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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Ausnahmefall. Erst als die Sophistik den Glauben an die unbedingte Giltigkeit
des Sittengesetzes untergraben hatte, mögen es einzelne Söhne gewagt haben,
ihre Eltern zu mißhandeln, wie Pheidippides in den Wolken, der sein Recht
dazu haarscharf beweist und das Gebot, die Eltern zu ehren, für eine Menschen-
satzuug erklärt, die, gleich allen Menschensatzungen, willkürlich geändert werden
könne; ein göttliches Gesetz gebe es nicht mehr, da es ja keine Götter mehr
gebe, sondern nur noch Naturgewalten, König Zeus vom "König Umschwung"
abgesetzt sei. Freilich geschieht dem alten Strcpsiades ganz Recht; hat er doch
selber den Sohn zu den Sophisten in die Lehre geschickt, damit er dort lerne,
wie man die Gläubiger betrügen könne, und wiederum geschieht auch den
Sophisten Recht, als der über den Erfolg ihres Unterrichts wütend gewordne
Bauer ihnen ihre Bude, "die Denkerei," über dem Kopfe anzündet. In den
Vögeln läßt Aristophanes einen ungeratnen Sohn mit der Bitte um Aufnahme
nach Wolkenkuknksheim kommen, dem an den Vögelsitten namentlich dieses ge¬
füllt, daß die Vögel "deu für wacker halten, der den Vater würgt und beißt."
Darauf erwidert Peisthetairos:


Gut! Doch wir Vögel haben auch ein alt Gesetz,
Das auf der Störche Tafeln steht seit grauer Zeit:
"Nachdem der alte Vater Storch die Störchlinge
Hercmgeuährt hat alle, bis sie flügge sind,
Dann soll die Brut den Vater nähren wiederum."

So hatte nämlich Solon verordnet. Das Früchtchen ruft:


Da hätt ich einen schönen Lohn für meinen Weg,
Wenn ich den Vater hier sogar noch füttern soll!

Peisthetairos möchte aber doch den neu gewonnenen Vogel nicht gern entfliegen
lassen und erwidert daher beschwichtigend:


Mit nichten, Armer; weil du kamst als unser Freund,
Will ich als Waisenoogel dich befitticheu.
Erst aber, Jüngling, livre noch den guten Rat,
Den mir die Leute gaben, als ich Knabe war:
Mißhandle deinen Bater nicht!

Junige Liebe zum Großvater und Scheu vor ihm läßt Euripides seinen Orest
in dem gleichnamigen Stücke ausdrücken. Als dieser nach vollbrachter Unthat
den Thndnreos nahen sieht, spricht er:


Ich bin verloren! Hier ja kommt Tyndcireos
Hcraugeschritteu, und vor allen scheu ich ihm
Börs Angesicht zu kommen, weil ich solches that.
Er zog mich ans als Knaben und bedeckte mir
Den Mund mit seinen Küssen oft, Agamenmons Kind
Auf seinen Armen tragend, hat mit Leda mich
Nicht minder als die Dioskuren selbst geliebt.
Ich hab -- o meine Seele, schwer bedrängtes Herz! --
Nicht schön es ihm vergolten! Wo verberg ich doch

Ausnahmefall. Erst als die Sophistik den Glauben an die unbedingte Giltigkeit
des Sittengesetzes untergraben hatte, mögen es einzelne Söhne gewagt haben,
ihre Eltern zu mißhandeln, wie Pheidippides in den Wolken, der sein Recht
dazu haarscharf beweist und das Gebot, die Eltern zu ehren, für eine Menschen-
satzuug erklärt, die, gleich allen Menschensatzungen, willkürlich geändert werden
könne; ein göttliches Gesetz gebe es nicht mehr, da es ja keine Götter mehr
gebe, sondern nur noch Naturgewalten, König Zeus vom „König Umschwung"
abgesetzt sei. Freilich geschieht dem alten Strcpsiades ganz Recht; hat er doch
selber den Sohn zu den Sophisten in die Lehre geschickt, damit er dort lerne,
wie man die Gläubiger betrügen könne, und wiederum geschieht auch den
Sophisten Recht, als der über den Erfolg ihres Unterrichts wütend gewordne
Bauer ihnen ihre Bude, „die Denkerei," über dem Kopfe anzündet. In den
Vögeln läßt Aristophanes einen ungeratnen Sohn mit der Bitte um Aufnahme
nach Wolkenkuknksheim kommen, dem an den Vögelsitten namentlich dieses ge¬
füllt, daß die Vögel „deu für wacker halten, der den Vater würgt und beißt."
Darauf erwidert Peisthetairos:


Gut! Doch wir Vögel haben auch ein alt Gesetz,
Das auf der Störche Tafeln steht seit grauer Zeit:
„Nachdem der alte Vater Storch die Störchlinge
Hercmgeuährt hat alle, bis sie flügge sind,
Dann soll die Brut den Vater nähren wiederum."

