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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Zolas neuester Roman

Um das große Gesetz der Vererbung, das in seinen Romanen die Haupt¬
rolle spielt, offen und übersichtlich darzulegen, hat Zola seinem neuesten Werke
einen Stammbaum, un ardrs " ^nvaloAicius, der Familie Rougon-Maeauart
vorangestellt. Dieser Stammbaum ist das Lebenswerk des Arztes Pascal
Rougon. Pascal hat sich mit einem anständigen Vermögen aus Paris zurück¬
gezogen und sich in der Nähe seiner Vaterstadt Plasfans angekauft. Auf seinem
kleinen Landsitz Loulsmäs lebt er still und zurückgezogen mit seiner fünf¬
undzwanzigjährigen Nichte Klotilde und der frommen Haushälterin Martine.
Er hat Plasfans zu seinem Wohnsitz erwählt, weil ihm dort die Familien der
Bewohner durch verschiedne Geschlechter bekannt sind, und er auf Grund dieser
Kenntnisse seine Studie" über die Vererbung erweitern und vertiefen möchte.
Die sicherste Grundlage für seine Lehren bietet ihm aber die eigne Familie.
Er hat über den Charakter, das Wesen und die Fähigkeiten jedes Gliedes der
Nougon-Macquart genau Buch geführt. Jedes Mitglied hat besondre Per¬
sonalakten, in die alle Ereignisse und Wahrnehmungen, immer mit Rücksicht
auf die Vererbung, eingetragen werden. Aus alleu Personalakten hat er dann
einen allgemeinen Stammbaum zusammengestellt, wo jeder Zweig seine bestimmte
Charakteristik erhalten hat.

Es giebt nach seiner Ansicht vier Fälle der Vererbung: die unmittelbare,
die von den Eltern ausgeht; die mittelbare, die von den Verwandten herrührt;
die wiederkehrende, die sprungweise in verschiednen Geschlechtern auftritt; end¬
lich die beeinflußte, die z. B. dann erscheint, wenn eine Witwe wieder heiratet
und ihre Kinder doch nach dem ersten Gatten schlagen. Der usrsäitv gegen¬
über stellt Pascal die innuitv, durch die, wie in der Chemie, aus zwei Stoffen
ein neuer entsteht, der mit keinem von beiden Ähnlichkeit hat. Der alte Arzt
glaubt zu seiner Beruhigung und Freude zu erkennen, daß sein Wesen nicht
das Ergebnis einer Vererbung, sondern einer chemischen Neubildung sei, und
daß er von den verderblichen Anlagen und Fehlern seiner Ahnen frei sei. Bei
seiner Nichte Klotide Rvngon stellt er mathematisch genau fest, daß bei ihr
eine wiederkehrende Vererbung, 1'lloröÄitv rötonr, eingetreten ist, aber nicht
aus der kranken, belasteten Familie Rougon, sondern aus der frischen, ge¬
stunden, lebensvollen Familie ihrer Mutter Augvle Sicardot. Abgesehen von
dem Bauern Jean Macquart, den wir aus 1^ vvlmols kennen, sind also
Pascal und Klotilde die einzigen Glieder der Familie, von der eine gesunde,
fortpflanzungsfähige Nachkommenschaft erwartet werden könnte. So oft der
sechzigjährige Pascal den Stammbaum studirt, bleiben seine nach frischem Leben
spähenden Blicke auf Klotilde haften. Studium und Schüchternheit haben ihn
zum alten Junggesellen gemacht. Nun fühlt er in seinen hohen Jahren noch
einmal einen warmen Strom der Liebe durch seine Adern rollen. Ein Kind
von Klotilde zu haben, erscheint ihm mit einemmale als sein höchster Lebens¬
zweck, als der Triumph seines Daseins. Aber Klotilde hält sich fern von ihm.


Zolas neuester Roman

Um das große Gesetz der Vererbung, das in seinen Romanen die Haupt¬
rolle spielt, offen und übersichtlich darzulegen, hat Zola seinem neuesten Werke
einen Stammbaum, un ardrs « ^nvaloAicius, der Familie Rougon-Maeauart
vorangestellt. Dieser Stammbaum ist das Lebenswerk des Arztes Pascal
Rougon. Pascal hat sich mit einem anständigen Vermögen aus Paris zurück¬
gezogen und sich in der Nähe seiner Vaterstadt Plasfans angekauft. Auf seinem
kleinen Landsitz Loulsmäs lebt er still und zurückgezogen mit seiner fünf¬
undzwanzigjährigen Nichte Klotilde und der frommen Haushälterin Martine.
Er hat Plasfans zu seinem Wohnsitz erwählt, weil ihm dort die Familien der
Bewohner durch verschiedne Geschlechter bekannt sind, und er auf Grund dieser
Kenntnisse seine Studie» über die Vererbung erweitern und vertiefen möchte.
Die sicherste Grundlage für seine Lehren bietet ihm aber die eigne Familie.
Er hat über den Charakter, das Wesen und die Fähigkeiten jedes Gliedes der
Nougon-Macquart genau Buch geführt. Jedes Mitglied hat besondre Per¬
sonalakten, in die alle Ereignisse und Wahrnehmungen, immer mit Rücksicht
auf die Vererbung, eingetragen werden. Aus alleu Personalakten hat er dann
einen allgemeinen Stammbaum zusammengestellt, wo jeder Zweig seine bestimmte
Charakteristik erhalten hat.

Es giebt nach seiner Ansicht vier Fälle der Vererbung: die unmittelbare,
die von den Eltern ausgeht; die mittelbare, die von den Verwandten herrührt;
die wiederkehrende, die sprungweise in verschiednen Geschlechtern auftritt; end¬
lich die beeinflußte, die z. B. dann erscheint, wenn eine Witwe wieder heiratet
und ihre Kinder doch nach dem ersten Gatten schlagen. Der usrsäitv gegen¬
über stellt Pascal die innuitv, durch die, wie in der Chemie, aus zwei Stoffen
ein neuer entsteht, der mit keinem von beiden Ähnlichkeit hat. Der alte Arzt
glaubt zu seiner Beruhigung und Freude zu erkennen, daß sein Wesen nicht
das Ergebnis einer Vererbung, sondern einer chemischen Neubildung sei, und
daß er von den verderblichen Anlagen und Fehlern seiner Ahnen frei sei. Bei
seiner Nichte Klotide Rvngon stellt er mathematisch genau fest, daß bei ihr
eine wiederkehrende Vererbung, 1'lloröÄitv rötonr, eingetreten ist, aber nicht
aus der kranken, belasteten Familie Rougon, sondern aus der frischen, ge¬
stunden, lebensvollen Familie ihrer Mutter Augvle Sicardot. Abgesehen von
dem Bauern Jean Macquart, den wir aus 1^ vvlmols kennen, sind also
Pascal und Klotilde die einzigen Glieder der Familie, von der eine gesunde,
fortpflanzungsfähige Nachkommenschaft erwartet werden könnte. So oft der
sechzigjährige Pascal den Stammbaum studirt, bleiben seine nach frischem Leben
spähenden Blicke auf Klotilde haften. Studium und Schüchternheit haben ihn
zum alten Junggesellen gemacht. Nun fühlt er in seinen hohen Jahren noch
einmal einen warmen Strom der Liebe durch seine Adern rollen. Ein Kind
von Klotilde zu haben, erscheint ihm mit einemmale als sein höchster Lebens¬
zweck, als der Triumph seines Daseins. Aber Klotilde hält sich fern von ihm.


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[0187] Zolas neuester Roman Um das große Gesetz der Vererbung, das in seinen Romanen die Haupt¬ rolle spielt, offen und übersichtlich darzulegen, hat Zola seinem neuesten Werke einen Stammbaum, un ardrs « ^nvaloAicius, der Familie Rougon-Maeauart vorangestellt. Dieser Stammbaum ist das Lebenswerk des Arztes Pascal Rougon. Pascal hat sich mit einem anständigen Vermögen aus Paris zurück¬ gezogen und sich in der Nähe seiner Vaterstadt Plasfans angekauft. Auf seinem kleinen Landsitz Loulsmäs lebt er still und zurückgezogen mit seiner fünf¬ undzwanzigjährigen Nichte Klotilde und der frommen Haushälterin Martine. Er hat Plasfans zu seinem Wohnsitz erwählt, weil ihm dort die Familien der Bewohner durch verschiedne Geschlechter bekannt sind, und er auf Grund dieser Kenntnisse seine Studie» über die Vererbung erweitern und vertiefen möchte. Die sicherste Grundlage für seine Lehren bietet ihm aber die eigne Familie. Er hat über den Charakter, das Wesen und die Fähigkeiten jedes Gliedes der Nougon-Macquart genau Buch geführt. Jedes Mitglied hat besondre Per¬ sonalakten, in die alle Ereignisse und Wahrnehmungen, immer mit Rücksicht auf die Vererbung, eingetragen werden. Aus alleu Personalakten hat er dann einen allgemeinen Stammbaum zusammengestellt, wo jeder Zweig seine bestimmte Charakteristik erhalten hat. Es giebt nach seiner Ansicht vier Fälle der Vererbung: die unmittelbare, die von den Eltern ausgeht; die mittelbare, die von den Verwandten herrührt; die wiederkehrende, die sprungweise in verschiednen Geschlechtern auftritt; end¬ lich die beeinflußte, die z. B. dann erscheint, wenn eine Witwe wieder heiratet und ihre Kinder doch nach dem ersten Gatten schlagen. Der usrsäitv gegen¬ über stellt Pascal die innuitv, durch die, wie in der Chemie, aus zwei Stoffen ein neuer entsteht, der mit keinem von beiden Ähnlichkeit hat. Der alte Arzt glaubt zu seiner Beruhigung und Freude zu erkennen, daß sein Wesen nicht das Ergebnis einer Vererbung, sondern einer chemischen Neubildung sei, und daß er von den verderblichen Anlagen und Fehlern seiner Ahnen frei sei. Bei seiner Nichte Klotide Rvngon stellt er mathematisch genau fest, daß bei ihr eine wiederkehrende Vererbung, 1'lloröÄitv rötonr, eingetreten ist, aber nicht aus der kranken, belasteten Familie Rougon, sondern aus der frischen, ge¬ stunden, lebensvollen Familie ihrer Mutter Augvle Sicardot. Abgesehen von dem Bauern Jean Macquart, den wir aus 1^ vvlmols kennen, sind also Pascal und Klotilde die einzigen Glieder der Familie, von der eine gesunde, fortpflanzungsfähige Nachkommenschaft erwartet werden könnte. So oft der sechzigjährige Pascal den Stammbaum studirt, bleiben seine nach frischem Leben spähenden Blicke auf Klotilde haften. Studium und Schüchternheit haben ihn zum alten Junggesellen gemacht. Nun fühlt er in seinen hohen Jahren noch einmal einen warmen Strom der Liebe durch seine Adern rollen. Ein Kind von Klotilde zu haben, erscheint ihm mit einemmale als sein höchster Lebens¬ zweck, als der Triumph seines Daseins. Aber Klotilde hält sich fern von ihm.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/187>, abgerufen am 27.11.2024.