alten Mutter Erde zu
allen Zeiten hinlängliche Nahrung, um die Äste, die in den freien Himmels-
raum ragen, mit dem grünen Laub des Idealismus zu schmücken.

Wenn man also der Meinung ist, der deutsche Unterricht habe den Cha¬
rakter des Schülers zu bilden, so Hütte man für ein deutsches Lesebuch in
erster Linie Dichter zu wählen, deren Stärke die Zeichnung individueller
Charaktere ist. Denn Individualitäten, von deutschen Dichter» geschildert,
werden immer Gelegenheit geben, die deutschen Begriffe von sittlicher Tüchtig¬
keit zu erläutern. Ob der Dichter Idealist ist, ob es seine Personen sind,
das hat wenig zu sagen. Daß der Mensch, der immer strebend sich bemüht,
niemals ganz verkommen kann, das läßt sich an Richard dein Dritten min¬
destens eben so gut zeigen, wie am Faust. Was die Schule, besonders bei
der Lektüre ganzer Dichtwerke, zu meiden hat, das sind die allzu feinen Unter¬
suchungen über die Beziehung der Geschlechter zu einander. So kann Grill-
parzers Goldnes Vließ sicherlich so durchgenommen werden, daß die Schiller
einen hohen Gewinn davontragen. Denn die Individualität der Medea wächst
zu solcher Rissengrvße empor, daß für kleinliche Difteleien kein Raum bleibt.
Dagegen wird man mit Recht Bedenken tragen, Sappho, Melitta, Hero und
die lüsterne Jüdin von Toledo in die Schule einzuführen. Aber den König
Ottokar, von dem es übrigens schon eine Schulaufgabe giebt, würde ich ungern
vermissen, trotz des bösen Zawisch Rosenberg. Ganz vorzüglich für die Schule
geeignet, um seiner festen Charaktcrführnng willen, wäre Otto Ludwigs Erb¬
förster; denn auch die Übertreibung einer an sich tüchtigen Eigenschaft liegt
hier so auf der Hand, daß sie selbst der Urteilskraft eines Primaners unter¬
worfen ist. Füge ich noch hinzu, daß ein gewisser Friedrich Hebbel eine
Agnes Bernauerin und eine Nibelungentrilvgie geschrieben hat, so haben wir
da gleich drei hochbedeutende Dichterindividualitüten der nachklassischen Zeit,
von denen die große Masse der Gebildeten keine Nhnuug hat, weil die deutschen


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[0229] vom Mittelpunkte des Unterrichts ist für den Primanerverstand zu hoch. Die Jugend haftet um Einzelheiten, und das anspruchsvolle Drama ist gar kein rechtes Gebiet für sie. Nun wirds zwar die Schule weder dahin bringen, daß kein Quartaner mehr ge¬ legentlich einen Apfel stiehlt, noch dahin, daß sich kein Primaner mehr für den „Kampf um Rom" begeistert. Das wäre aber auch schade. Es genügt vollkommen, wenn sie dem Quartaner das Äpfelstchlen zu einer Ungezogenheit stempelt, die er sich abgewöhnen muß, und wenn sie in den schäumenden Becher der Primauerschwärmerei einige Tropfen vcrstaudeskühler Kritik träufelt, damit er das Buch Felix Dcchns, zu dem er freiwillig gegriffen hat, in reiferen Alter ebenso freiwillig beiseite legt und, wenn er nach Idealismus begehrt, einen Band Schiller zur Hand nimmt. Denn hat die Schule die jugendliche Schwärmerei in die gesunden Bahnen deutschen Denkens und Fühlens gelenkt, so braucht sie um den Idealismus nicht besorgt zu sein. Ein Charakter, dessen Stamm fest in seinem Volke wurzelt, zieht aus der alten Mutter Erde zu allen Zeiten hinlängliche Nahrung, um die Äste, die in den freien Himmels- raum ragen, mit dem grünen Laub des Idealismus zu schmücken. Wenn man also der Meinung ist, der deutsche Unterricht habe den Cha¬ rakter des Schülers zu bilden, so Hütte man für ein deutsches Lesebuch in erster Linie Dichter zu wählen, deren Stärke die Zeichnung individueller Charaktere ist. Denn Individualitäten, von deutschen Dichter» geschildert, werden immer Gelegenheit geben, die deutschen Begriffe von sittlicher Tüchtig¬ keit zu erläutern. Ob der Dichter Idealist ist, ob es seine Personen sind, das hat wenig zu sagen. Daß der Mensch, der immer strebend sich bemüht, niemals ganz verkommen kann, das läßt sich an Richard dein Dritten min¬ destens eben so gut zeigen, wie am Faust. Was die Schule, besonders bei der Lektüre ganzer Dichtwerke, zu meiden hat, das sind die allzu feinen Unter¬ suchungen über die Beziehung der Geschlechter zu einander. So kann Grill- parzers Goldnes Vließ sicherlich so durchgenommen werden, daß die Schiller einen hohen Gewinn davontragen. Denn die Individualität der Medea wächst zu solcher Rissengrvße empor, daß für kleinliche Difteleien kein Raum bleibt. Dagegen wird man mit Recht Bedenken tragen, Sappho, Melitta, Hero und die lüsterne Jüdin von Toledo in die Schule einzuführen. Aber den König Ottokar, von dem es übrigens schon eine Schulaufgabe giebt, würde ich ungern vermissen, trotz des bösen Zawisch Rosenberg. Ganz vorzüglich für die Schule geeignet, um seiner festen Charaktcrführnng willen, wäre Otto Ludwigs Erb¬ förster; denn auch die Übertreibung einer an sich tüchtigen Eigenschaft liegt hier so auf der Hand, daß sie selbst der Urteilskraft eines Primaners unter¬ worfen ist. Füge ich noch hinzu, daß ein gewisser Friedrich Hebbel eine Agnes Bernauerin und eine Nibelungentrilvgie geschrieben hat, so haben wir da gleich drei hochbedeutende Dichterindividualitüten der nachklassischen Zeit, von denen die große Masse der Gebildeten keine Nhnuug hat, weil die deutschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/229>, abgerufen am 01.09.2024.