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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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liebe religiöse Handlung ist. Aber gerade die Feierlichkeit kommt nicht ge¬
nügend zur Geltung bei dem Fahneneid, wie er heute beschaffen ist, oder viel¬
mehr bei den Schwörenden, wie sie heute beschaffen sind. Nur allzu sehr
wird man gerade bei der Abnahme des Fahneneides, besonders in einer größern
Garnison, an die Kleinstaaterei in unserm lieben Vaterlande erinnert. Es ist
denkbar, daß bei einer einzigen Eidesleistung der Rekruten im Kasernenhofe
nicht weniger als sechzig- bis achtzigmal der Eid abgenommen werden muß.
Jeder Angehörige eines Bundesstaats muß nämlich den Fahneneid in der
Weise ablegen, daß er dem Kaiser unbedingten Gehorsam und seinem besondern
Staatsoberhaupt (der Rekrut aus den freien Städten seinem Senat) treu
und redlich zu dienen gelobt. Für die Preußen füllt selbstverständlich die Er¬
wähnung des Kaisers im Fahneneide weg. Der Eid lautet also für einen
Preußen anders als für einen Hessen oder einen Hamburger. Da nun das
deutsche Reich ans sechsundzwanzig besondern Staatsgebieten besteht, kann der
Fall eintreten, daß Angehörige aller dieser Staaten in einer Garnison, ja
vielleicht bei einem Truppenteil dienen müssen. Ein Württemberger steht
vielleicht in Arbeit in einem thüringischen Ort; fällt das in das Alter, wo
er heerespslichtig wird, so wird er nicht in einem württembergischen Truppen¬
teil eingestellt, sondern in dem, der gerade ans dein Musterungsbezirke, in
dem der Heerespflichtige gemustert wurde, seinen Ersatz zieht. In Gegenden,
wo viel Industrie getrieben wird, ebenso in den großen Städten, sind heut¬
zutage Angehörige aller deutschen Staaten zu finden. So ist es gar nicht
unwahrscheinlich, daß sich einmal Angehörige aller sechsundzwanzig deutschen
Staate" bei der Rekruteneidesleistung im Gotteshause zusammenfinden. Die
Zahl der Eide erhöht sich aber noch, wenn man bedenkt, daß eine große
Anzahl Heerespflichtiger nicht der deutschen Sprache mächtig ist. Zahlreich
sind die Rekruten polnischer Zunge; aber auch solche, die nur wendisch oder
litauisch, auch solche, die nur französisch verstehen, werden eingestellt. So
können sich noch vier fremdsprachige Eidesleistungen zu jenen sechsundzwanzig
hinzugesellen, und die auf diese Weise sich ergebenden dreißig Eide verdoppeln
sich, wenn man bedenkt, daß der Protestant seine Eidesformel anders schließt
als der Katholik. Endlich stellt auch das Judentum eine große Anzahl Re¬
kruten, ganz abgesehen bon den Mennoniten, denen kein eigentlicher Eid ab¬
genommen werden darf. Jedenfalls muß ein so überaus häufig wiederholtes
Abnehmen des Eides auf alle Beteiligten ermüdend wirken. Dadurch erleidet
aber die Feierlichkeit der Handlung Einbuße.

Gewandte Offiziere wissen sich zu helfen: sie sorgen dafür, daß die Re¬
kruten je nach ihrer Staatsangehörigkeit geordnet ausgestellt werden. Da¬
durch wird es möglich, die Eidesformel, so weit sie für alle zu vereidigenden
gleichen Wortlaut hat, von allen gemeinsam, dann von den Gruppen einzeln
was für jede passend ist, zuletzt von den Protestanten, endlich von den Katho-


liebe religiöse Handlung ist. Aber gerade die Feierlichkeit kommt nicht ge¬
nügend zur Geltung bei dem Fahneneid, wie er heute beschaffen ist, oder viel¬
mehr bei den Schwörenden, wie sie heute beschaffen sind. Nur allzu sehr
wird man gerade bei der Abnahme des Fahneneides, besonders in einer größern
Garnison, an die Kleinstaaterei in unserm lieben Vaterlande erinnert. Es ist
denkbar, daß bei einer einzigen Eidesleistung der Rekruten im Kasernenhofe
nicht weniger als sechzig- bis achtzigmal der Eid abgenommen werden muß.
Jeder Angehörige eines Bundesstaats muß nämlich den Fahneneid in der
Weise ablegen, daß er dem Kaiser unbedingten Gehorsam und seinem besondern
Staatsoberhaupt (der Rekrut aus den freien Städten seinem Senat) treu
und redlich zu dienen gelobt. Für die Preußen füllt selbstverständlich die Er¬
wähnung des Kaisers im Fahneneide weg. Der Eid lautet also für einen
Preußen anders als für einen Hessen oder einen Hamburger. Da nun das
deutsche Reich ans sechsundzwanzig besondern Staatsgebieten besteht, kann der
Fall eintreten, daß Angehörige aller dieser Staaten in einer Garnison, ja
vielleicht bei einem Truppenteil dienen müssen. Ein Württemberger steht
vielleicht in Arbeit in einem thüringischen Ort; fällt das in das Alter, wo
er heerespslichtig wird, so wird er nicht in einem württembergischen Truppen¬
teil eingestellt, sondern in dem, der gerade ans dein Musterungsbezirke, in
dem der Heerespflichtige gemustert wurde, seinen Ersatz zieht. In Gegenden,
wo viel Industrie getrieben wird, ebenso in den großen Städten, sind heut¬
zutage Angehörige aller deutschen Staaten zu finden. So ist es gar nicht
unwahrscheinlich, daß sich einmal Angehörige aller sechsundzwanzig deutschen
Staate» bei der Rekruteneidesleistung im Gotteshause zusammenfinden. Die
Zahl der Eide erhöht sich aber noch, wenn man bedenkt, daß eine große
Anzahl Heerespflichtiger nicht der deutschen Sprache mächtig ist. Zahlreich
sind die Rekruten polnischer Zunge; aber auch solche, die nur wendisch oder
litauisch, auch solche, die nur französisch verstehen, werden eingestellt. So
können sich noch vier fremdsprachige Eidesleistungen zu jenen sechsundzwanzig
hinzugesellen, und die auf diese Weise sich ergebenden dreißig Eide verdoppeln
sich, wenn man bedenkt, daß der Protestant seine Eidesformel anders schließt
als der Katholik. Endlich stellt auch das Judentum eine große Anzahl Re¬
kruten, ganz abgesehen bon den Mennoniten, denen kein eigentlicher Eid ab¬
genommen werden darf. Jedenfalls muß ein so überaus häufig wiederholtes
Abnehmen des Eides auf alle Beteiligten ermüdend wirken. Dadurch erleidet
aber die Feierlichkeit der Handlung Einbuße.

