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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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vom Mittelpunkte des Unterrichts

und Sänger, bettelarm waren sie ja, an Titeln hatten sie anch nicht viel auf¬
zuweisen, und schreiben und lesen konnten sie nicht immer, aber trotzdem
sprachen sie ein richtigeres Deutsch als Sie mitsamt ihren vortragenden Räten
und sonstigen Ereellenzcn. Ihre Muttersprache war ihnen ein unerschöpflicher
Schatz, wie der Nibelungenhort; jahrhundertelang war er uns verborgen, und
nun er gehoben ist, wissen wir nichts damit anzufangen als ihn verständen
zu lassen in den dumpfen Stuben unsrer Gelehrten, Das muß aufhören.
Ausmünzen sollen wir das alte Gold, denn unsre Sprache leidet Maugel
daran. Freilich, man sieht es einem solchen Bändchen Gottfried von Straß-
burg nicht an, was darin steckt, wenn man es mißt an den viel hundert
Ellen Nennwert, die "unser" Julius Wolf von Weihnachten zu Weihnachten
abhaspelt. Aber den Julius Wolf haben all unsre höhern Söhne und Töchter
verschlungen, und haben doch nicht gelernt, gutes Deutsch von schlechtem zu unter¬
scheiden. Versuchen wirs also wenigstens einmal mit den Mittelhochdeutschen.
Wir können das ganz ruhig thun, ohne Gewissensbisse. Unsre Sextaner, die
unter der Tortur der lateinischen Formenlehre schmachten, werden aufatmen,
wenn sie statt ihrer die älteren Formen ihrer Muttersprache zu lernen be¬
kommen. Mit spielender Leichtigkeit wäre die Mittelstufe schon so weit zu
bringen, daß sie die Nibelungen, die Gudrun und Walther vou der Vogel-
weide lesen könnte. Dann aber fände sich vielleicht auch ein mutiger Mann,
der es unternähme, die Oberstufe zur Probe in das Althochdeutsche und
Gotische einzuführen. So gewönne man doch einige Erfahrung darüber, ob
wirklich die Götterdämmerung der modernen Kultur hereinbricht, wenn wir
es wagen, unsre Jugend in ihrer eignen Sprache annähernd so sorgfältig zu
unterweisen wie in den Sprachen längst dahingeschwundner Völker. Denn
sollte sich Wider Erwarten herausstellen, daß das deutsche Volkstum diesem
unerhörten Wagnis standhielte, so mochten sich daraus doch recht annehmbare
Vorteile ziehen lassen.

Zum Beispiel der, daß wir unsern Schülern eine Lektüre vorlegen könnten,
die ihrem Alter durchweg angemessen ist. Denn der Homer, man mag nun
über das Griechische als notwendiges Bildungselement denken, wie mau will,
der alte Homer ist doch nicht eigentlich ein Buch für die Jugend. Nicht etwa,
weil er mitunter natürliche Dinge beim rechten Namen nennt, bewahre. All¬
zuviel Prüderie im Unterricht halte ich für höchst schädlich. Nein, Homer ist
deshalb nichts für die Jugend, weil sie seine Größe gar nicht zu fassen ver¬
mag. Homer ist groß durch die Art seiner Schilderung; sieht man hiervon
ab, so bleibt von der ganzen Ilias nichts als eine wüste Schlächterei und ein
Haufe höchst fragwürdiger Charaktere. Man betrachte eine der köstlichsten
Szenen, die, wo Hera, mit Aphroditens Gürtel angethan, den Vater der Götter
und Menschen nach echtem Pariser Rezept hinters Licht führt, nebst dem fol¬
genden Wutausbruch des erwachten Gemahls, der sich geberdet wie ein ruf-


vom Mittelpunkte des Unterrichts

und Sänger, bettelarm waren sie ja, an Titeln hatten sie anch nicht viel auf¬
zuweisen, und schreiben und lesen konnten sie nicht immer, aber trotzdem
sprachen sie ein richtigeres Deutsch als Sie mitsamt ihren vortragenden Räten
und sonstigen Ereellenzcn. Ihre Muttersprache war ihnen ein unerschöpflicher
Schatz, wie der Nibelungenhort; jahrhundertelang war er uns verborgen, und
nun er gehoben ist, wissen wir nichts damit anzufangen als ihn verständen
zu lassen in den dumpfen Stuben unsrer Gelehrten, Das muß aufhören.
Ausmünzen sollen wir das alte Gold, denn unsre Sprache leidet Maugel
daran. Freilich, man sieht es einem solchen Bändchen Gottfried von Straß-
burg nicht an, was darin steckt, wenn man es mißt an den viel hundert
Ellen Nennwert, die „unser" Julius Wolf von Weihnachten zu Weihnachten
abhaspelt. Aber den Julius Wolf haben all unsre höhern Söhne und Töchter
verschlungen, und haben doch nicht gelernt, gutes Deutsch von schlechtem zu unter¬
scheiden. Versuchen wirs also wenigstens einmal mit den Mittelhochdeutschen.
Wir können das ganz ruhig thun, ohne Gewissensbisse. Unsre Sextaner, die
unter der Tortur der lateinischen Formenlehre schmachten, werden aufatmen,
wenn sie statt ihrer die älteren Formen ihrer Muttersprache zu lernen be¬
kommen. Mit spielender Leichtigkeit wäre die Mittelstufe schon so weit zu
bringen, daß sie die Nibelungen, die Gudrun und Walther vou der Vogel-
weide lesen könnte. Dann aber fände sich vielleicht auch ein mutiger Mann,
der es unternähme, die Oberstufe zur Probe in das Althochdeutsche und
Gotische einzuführen. So gewönne man doch einige Erfahrung darüber, ob
wirklich die Götterdämmerung der modernen Kultur hereinbricht, wenn wir
es wagen, unsre Jugend in ihrer eignen Sprache annähernd so sorgfältig zu
unterweisen wie in den Sprachen längst dahingeschwundner Völker. Denn
sollte sich Wider Erwarten herausstellen, daß das deutsche Volkstum diesem
unerhörten Wagnis standhielte, so mochten sich daraus doch recht annehmbare
Vorteile ziehen lassen.

