Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.Zolas neuester Roman schaften, seine unaufhörlichen kritischen Waffengüngc oder litterarischen Auf diesem Grenzgebiete, das zwischen Wahrheit und Dichtung, zwischen Grenzboten III 1393 M
Zolas neuester Roman schaften, seine unaufhörlichen kritischen Waffengüngc oder litterarischen Auf diesem Grenzgebiete, das zwischen Wahrheit und Dichtung, zwischen Grenzboten III 1393 M
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0185" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215275"/> <fw type="header" place="top"> Zolas neuester Roman</fw><lb/> <p xml:id="ID_588" prev="#ID_587"> schaften, seine unaufhörlichen kritischen Waffengüngc oder litterarischen<lb/> Zänkereien, und endlich die immer tiefer sinkende litterarische Bildung und<lb/> höher steigende Lesewut eines übersättigten Publikums. Materialistische Grund¬<lb/> sätze wie: I«z vios se ig. vertu sont, cle8 xrocluits ooruinL 1s vitriul on 1v suors:<lb/> un msiriö cZstsriuinismö etoit reglr ni pierrs et«Z8 v1ismin8 et 1s esrvsM 6s<lb/> 1'uviuius; 1s iuL0RA8iQtz Z«z In vWsion imuztioimö 8ö1on Je8 Ioi8 ux6ö8 xa.r 1a<lb/> imwrs sind von ihm in seine Kunstlehre hinübergenommen worden, und natur¬<lb/> wissenschaftliche Schlagwörter wie Vererbung und Anpassung, Zuchtwahl,<lb/> Kampf ums Dasein, Milieu und Äoeunuzuw uuuuün8, Experiment, Analyse<lb/> und Beobachtung sollten alle Begriffe der überlieferten Schulüsthetik über den<lb/> Haufen werfen. Er sucht die mechanische Erklärungsweise und die mathe¬<lb/> matische Berechnung aus dem materiellen Leben auf das geistige und sittliche<lb/> zu übertragen. Seine Romane sollten gleichsam die ersten Blüten auf dem<lb/> Baume der positivistischen Weltanschauung sein. Aus ihnen sollten auch für<lb/> die Wissenschaft reiche Früchte entstehen. „O, diese neu entstehenden, jungen<lb/> Wissenschaften, ruft er in dem Schlußroman aus, diese Wissenschaften, wo die<lb/> Hypothese noch stammelt, und die Phantasie noch Herrscherin bleibt! Sie sind<lb/> das Arbeitsfeld der Dichter ebenso sehr wie der Gelehrten. Die Dichter eilen<lb/> als Bahnbrecher kümpfcnd voraus. Oft entdecken sie jungfräuliche Länder und<lb/> deuten ans die Losung der nächsten Aufgaben hin. Zivischeu der gewonnenen<lb/> unwandelbaren Wahrheit und dem unbekannten Gebiete, dem man morgen die<lb/> Wahrheit entreißen wird, giebt es ein Grenzgebiet, das den Dichtern gehört.<lb/> Welche großartige Freskenmalerei, welche ergreifende menschliche Komödie lind<lb/> Tragödie läßt sich auf Grund der »Vererbung« entwerfen, der Vererbung, die<lb/> das Eutstehungsgesetz, die Genesis der Familien, der Gesellschaften, der ganzen<lb/> Welt darstellt!"</p><lb/> <p xml:id="ID_589" next="#ID_590"> Auf diesem Grenzgebiete, das zwischen Wahrheit und Dichtung, zwischen<lb/> Wissenschaft und Phantasie liegt, hat Zola sein zwanzigbändiges Werk auf¬<lb/> gerichtet. An den Schicksalen der weitverzweigten Familie Nougon-Macquart<lb/> will er die Gesetze der körperlichen, geistigen und sittlichen Vererbung nach¬<lb/> weisen. „Unsre Familie — läßt er den Doktor Pascal sagen — könnte<lb/> heute der Wissenschaft als Beispiel genügen. Die Wissenschaft hofft, eines<lb/> Tages mit mathematischer Genauigkeit die Gesetze der Nerven- und der Blut¬<lb/> krankheiten festzustellen, die Störungen, die bei einer Familie infolge eines<lb/> organischen Fehlers hervortreten, und die bei jeden: Gliede dieser Familie, je<lb/> nach dem Milieu, die Empfindungen, die Wünsche, die Leidenschaften, alle<lb/> Offenbarungen der Natur und der Triebe im Menschen bestimmen. Diese<lb/> Offenbarungen führen den Namen Tugenden oder Laster. Unsre Familie<lb/> liefert auch eine geschichtliche Urkunde. Ihre Geschichte erzählt die des zweiten<lb/> Kniserreiches vom Staatsstreiche bis auf Sedan, denn die Rougon-Macquart<lb/> sind aus der Hefe des Volkes hervorgegangen, sie haben sich unter der ganzen</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1393 M</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0185]
