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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

Tadeln muß ich Phvibos wohl!
Was fällt ihm ein? Jungfraun freit er mit Gewalt
Und läßt sie ziehn! Zeugt heimlich Kinder und verläßt
Sie sterbend! Thu nicht also! Wurde dir die Macht,
Üb auch die Tugend! Strafen ja die Götter auch,
Wenn eins der Menschenkinder schlimm geartet ist.
Wie wär es billig, daß ihr uns Gesetze gebt
Und selbst gesetzlos gleiches Fehis euch schuldig macht?
Wenn ihr -- geschehn wirds nimmermehr, ich sag es nur --
Für jeden Notzwang Buße gäbe den Sterblichen,
Du, wie Poseidon oder Zeus, des Himmels Herr,
Ihr leertet, Unrecht büßend, eure Tempel aus!
Denn Frevel ist es, daß ihr erst den Lüsten fröhnt,
Bevor ihr überleget. Nie geziemt es mehr,
Zu schelten, wenn wir Böses, das die Götter thun,
Nachahmen; scheltet jene, die es uns gelehrt!

Zu beachten ist auch, wie zartfühlend Joll, als er an die Mutter ähnliche
Fragen wie an den Vater zu stellen hat, ihr das Peinliche ins Ohr flüstert.
Jungfrauen ziemt es, uach Ansicht deS Euripides, überhaupt nicht, dergleichen
zu besprechen oder auch nur zu hören. Im Orestes erzählt Elektra, wie die
Mutter deu Vater gemordet habe, und fügt dann hinzu: "Nicht der Jungfrau
zicmts, den Grund zu sagen, dieses Dunkel hell ein andrer auf!" Und in der
Iphigenie auf Tauris, wo Orest der erzählende ist, und Iphigenie uach dem
Grunde fragt, weshalb Klytaimnestra deu Gatten ermordet habe, da schließt
er ihr den Mund mit dem Wort: "Laß doch die Mutter! Dir ja frommt die
Kunde nicht."

Ein Ideal gegenseitiger Liebe und Treue in der Ehe stellt uns Euripides
in der Tragödie Alkestis dar. Admet kann nur dadurch vom Tode gerettet
werden, daß ein andrer für ihn stirbt. Seine Eltern haben sich geweigert,
auf das Restchen ihres freudlosen Greiseillebens zu verzichten, da hat sich denu
die Gattin Alkestis zu dem Opfer entschlossen. Schon harrt der Gott des
Todes vor der Thür. Das ganze Haus jammert über den bevorstehenden
Verlust der geliebten Herrin. Sie selbst aber nimmt Abschied vom Gemahl,
von den Kindern, vom Hausgesinde, vom Leben; jeden Altar bekränzt sie und
fleht laut die Götter an.


Hierauf zum Ehbett eilte sie in ihr Gemach,

Ergoß sich dort in Thränen, und so sagte sie:

"O Lager, wo des Mädchens reine Blüte sich

Zuerst ergab dem Manne, dem ich sterbe um,

Leb wohl! Ich zürne dir ja nicht, denn mich allein

Verdarbst dn, weil ich, treu verharrend dir und ihm,

Den Tod erdulde. Dich gewinnt ein andres Weib,

Nicht tugendhafter wahrlich, doch wohl glücklicher."

Und küssend sank sie nieder, rings befeuchtete

Der Thränen überflutend Naß die Lagerstatt.


Die ätherische Volksmoral im Drama

Tadeln muß ich Phvibos wohl!
Was fällt ihm ein? Jungfraun freit er mit Gewalt
Und läßt sie ziehn! Zeugt heimlich Kinder und verläßt
Sie sterbend! Thu nicht also! Wurde dir die Macht,
Üb auch die Tugend! Strafen ja die Götter auch,
Wenn eins der Menschenkinder schlimm geartet ist.
Wie wär es billig, daß ihr uns Gesetze gebt
Und selbst gesetzlos gleiches Fehis euch schuldig macht?
Wenn ihr — geschehn wirds nimmermehr, ich sag es nur —
Für jeden Notzwang Buße gäbe den Sterblichen,
Du, wie Poseidon oder Zeus, des Himmels Herr,
Ihr leertet, Unrecht büßend, eure Tempel aus!
Denn Frevel ist es, daß ihr erst den Lüsten fröhnt,
Bevor ihr überleget. Nie geziemt es mehr,
Zu schelten, wenn wir Böses, das die Götter thun,
Nachahmen; scheltet jene, die es uns gelehrt!

Zu beachten ist auch, wie zartfühlend Joll, als er an die Mutter ähnliche
Fragen wie an den Vater zu stellen hat, ihr das Peinliche ins Ohr flüstert.
Jungfrauen ziemt es, uach Ansicht deS Euripides, überhaupt nicht, dergleichen
zu besprechen oder auch nur zu hören. Im Orestes erzählt Elektra, wie die
Mutter deu Vater gemordet habe, und fügt dann hinzu: „Nicht der Jungfrau
zicmts, den Grund zu sagen, dieses Dunkel hell ein andrer auf!" Und in der
Iphigenie auf Tauris, wo Orest der erzählende ist, und Iphigenie uach dem
Grunde fragt, weshalb Klytaimnestra deu Gatten ermordet habe, da schließt
er ihr den Mund mit dem Wort: „Laß doch die Mutter! Dir ja frommt die
Kunde nicht."

Ein Ideal gegenseitiger Liebe und Treue in der Ehe stellt uns Euripides
in der Tragödie Alkestis dar. Admet kann nur dadurch vom Tode gerettet
werden, daß ein andrer für ihn stirbt. Seine Eltern haben sich geweigert,
auf das Restchen ihres freudlosen Greiseillebens zu verzichten, da hat sich denu
die Gattin Alkestis zu dem Opfer entschlossen. Schon harrt der Gott des
Todes vor der Thür. Das ganze Haus jammert über den bevorstehenden
Verlust der geliebten Herrin. Sie selbst aber nimmt Abschied vom Gemahl,
von den Kindern, vom Hausgesinde, vom Leben; jeden Altar bekränzt sie und
fleht laut die Götter an.


Hierauf zum Ehbett eilte sie in ihr Gemach,

Ergoß sich dort in Thränen, und so sagte sie:

„O Lager, wo des Mädchens reine Blüte sich

Zuerst ergab dem Manne, dem ich sterbe um,

Leb wohl! Ich zürne dir ja nicht, denn mich allein

Verdarbst dn, weil ich, treu verharrend dir und ihm,

Den Tod erdulde. Dich gewinnt ein andres Weib,

Nicht tugendhafter wahrlich, doch wohl glücklicher."

Und küssend sank sie nieder, rings befeuchtete

Der Thränen überflutend Naß die Lagerstatt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/218>, abgerufen am 24.11.2024.