Gewandte Offiziere wissen sich zu helfen: sie sorgen dafür, daß die Re¬
kruten je nach ihrer Staatsangehörigkeit geordnet ausgestellt werden. Da¬
durch wird es möglich, die Eidesformel, so weit sie für alle zu vereidigenden
gleichen Wortlaut hat, von allen gemeinsam, dann von den Gruppen einzeln
was für jede passend ist, zuletzt von den Protestanten, endlich von den Katho-


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[0203] liebe religiöse Handlung ist. Aber gerade die Feierlichkeit kommt nicht ge¬ nügend zur Geltung bei dem Fahneneid, wie er heute beschaffen ist, oder viel¬ mehr bei den Schwörenden, wie sie heute beschaffen sind. Nur allzu sehr wird man gerade bei der Abnahme des Fahneneides, besonders in einer größern Garnison, an die Kleinstaaterei in unserm lieben Vaterlande erinnert. Es ist denkbar, daß bei einer einzigen Eidesleistung der Rekruten im Kasernenhofe nicht weniger als sechzig- bis achtzigmal der Eid abgenommen werden muß. Jeder Angehörige eines Bundesstaats muß nämlich den Fahneneid in der Weise ablegen, daß er dem Kaiser unbedingten Gehorsam und seinem besondern Staatsoberhaupt (der Rekrut aus den freien Städten seinem Senat) treu und redlich zu dienen gelobt. Für die Preußen füllt selbstverständlich die Er¬ wähnung des Kaisers im Fahneneide weg. Der Eid lautet also für einen Preußen anders als für einen Hessen oder einen Hamburger. Da nun das deutsche Reich ans sechsundzwanzig besondern Staatsgebieten besteht, kann der Fall eintreten, daß Angehörige aller dieser Staaten in einer Garnison, ja vielleicht bei einem Truppenteil dienen müssen. Ein Württemberger steht vielleicht in Arbeit in einem thüringischen Ort; fällt das in das Alter, wo er heerespslichtig wird, so wird er nicht in einem württembergischen Truppen¬ teil eingestellt, sondern in dem, der gerade ans dein Musterungsbezirke, in dem der Heerespflichtige gemustert wurde, seinen Ersatz zieht. In Gegenden, wo viel Industrie getrieben wird, ebenso in den großen Städten, sind heut¬ zutage Angehörige aller deutschen Staaten zu finden. So ist es gar nicht unwahrscheinlich, daß sich einmal Angehörige aller sechsundzwanzig deutschen Staate» bei der Rekruteneidesleistung im Gotteshause zusammenfinden. Die Zahl der Eide erhöht sich aber noch, wenn man bedenkt, daß eine große Anzahl Heerespflichtiger nicht der deutschen Sprache mächtig ist. Zahlreich sind die Rekruten polnischer Zunge; aber auch solche, die nur wendisch oder litauisch, auch solche, die nur französisch verstehen, werden eingestellt. So können sich noch vier fremdsprachige Eidesleistungen zu jenen sechsundzwanzig hinzugesellen, und die auf diese Weise sich ergebenden dreißig Eide verdoppeln sich, wenn man bedenkt, daß der Protestant seine Eidesformel anders schließt als der Katholik. Endlich stellt auch das Judentum eine große Anzahl Re¬ kruten, ganz abgesehen bon den Mennoniten, denen kein eigentlicher Eid ab¬ genommen werden darf. Jedenfalls muß ein so überaus häufig wiederholtes Abnehmen des Eides auf alle Beteiligten ermüdend wirken. Dadurch erleidet aber die Feierlichkeit der Handlung Einbuße. Gewandte Offiziere wissen sich zu helfen: sie sorgen dafür, daß die Re¬ kruten je nach ihrer Staatsangehörigkeit geordnet ausgestellt werden. Da¬ durch wird es möglich, die Eidesformel, so weit sie für alle zu vereidigenden gleichen Wortlaut hat, von allen gemeinsam, dann von den Gruppen einzeln was für jede passend ist, zuletzt von den Protestanten, endlich von den Katho-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/203>, abgerufen am 01.09.2024.