So hatte nämlich Solon verordnet. Das Früchtchen ruft:


Da hätt ich einen schönen Lohn für meinen Weg,
Wenn ich den Vater hier sogar noch füttern soll!

Peisthetairos möchte aber doch den neu gewonnenen Vogel nicht gern entfliegen
lassen und erwidert daher beschwichtigend:


Mit nichten, Armer; weil du kamst als unser Freund,
Will ich als Waisenoogel dich befitticheu.
Erst aber, Jüngling, livre noch den guten Rat,
Den mir die Leute gaben, als ich Knabe war:
Mißhandle deinen Bater nicht!

Junige Liebe zum Großvater und Scheu vor ihm läßt Euripides seinen Orest
in dem gleichnamigen Stücke ausdrücken. Als dieser nach vollbrachter Unthat
den Thndnreos nahen sieht, spricht er:


Ich bin verloren! Hier ja kommt Tyndcireos
Hcraugeschritteu, und vor allen scheu ich ihm
Börs Angesicht zu kommen, weil ich solches that.
Er zog mich ans als Knaben und bedeckte mir
Den Mund mit seinen Küssen oft, Agamenmons Kind
Auf seinen Armen tragend, hat mit Leda mich
Nicht minder als die Dioskuren selbst geliebt.
Ich hab — o meine Seele, schwer bedrängtes Herz! —
Nicht schön es ihm vergolten! Wo verberg ich doch

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[0214] Ausnahmefall. Erst als die Sophistik den Glauben an die unbedingte Giltigkeit des Sittengesetzes untergraben hatte, mögen es einzelne Söhne gewagt haben, ihre Eltern zu mißhandeln, wie Pheidippides in den Wolken, der sein Recht dazu haarscharf beweist und das Gebot, die Eltern zu ehren, für eine Menschen- satzuug erklärt, die, gleich allen Menschensatzungen, willkürlich geändert werden könne; ein göttliches Gesetz gebe es nicht mehr, da es ja keine Götter mehr gebe, sondern nur noch Naturgewalten, König Zeus vom „König Umschwung" abgesetzt sei. Freilich geschieht dem alten Strcpsiades ganz Recht; hat er doch selber den Sohn zu den Sophisten in die Lehre geschickt, damit er dort lerne, wie man die Gläubiger betrügen könne, und wiederum geschieht auch den Sophisten Recht, als der über den Erfolg ihres Unterrichts wütend gewordne Bauer ihnen ihre Bude, „die Denkerei," über dem Kopfe anzündet. In den Vögeln läßt Aristophanes einen ungeratnen Sohn mit der Bitte um Aufnahme nach Wolkenkuknksheim kommen, dem an den Vögelsitten namentlich dieses ge¬ füllt, daß die Vögel „deu für wacker halten, der den Vater würgt und beißt." Darauf erwidert Peisthetairos: Gut! Doch wir Vögel haben auch ein alt Gesetz, Das auf der Störche Tafeln steht seit grauer Zeit: „Nachdem der alte Vater Storch die Störchlinge Hercmgeuährt hat alle, bis sie flügge sind, Dann soll die Brut den Vater nähren wiederum." So hatte nämlich Solon verordnet. Das Früchtchen ruft: Da hätt ich einen schönen Lohn für meinen Weg, Wenn ich den Vater hier sogar noch füttern soll! Peisthetairos möchte aber doch den neu gewonnenen Vogel nicht gern entfliegen lassen und erwidert daher beschwichtigend: Mit nichten, Armer; weil du kamst als unser Freund, Will ich als Waisenoogel dich befitticheu. Erst aber, Jüngling, livre noch den guten Rat, Den mir die Leute gaben, als ich Knabe war: Mißhandle deinen Bater nicht! Junige Liebe zum Großvater und Scheu vor ihm läßt Euripides seinen Orest in dem gleichnamigen Stücke ausdrücken. Als dieser nach vollbrachter Unthat den Thndnreos nahen sieht, spricht er: Ich bin verloren! Hier ja kommt Tyndcireos Hcraugeschritteu, und vor allen scheu ich ihm Börs Angesicht zu kommen, weil ich solches that. Er zog mich ans als Knaben und bedeckte mir Den Mund mit seinen Küssen oft, Agamenmons Kind Auf seinen Armen tragend, hat mit Leda mich Nicht minder als die Dioskuren selbst geliebt. Ich hab — o meine Seele, schwer bedrängtes Herz! — Nicht schön es ihm vergolten! Wo verberg ich doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/214>, abgerufen am 24.11.2024.