Zum Beispiel der, daß wir unsern Schülern eine Lektüre vorlegen könnten,
die ihrem Alter durchweg angemessen ist. Denn der Homer, man mag nun
über das Griechische als notwendiges Bildungselement denken, wie mau will,
der alte Homer ist doch nicht eigentlich ein Buch für die Jugend. Nicht etwa,
weil er mitunter natürliche Dinge beim rechten Namen nennt, bewahre. All¬
zuviel Prüderie im Unterricht halte ich für höchst schädlich. Nein, Homer ist
deshalb nichts für die Jugend, weil sie seine Größe gar nicht zu fassen ver¬
mag. Homer ist groß durch die Art seiner Schilderung; sieht man hiervon
ab, so bleibt von der ganzen Ilias nichts als eine wüste Schlächterei und ein
Haufe höchst fragwürdiger Charaktere. Man betrachte eine der köstlichsten
Szenen, die, wo Hera, mit Aphroditens Gürtel angethan, den Vater der Götter
und Menschen nach echtem Pariser Rezept hinters Licht führt, nebst dem fol¬
genden Wutausbruch des erwachten Gemahls, der sich geberdet wie ein ruf-


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[0224] vom Mittelpunkte des Unterrichts und Sänger, bettelarm waren sie ja, an Titeln hatten sie anch nicht viel auf¬ zuweisen, und schreiben und lesen konnten sie nicht immer, aber trotzdem sprachen sie ein richtigeres Deutsch als Sie mitsamt ihren vortragenden Räten und sonstigen Ereellenzcn. Ihre Muttersprache war ihnen ein unerschöpflicher Schatz, wie der Nibelungenhort; jahrhundertelang war er uns verborgen, und nun er gehoben ist, wissen wir nichts damit anzufangen als ihn verständen zu lassen in den dumpfen Stuben unsrer Gelehrten, Das muß aufhören. Ausmünzen sollen wir das alte Gold, denn unsre Sprache leidet Maugel daran. Freilich, man sieht es einem solchen Bändchen Gottfried von Straß- burg nicht an, was darin steckt, wenn man es mißt an den viel hundert Ellen Nennwert, die „unser" Julius Wolf von Weihnachten zu Weihnachten abhaspelt. Aber den Julius Wolf haben all unsre höhern Söhne und Töchter verschlungen, und haben doch nicht gelernt, gutes Deutsch von schlechtem zu unter¬ scheiden. Versuchen wirs also wenigstens einmal mit den Mittelhochdeutschen. Wir können das ganz ruhig thun, ohne Gewissensbisse. Unsre Sextaner, die unter der Tortur der lateinischen Formenlehre schmachten, werden aufatmen, wenn sie statt ihrer die älteren Formen ihrer Muttersprache zu lernen be¬ kommen. Mit spielender Leichtigkeit wäre die Mittelstufe schon so weit zu bringen, daß sie die Nibelungen, die Gudrun und Walther vou der Vogel- weide lesen könnte. Dann aber fände sich vielleicht auch ein mutiger Mann, der es unternähme, die Oberstufe zur Probe in das Althochdeutsche und Gotische einzuführen. So gewönne man doch einige Erfahrung darüber, ob wirklich die Götterdämmerung der modernen Kultur hereinbricht, wenn wir es wagen, unsre Jugend in ihrer eignen Sprache annähernd so sorgfältig zu unterweisen wie in den Sprachen längst dahingeschwundner Völker. Denn sollte sich Wider Erwarten herausstellen, daß das deutsche Volkstum diesem unerhörten Wagnis standhielte, so mochten sich daraus doch recht annehmbare Vorteile ziehen lassen. Zum Beispiel der, daß wir unsern Schülern eine Lektüre vorlegen könnten, die ihrem Alter durchweg angemessen ist. Denn der Homer, man mag nun über das Griechische als notwendiges Bildungselement denken, wie mau will, der alte Homer ist doch nicht eigentlich ein Buch für die Jugend. Nicht etwa, weil er mitunter natürliche Dinge beim rechten Namen nennt, bewahre. All¬ zuviel Prüderie im Unterricht halte ich für höchst schädlich. Nein, Homer ist deshalb nichts für die Jugend, weil sie seine Größe gar nicht zu fassen ver¬ mag. Homer ist groß durch die Art seiner Schilderung; sieht man hiervon ab, so bleibt von der ganzen Ilias nichts als eine wüste Schlächterei und ein Haufe höchst fragwürdiger Charaktere. Man betrachte eine der köstlichsten Szenen, die, wo Hera, mit Aphroditens Gürtel angethan, den Vater der Götter und Menschen nach echtem Pariser Rezept hinters Licht führt, nebst dem fol¬ genden Wutausbruch des erwachten Gemahls, der sich geberdet wie ein ruf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/224>, abgerufen am 01.09.2024.