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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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vom Mittelpunkte des Unterrichts

deutlichen Zwiespalt der Gefühle. Wenn Agamemnon unter den Troern wütet,
so laßt Vater Zeus dem Hektor rate:?, einstweilen hübsch nach Hause zu gehen,
bis jener ausgetobt habe. Und der Dichter findet nichts darin, daß der Held
den wohlwollenden Rat befolgt. Das nennt der Deutsche Feigheit und be¬
wundert das Gegenteil. Für den König Teja, der mit dem eignen Leibe die
Trümmer des Gotenvolks deckt, bis er zusammenbricht, begeistert sich ein
deutscher Junge sogar, wenn ihm dieser Held in Felix Dahns bramarbasi-
renden Marionettentheater aus der Völkerwanderung vorgeführt wird. Hektor
besinnt sich auch keinen Augenblick, dem waffenlosen und verwundeten Patroklos
seinen Speer durch den Leib zu rennen. Das ist rein menschlich, und schwer¬
lich wird sich im Krieg jemand seinen Gegner erst lange darauf ausehen, ob
er auch ausreichend gewaffnet sei, um Widerstand zu leisten. Aber wenn der
Markgraf Rüdiger seinem Feinde Hagen einen neuen Schild reicht, bevor er
ihn angreift, so ist das zwar keine gewöhnliche Handlungsweise, aber es ist
doch auch menschlich und streitet nicht im geringsten wider unsern Begriff von
Heldentum. Andrerseits ist die Ermordung Siegfrieds sicherlich eine unedle
That, aber sie wird auch bei ihrem wahren Namen genannt und zieht ent¬
sprechende Folgen nach sich. Dagegen daß Achilleus noch am Leichnam des
Feindes eine niedere Rache nimmt, wird zwar in einer formelhaften Wendung
als unwürdig bezeichnet, thut aber sonst seinem Heldentum weder bei Freund
noch Feind irgend welchen Eintrag. Wie aber soll sich ein deutscher Junge
zu solchem Heldentum stellen? Wenn er den Achill entschuldigt, so muß er
dem edelsten Helden der deutschen Sage, Dietrich von Bern, Fühllosigkeit vor¬
werfen. Denn dieser, weit entfernt, an Günther und Hagen Rache zu nehmen,
weil sie ihm seine Mannen in redlichem Kampf erschlugen, empfiehlt sie noch
der Kriemhild zu besondrer Huld. Aber was ist einem klassischen Philologen
Dietrich von Bern! Die nicht sehr ehrenwerte Art, wie Achilleus den Hektor
abmurkst -- das ist das einzig richtige Wort --, erleichtert dem deutscheu
Schüler auch nicht gerade die Entscheidung, welcher Partei er seine Sympathie
zuwenden soll. Genug, ohne noch die "Freundschaft" zwischen Achilleus und
Patroklos auf ihren ethischen Kern zu prüfen, können wir allgemein das
feststellen: die homerischen Sagen gehören einer verhältnismäßig rohen Kultur¬
periode an, die uur körperliche, nicht aber sittliche Tüchtigkeit keimt. Dies
prägt sich am schärfsten in den Göttergestalten aus, die noch weit mehr den
Charakter blinder Naturkräfte als der Personifikation sittlicher Mächte tragen.
Diese Götter, die sich ungezwungen wie Menschen geberden, und diese Menschen,
die noch gar nicht von der Kultur beleckt sind, haben dadurch einen besondern
Reiz für einen erwachsenen Mann, der die moderne Kultur einigermaßen be¬
herrscht. Für einen jugendlichen Menschen aber, dessen Charakter erst in der
Bildung begriffen ist, ist die Beschäftigung mit einer Gefühlswelt, der sittliche
Wertunterschiede durchaus fremd sind, das reine Gift. Es macht ihn irre an


