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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Zolas neuester Roman

Kämpfen, die die Menschheit gegenwärtig aufs tiefste ergriffen haben, weiß er
gar nichts zu erzählen. Seine Anschauungen über die sozialen Fragen unsrer
Zeit sind oberflächlich, verworren, zuweilen geradezu lächerlich. Sein ganzer
Geistesreichtum erschöpft sich in wohlfeilen symbolischen Spielereien: bald
schildert er den Menschen und die menschlichen Einrichtungen wie große Ma¬
schinen, bald die Maschinen wie arbeitende Menschen. Von einem Schriftsteller,
der über ein Thema zwanzig Bünde zusammenschreibt, kann man erwarten,
daß er dem Leser doch ein paar allgemeine Ideen oder eine selbständige Lebens¬
auffassung biete. Aber einen weiten Blick, philosophisches Denken, Gerechtig¬
keitssinn und Empfänglichkeit für die unzähligen "Imponderabilien," die das
menschliche Leben bestimmen, sucht man bei Zola vergebens. Dos c1s8Lrixtion8
et ass vsmturo8, sagt Brunetiöre sehr richtig, xrouve-ut xas aus l'on
saoks soriro, ellos vrouvsut, ulu^uemout <in>z l'on g, Ä08 8<ZU8^lion8 tortö8.
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1'ssriv-lin.

Wir haben in den Grenzboten früher Zolas Romane I^a, Isrrs, I^s lisvs,
1/^ Lsts Humanus, Il'^.rAeut und I^a. OsbÄds besprochen und dabei eingehend
die Grundsätze des Naturalismus im allgemeinen und die Fehler und Schwächen
der Zolaischen Machwerke im besondern behandelt; wir könnten uns nnr
wiederholen, wenn wir hier beim Abschluß seines Nomancyklus noch einmal
auf diese Fragen zu sprechen kommen wollten. Nur auf eine Frage, die kultur-
geschichtlich die interessanteste ist, wollen wir bei dieser Gelegenheit näher ein¬
gehen, nämlich auf die, wie es möglich gewesen ist, daß Zola trotz aller seiner
Fehler, trotz der Ablehnung gewisser einflußreicher Gesellschaftskreise und trotz
der fortdauernden, rücksichtslosen Augriffe angesehener Kritiker über Erfolge
im Buchhandel zu verzeichnen hat, die in der ganzen Litteraturgeschichte ohne
gleichen dastehen. Der Absatz seiner Romane ist beispiellos. Vier davon
haben die Zahl von hunderttausend Exemplaren bereits überschritten: I^^srrs,
I/'^88oiumior, Mus, und I-g, DsbÄols. Der letztere ist bis jetzt in 176 000,
5>Ain in 166 000 Exemplaren verkauft worden. Zu diesem unerhörten Absatz
hat selbstverständlich nicht bloß Frankreich beigetragen; Zolas Romane sind
über die ganze Welt verbreitet. Die größte Zahl fremder Abnehmer befindet
sich in -- Deutschland. Wer mit unsern Leihbibliotheken in Verbindung steht,
der wird leicht erfahren können, daß nichts mit größerer Spannung und Un¬
geduld vou dem großen Lescpublikum erwartet wird, als ein Roman Zolas,
und daß gegenwärtig keine Litteratur bei uus mit größerer Gier verschlungen
wird, als die naturalistische. Zola scheint in der That mit seinem trium-
phirenden Ausruf: L'o8t un uouvsau Äsols littsra-irs 8'vuvrs, wenigstens
was seine Erfolge betrifft, Recht zu behalten.

Drei Umstände haben am stärksten zur Verbreitung seiner Romane bei¬
getragen: seiue Anlehnung an den Positivismus und an die exakten Wissen-


Zolas neuester Roman

Kämpfen, die die Menschheit gegenwärtig aufs tiefste ergriffen haben, weiß er
gar nichts zu erzählen. Seine Anschauungen über die sozialen Fragen unsrer
Zeit sind oberflächlich, verworren, zuweilen geradezu lächerlich. Sein ganzer
Geistesreichtum erschöpft sich in wohlfeilen symbolischen Spielereien: bald
schildert er den Menschen und die menschlichen Einrichtungen wie große Ma¬
schinen, bald die Maschinen wie arbeitende Menschen. Von einem Schriftsteller,
der über ein Thema zwanzig Bünde zusammenschreibt, kann man erwarten,
daß er dem Leser doch ein paar allgemeine Ideen oder eine selbständige Lebens¬
auffassung biete. Aber einen weiten Blick, philosophisches Denken, Gerechtig¬
keitssinn und Empfänglichkeit für die unzähligen „Imponderabilien," die das
menschliche Leben bestimmen, sucht man bei Zola vergebens. Dos c1s8Lrixtion8
et ass vsmturo8, sagt Brunetiöre sehr richtig, xrouve-ut xas aus l'on
saoks soriro, ellos vrouvsut, ulu^uemout <in>z l'on g, Ä08 8<ZU8^lion8 tortö8.
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Wir haben in den Grenzboten früher Zolas Romane I^a, Isrrs, I^s lisvs,
1/^ Lsts Humanus, Il'^.rAeut und I^a. OsbÄds besprochen und dabei eingehend
die Grundsätze des Naturalismus im allgemeinen und die Fehler und Schwächen
der Zolaischen Machwerke im besondern behandelt; wir könnten uns nnr
wiederholen, wenn wir hier beim Abschluß seines Nomancyklus noch einmal
auf diese Fragen zu sprechen kommen wollten. Nur auf eine Frage, die kultur-
geschichtlich die interessanteste ist, wollen wir bei dieser Gelegenheit näher ein¬
gehen, nämlich auf die, wie es möglich gewesen ist, daß Zola trotz aller seiner
Fehler, trotz der Ablehnung gewisser einflußreicher Gesellschaftskreise und trotz
der fortdauernden, rücksichtslosen Augriffe angesehener Kritiker über Erfolge
im Buchhandel zu verzeichnen hat, die in der ganzen Litteraturgeschichte ohne
gleichen dastehen. Der Absatz seiner Romane ist beispiellos. Vier davon
haben die Zahl von hunderttausend Exemplaren bereits überschritten: I^^srrs,
I/'^88oiumior, Mus, und I-g, DsbÄols. Der letztere ist bis jetzt in 176 000,
5>Ain in 166 000 Exemplaren verkauft worden. Zu diesem unerhörten Absatz
hat selbstverständlich nicht bloß Frankreich beigetragen; Zolas Romane sind
über die ganze Welt verbreitet. Die größte Zahl fremder Abnehmer befindet
sich in — Deutschland. Wer mit unsern Leihbibliotheken in Verbindung steht,
der wird leicht erfahren können, daß nichts mit größerer Spannung und Un¬
geduld vou dem großen Lescpublikum erwartet wird, als ein Roman Zolas,
und daß gegenwärtig keine Litteratur bei uus mit größerer Gier verschlungen
wird, als die naturalistische. Zola scheint in der That mit seinem trium-
phirenden Ausruf: L'o8t un uouvsau Äsols littsra-irs 8'vuvrs, wenigstens
was seine Erfolge betrifft, Recht zu behalten.

Drei Umstände haben am stärksten zur Verbreitung seiner Romane bei¬
getragen: seiue Anlehnung an den Positivismus und an die exakten Wissen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/184>, abgerufen am 27.11.2024.