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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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allem, was er für edel, gut und tüchtig um deswillen halten sollte, weil er
ein Sohn seines Volkes ist. Und vermutlich wird eine spätere Zeit unsre
klassischen Philologen und ihre hohen Gönner beschuldigen, daß sie durch die
einseitige Beschäftigung mit Homer nach Kräften daran gearbeitet hätten, der
deutschen Jugend die Freude an ihrem schönsten Erbe, an den sittlichen Idealen
ihres Volkes zu verkümmern. Wir wollen nicht so hart über unsre Homer¬
schwärmer urteilen, denn "sobald man in der Wissenschaft einer gewissen be¬
schränkten Konfession angehört, ist sogleich jede unbefangne treue Auffassung
dahin," hat ein deutscher Stantsminister a. D. gesagt. Das war der gro߬
herzoglich weimarische Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe.

Also nicht dazu allein ist Homer ans der Schule fern zu halten, damit
wir Raum gewinnen für die nationale Litteratur. Und nicht dazu allein sind
die mittelhochdeutschen Dichter in die Schule einzuführen, damit unser krankes
Sprachgefühl gesund werde. Beides ist notwendig, um die Erziehung zu einem
sittlich tüchtigen Charakter überhaupt möglich zu machen. Denn wozu sollen
unsre Schüler tüchtig werden, wenn nicht dazu, als brauchbare Glieder in der
Gemeinschaft ihres Volkes zu leben und zu wirken? Und wie soll man ihnen
sittliche Tüchtigkeit an Werken erläutern, in die man sittliche Ideen erst Hinein¬
interpretiren muß? Es ist wahr, dem trojanischen Raub- und Rachezug liegt
die Idee von der Heiligkeit des Gastrechts zu Grunde. Aber der Schützer
des Herdes ist doch unter den zahlreichen Sultanslaunen des homerischen Zeus
uur mit einigen: guten Willen zu erkennen. Und wenn auch. Warum eine
sittliche Idee an dem Erzeugnis einer rohen Knlturepoche entwickeln, wenn unsre
eigne Dichtkunst diese selbe Idee mit einer herben Strenge verkörpert hat,
vor der uns noch heute ein ehrfürchtiges Grauen anwandelt. Die Jugend
unsrer bessern Stände pflegt, sobald sie losgelassen ist, weibliche Seelenstudien
bei Kellnerinnen und denen, die nach ihnen kommen, zu machen. Das katzeu-
jämmerliche Ergebnis dieser Studien ist in der Regel die blasirte Weisheit,
daß "die Weiber" samt und sonders nichts taugen. Dieser Jugend könnte es
wahrhaftig nichts schaden, wenn sie auf der Schule die genaue Bekanntschaft
eines so starken Frauengemüts machte, wie es die edle Königstochter Gudrun
hat, der man nicht, wie der griechischen Helena, nachsagen kann, daß sie den
ganzen Spektakel eines Racheznges nicht wert gewesen sei. Und die sittliche
Idee der Gudrun, daß frecher Raub geahndet werden muß, und sollte auch erst
ein neues Geschlecht für die Rache erwachsen, sie hat sich uns in jüngster
Vergangenheit noch in so weltgeschichtlicher Größe dargestellt, daß wir das
unttelalterlichc Gedicht ruhig zur Nationnlepos des neuen deutschen Reiches
machen könnten. Dazu müßten wirs aber erst lesen lernen.

Dies Lesenlernen -- mit dem auch nach und nach der Aberglaube
schwinden möchte, mau könne deutsche Hexameter machen --, also die deutsche
Grammatik, treibe mau um Gottes willen nicht an der Hand eines Spöte-


vom Mittelpunkt«: des Unterrichts

allem, was er für edel, gut und tüchtig um deswillen halten sollte, weil er
ein Sohn seines Volkes ist. Und vermutlich wird eine spätere Zeit unsre
klassischen Philologen und ihre hohen Gönner beschuldigen, daß sie durch die
einseitige Beschäftigung mit Homer nach Kräften daran gearbeitet hätten, der
deutschen Jugend die Freude an ihrem schönsten Erbe, an den sittlichen Idealen
ihres Volkes zu verkümmern. Wir wollen nicht so hart über unsre Homer¬
schwärmer urteilen, denn „sobald man in der Wissenschaft einer gewissen be¬
schränkten Konfession angehört, ist sogleich jede unbefangne treue Auffassung
dahin," hat ein deutscher Stantsminister a. D. gesagt. Das war der gro߬
herzoglich weimarische Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe.

Also nicht dazu allein ist Homer ans der Schule fern zu halten, damit
wir Raum gewinnen für die nationale Litteratur. Und nicht dazu allein sind
die mittelhochdeutschen Dichter in die Schule einzuführen, damit unser krankes
Sprachgefühl gesund werde. Beides ist notwendig, um die Erziehung zu einem
sittlich tüchtigen Charakter überhaupt möglich zu machen. Denn wozu sollen
unsre Schüler tüchtig werden, wenn nicht dazu, als brauchbare Glieder in der
Gemeinschaft ihres Volkes zu leben und zu wirken? Und wie soll man ihnen
sittliche Tüchtigkeit an Werken erläutern, in die man sittliche Ideen erst Hinein¬
interpretiren muß? Es ist wahr, dem trojanischen Raub- und Rachezug liegt
die Idee von der Heiligkeit des Gastrechts zu Grunde. Aber der Schützer
des Herdes ist doch unter den zahlreichen Sultanslaunen des homerischen Zeus
uur mit einigen: guten Willen zu erkennen. Und wenn auch. Warum eine
sittliche Idee an dem Erzeugnis einer rohen Knlturepoche entwickeln, wenn unsre
eigne Dichtkunst diese selbe Idee mit einer herben Strenge verkörpert hat,
vor der uns noch heute ein ehrfürchtiges Grauen anwandelt. Die Jugend
unsrer bessern Stände pflegt, sobald sie losgelassen ist, weibliche Seelenstudien
bei Kellnerinnen und denen, die nach ihnen kommen, zu machen. Das katzeu-
jämmerliche Ergebnis dieser Studien ist in der Regel die blasirte Weisheit,
daß „die Weiber" samt und sonders nichts taugen. Dieser Jugend könnte es
wahrhaftig nichts schaden, wenn sie auf der Schule die genaue Bekanntschaft
eines so starken Frauengemüts machte, wie es die edle Königstochter Gudrun
hat, der man nicht, wie der griechischen Helena, nachsagen kann, daß sie den
ganzen Spektakel eines Racheznges nicht wert gewesen sei. Und die sittliche
Idee der Gudrun, daß frecher Raub geahndet werden muß, und sollte auch erst
ein neues Geschlecht für die Rache erwachsen, sie hat sich uns in jüngster
Vergangenheit noch in so weltgeschichtlicher Größe dargestellt, daß wir das
unttelalterlichc Gedicht ruhig zur Nationnlepos des neuen deutschen Reiches
machen könnten. Dazu müßten wirs aber erst lesen lernen.

Dies Lesenlernen — mit dem auch nach und nach der Aberglaube
schwinden möchte, mau könne deutsche Hexameter machen —, also die deutsche
Grammatik, treibe mau um Gottes willen nicht an der Hand eines Spöte-


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[0227] vom Mittelpunkt«: des Unterrichts allem, was er für edel, gut und tüchtig um deswillen halten sollte, weil er ein Sohn seines Volkes ist. Und vermutlich wird eine spätere Zeit unsre klassischen Philologen und ihre hohen Gönner beschuldigen, daß sie durch die einseitige Beschäftigung mit Homer nach Kräften daran gearbeitet hätten, der deutschen Jugend die Freude an ihrem schönsten Erbe, an den sittlichen Idealen ihres Volkes zu verkümmern. Wir wollen nicht so hart über unsre Homer¬ schwärmer urteilen, denn „sobald man in der Wissenschaft einer gewissen be¬ schränkten Konfession angehört, ist sogleich jede unbefangne treue Auffassung dahin," hat ein deutscher Stantsminister a. D. gesagt. Das war der gro߬ herzoglich weimarische Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe. Also nicht dazu allein ist Homer ans der Schule fern zu halten, damit wir Raum gewinnen für die nationale Litteratur. Und nicht dazu allein sind die mittelhochdeutschen Dichter in die Schule einzuführen, damit unser krankes Sprachgefühl gesund werde. Beides ist notwendig, um die Erziehung zu einem sittlich tüchtigen Charakter überhaupt möglich zu machen. Denn wozu sollen unsre Schüler tüchtig werden, wenn nicht dazu, als brauchbare Glieder in der Gemeinschaft ihres Volkes zu leben und zu wirken? Und wie soll man ihnen sittliche Tüchtigkeit an Werken erläutern, in die man sittliche Ideen erst Hinein¬ interpretiren muß? Es ist wahr, dem trojanischen Raub- und Rachezug liegt die Idee von der Heiligkeit des Gastrechts zu Grunde. Aber der Schützer des Herdes ist doch unter den zahlreichen Sultanslaunen des homerischen Zeus uur mit einigen: guten Willen zu erkennen. Und wenn auch. Warum eine sittliche Idee an dem Erzeugnis einer rohen Knlturepoche entwickeln, wenn unsre eigne Dichtkunst diese selbe Idee mit einer herben Strenge verkörpert hat, vor der uns noch heute ein ehrfürchtiges Grauen anwandelt. Die Jugend unsrer bessern Stände pflegt, sobald sie losgelassen ist, weibliche Seelenstudien bei Kellnerinnen und denen, die nach ihnen kommen, zu machen. Das katzeu- jämmerliche Ergebnis dieser Studien ist in der Regel die blasirte Weisheit, daß „die Weiber" samt und sonders nichts taugen. Dieser Jugend könnte es wahrhaftig nichts schaden, wenn sie auf der Schule die genaue Bekanntschaft eines so starken Frauengemüts machte, wie es die edle Königstochter Gudrun hat, der man nicht, wie der griechischen Helena, nachsagen kann, daß sie den ganzen Spektakel eines Racheznges nicht wert gewesen sei. Und die sittliche Idee der Gudrun, daß frecher Raub geahndet werden muß, und sollte auch erst ein neues Geschlecht für die Rache erwachsen, sie hat sich uns in jüngster Vergangenheit noch in so weltgeschichtlicher Größe dargestellt, daß wir das unttelalterlichc Gedicht ruhig zur Nationnlepos des neuen deutschen Reiches machen könnten. Dazu müßten wirs aber erst lesen lernen. Dies Lesenlernen — mit dem auch nach und nach der Aberglaube schwinden möchte, mau könne deutsche Hexameter machen —, also die deutsche Grammatik, treibe mau um Gottes willen nicht an der Hand eines Spöte-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/227>, abgerufen am 01.09.2024.