vom Mittelpunkte des Unterrichts

deutlichen Zwiespalt der Gefühle. Wenn Agamemnon unter den Troern wütet,
so laßt Vater Zeus dem Hektor rate:?, einstweilen hübsch nach Hause zu gehen,
bis jener ausgetobt habe. Und der Dichter findet nichts darin, daß der Held
den wohlwollenden Rat befolgt. Das nennt der Deutsche Feigheit und be¬
wundert das Gegenteil. Für den König Teja, der mit dem eignen Leibe die
Trümmer des Gotenvolks deckt, bis er zusammenbricht, begeistert sich ein
deutscher Junge sogar, wenn ihm dieser Held in Felix Dahns bramarbasi-
renden Marionettentheater aus der Völkerwanderung vorgeführt wird. Hektor
besinnt sich auch keinen Augenblick, dem waffenlosen und verwundeten Patroklos
seinen Speer durch den Leib zu rennen. Das ist rein menschlich, und schwer¬
lich wird sich im Krieg jemand seinen Gegner erst lange darauf ausehen, ob
er auch ausreichend gewaffnet sei, um Widerstand zu leisten. Aber wenn der
Markgraf Rüdiger seinem Feinde Hagen einen neuen Schild reicht, bevor er
ihn angreift, so ist das zwar keine gewöhnliche Handlungsweise, aber es ist
doch auch menschlich und streitet nicht im geringsten wider unsern Begriff von
Heldentum. Andrerseits ist die Ermordung Siegfrieds sicherlich eine unedle
That, aber sie wird auch bei ihrem wahren Namen genannt und zieht ent¬
sprechende Folgen nach sich. Dagegen daß Achilleus noch am Leichnam des
Feindes eine niedere Rache nimmt, wird zwar in einer formelhaften Wendung
als unwürdig bezeichnet, thut aber sonst seinem Heldentum weder bei Freund
noch Feind irgend welchen Eintrag. Wie aber soll sich ein deutscher Junge
zu solchem Heldentum stellen? Wenn er den Achill entschuldigt, so muß er
dem edelsten Helden der deutschen Sage, Dietrich von Bern, Fühllosigkeit vor¬
werfen. Denn dieser, weit entfernt, an Günther und Hagen Rache zu nehmen,
weil sie ihm seine Mannen in redlichem Kampf erschlugen, empfiehlt sie noch
der Kriemhild zu besondrer Huld. Aber was ist einem klassischen Philologen
Dietrich von Bern! Die nicht sehr ehrenwerte Art, wie Achilleus den Hektor
abmurkst — das ist das einzig richtige Wort —, erleichtert dem deutscheu
Schüler auch nicht gerade die Entscheidung, welcher Partei er seine Sympathie
zuwenden soll. Genug, ohne noch die „Freundschaft" zwischen Achilleus und
Patroklos auf ihren ethischen Kern zu prüfen, können wir allgemein das
feststellen: die homerischen Sagen gehören einer verhältnismäßig rohen Kultur¬
periode an, die uur körperliche, nicht aber sittliche Tüchtigkeit keimt. Dies
prägt sich am schärfsten in den Göttergestalten aus, die noch weit mehr den
Charakter blinder Naturkräfte als der Personifikation sittlicher Mächte tragen.
Diese Götter, die sich ungezwungen wie Menschen geberden, und diese Menschen,
die noch gar nicht von der Kultur beleckt sind, haben dadurch einen besondern
Reiz für einen erwachsenen Mann, der die moderne Kultur einigermaßen be¬
herrscht. Für einen jugendlichen Menschen aber, dessen Charakter erst in der
Bildung begriffen ist, ist die Beschäftigung mit einer Gefühlswelt, der sittliche
Wertunterschiede durchaus fremd sind, das reine Gift. Es macht ihn irre an


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[0226] vom Mittelpunkte des Unterrichts deutlichen Zwiespalt der Gefühle. Wenn Agamemnon unter den Troern wütet, so laßt Vater Zeus dem Hektor rate:?, einstweilen hübsch nach Hause zu gehen, bis jener ausgetobt habe. Und der Dichter findet nichts darin, daß der Held den wohlwollenden Rat befolgt. Das nennt der Deutsche Feigheit und be¬ wundert das Gegenteil. Für den König Teja, der mit dem eignen Leibe die Trümmer des Gotenvolks deckt, bis er zusammenbricht, begeistert sich ein deutscher Junge sogar, wenn ihm dieser Held in Felix Dahns bramarbasi- renden Marionettentheater aus der Völkerwanderung vorgeführt wird. Hektor besinnt sich auch keinen Augenblick, dem waffenlosen und verwundeten Patroklos seinen Speer durch den Leib zu rennen. Das ist rein menschlich, und schwer¬ lich wird sich im Krieg jemand seinen Gegner erst lange darauf ausehen, ob er auch ausreichend gewaffnet sei, um Widerstand zu leisten. Aber wenn der Markgraf Rüdiger seinem Feinde Hagen einen neuen Schild reicht, bevor er ihn angreift, so ist das zwar keine gewöhnliche Handlungsweise, aber es ist doch auch menschlich und streitet nicht im geringsten wider unsern Begriff von Heldentum. Andrerseits ist die Ermordung Siegfrieds sicherlich eine unedle That, aber sie wird auch bei ihrem wahren Namen genannt und zieht ent¬ sprechende Folgen nach sich. Dagegen daß Achilleus noch am Leichnam des Feindes eine niedere Rache nimmt, wird zwar in einer formelhaften Wendung als unwürdig bezeichnet, thut aber sonst seinem Heldentum weder bei Freund noch Feind irgend welchen Eintrag. Wie aber soll sich ein deutscher Junge zu solchem Heldentum stellen? Wenn er den Achill entschuldigt, so muß er dem edelsten Helden der deutschen Sage, Dietrich von Bern, Fühllosigkeit vor¬ werfen. Denn dieser, weit entfernt, an Günther und Hagen Rache zu nehmen, weil sie ihm seine Mannen in redlichem Kampf erschlugen, empfiehlt sie noch der Kriemhild zu besondrer Huld. Aber was ist einem klassischen Philologen Dietrich von Bern! Die nicht sehr ehrenwerte Art, wie Achilleus den Hektor abmurkst — das ist das einzig richtige Wort —, erleichtert dem deutscheu Schüler auch nicht gerade die Entscheidung, welcher Partei er seine Sympathie zuwenden soll. Genug, ohne noch die „Freundschaft" zwischen Achilleus und Patroklos auf ihren ethischen Kern zu prüfen, können wir allgemein das feststellen: die homerischen Sagen gehören einer verhältnismäßig rohen Kultur¬ periode an, die uur körperliche, nicht aber sittliche Tüchtigkeit keimt. Dies prägt sich am schärfsten in den Göttergestalten aus, die noch weit mehr den Charakter blinder Naturkräfte als der Personifikation sittlicher Mächte tragen. Diese Götter, die sich ungezwungen wie Menschen geberden, und diese Menschen, die noch gar nicht von der Kultur beleckt sind, haben dadurch einen besondern Reiz für einen erwachsenen Mann, der die moderne Kultur einigermaßen be¬ herrscht. Für einen jugendlichen Menschen aber, dessen Charakter erst in der Bildung begriffen ist, ist die Beschäftigung mit einer Gefühlswelt, der sittliche Wertunterschiede durchaus fremd sind, das reine Gift. Es macht ihn irre an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/226>, abgerufen am 01.09.2024.