Zolas neuester Roman
schaften, seine unaufhörlichen kritischen Waffengüngc oder litterarischen
Zänkereien, und endlich die immer tiefer sinkende litterarische Bildung und
höher steigende Lesewut eines übersättigten Publikums. Materialistische Grund¬
sätze wie: I«z vios se ig. vertu sont, cle8 xrocluits ooruinL 1s vitriul on 1v suors:
un msiriö cZstsriuinismö etoit reglr ni pierrs et«Z8 v1ismin8 et 1s esrvsM 6s
1'uviuius; 1s iuL0RA8iQtz Z«z In vWsion imuztioimö 8ö1on Je8 Ioi8 ux6ö8 xa.r 1a
imwrs sind von ihm in seine Kunstlehre hinübergenommen worden, und natur¬
wissenschaftliche Schlagwörter wie Vererbung und Anpassung, Zuchtwahl,
Kampf ums Dasein, Milieu und Äoeunuzuw uuuuün8, Experiment, Analyse
und Beobachtung sollten alle Begriffe der überlieferten Schulüsthetik über den
Haufen werfen. Er sucht die mechanische Erklärungsweise und die mathe¬
matische Berechnung aus dem materiellen Leben auf das geistige und sittliche
zu übertragen. Seine Romane sollten gleichsam die ersten Blüten auf dem
Baume der positivistischen Weltanschauung sein. Aus ihnen sollten auch für
die Wissenschaft reiche Früchte entstehen. „O, diese neu entstehenden, jungen
Wissenschaften, ruft er in dem Schlußroman aus, diese Wissenschaften, wo die
Hypothese noch stammelt, und die Phantasie noch Herrscherin bleibt! Sie sind
das Arbeitsfeld der Dichter ebenso sehr wie der Gelehrten. Die Dichter eilen
als Bahnbrecher kümpfcnd voraus. Oft entdecken sie jungfräuliche Länder und
deuten ans die Losung der nächsten Aufgaben hin. Zivischeu der gewonnenen
unwandelbaren Wahrheit und dem unbekannten Gebiete, dem man morgen die
Wahrheit entreißen wird, giebt es ein Grenzgebiet, das den Dichtern gehört.
Welche großartige Freskenmalerei, welche ergreifende menschliche Komödie lind
Tragödie läßt sich auf Grund der »Vererbung« entwerfen, der Vererbung, die
das Eutstehungsgesetz, die Genesis der Familien, der Gesellschaften, der ganzen
Welt darstellt!"
Auf diesem Grenzgebiete, das zwischen Wahrheit und Dichtung, zwischen
Wissenschaft und Phantasie liegt, hat Zola sein zwanzigbändiges Werk auf¬
gerichtet. An den Schicksalen der weitverzweigten Familie Nougon-Macquart
will er die Gesetze der körperlichen, geistigen und sittlichen Vererbung nach¬
weisen. „Unsre Familie — läßt er den Doktor Pascal sagen — könnte
heute der Wissenschaft als Beispiel genügen. Die Wissenschaft hofft, eines
Tages mit mathematischer Genauigkeit die Gesetze der Nerven- und der Blut¬
krankheiten festzustellen, die Störungen, die bei einer Familie infolge eines
organischen Fehlers hervortreten, und die bei jeden: Gliede dieser Familie, je
nach dem Milieu, die Empfindungen, die Wünsche, die Leidenschaften, alle
Offenbarungen der Natur und der Triebe im Menschen bestimmen. Diese
Offenbarungen führen den Namen Tugenden oder Laster. Unsre Familie
liefert auch eine geschichtliche Urkunde. Ihre Geschichte erzählt die des zweiten
Kniserreiches vom Staatsstreiche bis auf Sedan, denn die Rougon-Macquart
sind aus der Hefe des Volkes hervorgegangen, sie haben sich unter der ganzen
Grenzboten III 1393 M
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |