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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Zolas neuester Roman

er vielgefeierte und vielgeschmähte Meister des Naturalismus
hat soeben eine Natur- und Sittengeschichte einer Familie unter
dem zweiten Kaisertum beendigt. Sein Roman I^L vootsur
?As<zg.I bildet den Schlußstein der merkwürdigen litterarischen
Katakombe, durch die Zola seit dem Jahre 1871 seine an¬
dächtigen Leser geführt hat. Nicht weniger als zwanzig Bände sind notwendig
gewesen, um die Sittengeschichte der Familie Rougou-Macquart mit allen
ihren Gebrechen und Verirrungen ausführlich und wirkungsvoll darzustellen.
Solch einen umfangreichen Romaneyklus in verhältnismäßig wenig Jahren zu
schreiben, dazu gehört entweder die Fruchtbarkeit eines Genies oder die Fertig¬
keit eines Manders. Zoln hat diese handwerksmäßige Fertigkeit in hohem
Grade; er hat seine Romane im Schweiße seines Angesichts gearbeitet. Er
hat gearbeitet wie ein Maurer, der sich die Steine zum Bau selbst herbei¬
schleppt und alles daran setzt, das Haus sobald wie möglich unter Dach zu
bringen, der aber mit einen Hause uicht zufrieden ist, sondern mit demselben
Baumaterial, nach demselben Grundriß und in demselben Stile nach einander
zwanzig Häuser in einer Reihe aufführt. Daher der einförmige, öde, lang¬
weilige Eindruck, den Zolas Romane bei jedem Leser von feinerer litterarischer
Bildung zurücklassen. I^ö ArancI äölinit alö N. Uol^., coiuius roirig-uoisr, sagt
der bekannte Kritiker Brunetivre, o'oeil as tatiZusr, <lo lassor, et'mal^er.

Zola verfügt über eine Reihe sorgfältig ausgeführter "Klischees," die in
allen semel: Romanen mit gewissen Veränderungen und Anpassungen wieder¬
kehren. Er hat ein Klischee für die Schilderung einer lebhaften Straße, er hat
andre für die Beschreibung vou Landschaften am Morgen, am Mittag und
am Abend. Er hat Klischees für Zimmereinrichtungen, insbesondre für Schlaf¬
stuben; er hat Klischees für Charakteristiken, er hat vor allem Klischees für
Liebesszenen, und das sind die wirkungsvollsten i Liebesszenen von dem keuschen
Erröten bis zur brutalsten Ausschweifung, von der leisen schüchternen An¬
deutung bis zur gemeinsten Ausmalung raffinirter Sinnlichkeit. Immer
dieselben Ausdrücke, dieselben Wendungen, dieselben Bilder. Die stolze Auf¬
gabe, die Sittengeschichte einer als Typus aufgestellten Familie zu schreiben,
hat Zola in ganz armseliger Weise gelöst. Vou deu gewaltigen geistigen




Zolas neuester Roman

er vielgefeierte und vielgeschmähte Meister des Naturalismus
hat soeben eine Natur- und Sittengeschichte einer Familie unter
dem zweiten Kaisertum beendigt. Sein Roman I^L vootsur
?As<zg.I bildet den Schlußstein der merkwürdigen litterarischen
Katakombe, durch die Zola seit dem Jahre 1871 seine an¬
dächtigen Leser geführt hat. Nicht weniger als zwanzig Bände sind notwendig
gewesen, um die Sittengeschichte der Familie Rougou-Macquart mit allen
ihren Gebrechen und Verirrungen ausführlich und wirkungsvoll darzustellen.
Solch einen umfangreichen Romaneyklus in verhältnismäßig wenig Jahren zu
schreiben, dazu gehört entweder die Fruchtbarkeit eines Genies oder die Fertig¬
keit eines Manders. Zoln hat diese handwerksmäßige Fertigkeit in hohem
Grade; er hat seine Romane im Schweiße seines Angesichts gearbeitet. Er
hat gearbeitet wie ein Maurer, der sich die Steine zum Bau selbst herbei¬
schleppt und alles daran setzt, das Haus sobald wie möglich unter Dach zu
bringen, der aber mit einen Hause uicht zufrieden ist, sondern mit demselben
Baumaterial, nach demselben Grundriß und in demselben Stile nach einander
zwanzig Häuser in einer Reihe aufführt. Daher der einförmige, öde, lang¬
weilige Eindruck, den Zolas Romane bei jedem Leser von feinerer litterarischer
Bildung zurücklassen. I^ö ArancI äölinit alö N. Uol^., coiuius roirig-uoisr, sagt
der bekannte Kritiker Brunetivre, o'oeil as tatiZusr, <lo lassor, et'mal^er.

Zola verfügt über eine Reihe sorgfältig ausgeführter „Klischees," die in
allen semel: Romanen mit gewissen Veränderungen und Anpassungen wieder¬
kehren. Er hat ein Klischee für die Schilderung einer lebhaften Straße, er hat
andre für die Beschreibung vou Landschaften am Morgen, am Mittag und
am Abend. Er hat Klischees für Zimmereinrichtungen, insbesondre für Schlaf¬
stuben; er hat Klischees für Charakteristiken, er hat vor allem Klischees für
Liebesszenen, und das sind die wirkungsvollsten i Liebesszenen von dem keuschen
Erröten bis zur brutalsten Ausschweifung, von der leisen schüchternen An¬
deutung bis zur gemeinsten Ausmalung raffinirter Sinnlichkeit. Immer
dieselben Ausdrücke, dieselben Wendungen, dieselben Bilder. Die stolze Auf¬
gabe, die Sittengeschichte einer als Typus aufgestellten Familie zu schreiben,
hat Zola in ganz armseliger Weise gelöst. Vou deu gewaltigen geistigen


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[0183] [Abbildung] Zolas neuester Roman er vielgefeierte und vielgeschmähte Meister des Naturalismus hat soeben eine Natur- und Sittengeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaisertum beendigt. Sein Roman I^L vootsur ?As<zg.I bildet den Schlußstein der merkwürdigen litterarischen Katakombe, durch die Zola seit dem Jahre 1871 seine an¬ dächtigen Leser geführt hat. Nicht weniger als zwanzig Bände sind notwendig gewesen, um die Sittengeschichte der Familie Rougou-Macquart mit allen ihren Gebrechen und Verirrungen ausführlich und wirkungsvoll darzustellen. Solch einen umfangreichen Romaneyklus in verhältnismäßig wenig Jahren zu schreiben, dazu gehört entweder die Fruchtbarkeit eines Genies oder die Fertig¬ keit eines Manders. Zoln hat diese handwerksmäßige Fertigkeit in hohem Grade; er hat seine Romane im Schweiße seines Angesichts gearbeitet. Er hat gearbeitet wie ein Maurer, der sich die Steine zum Bau selbst herbei¬ schleppt und alles daran setzt, das Haus sobald wie möglich unter Dach zu bringen, der aber mit einen Hause uicht zufrieden ist, sondern mit demselben Baumaterial, nach demselben Grundriß und in demselben Stile nach einander zwanzig Häuser in einer Reihe aufführt. Daher der einförmige, öde, lang¬ weilige Eindruck, den Zolas Romane bei jedem Leser von feinerer litterarischer Bildung zurücklassen. I^ö ArancI äölinit alö N. Uol^., coiuius roirig-uoisr, sagt der bekannte Kritiker Brunetivre, o'oeil as tatiZusr, <lo lassor, et'mal^er. Zola verfügt über eine Reihe sorgfältig ausgeführter „Klischees," die in allen semel: Romanen mit gewissen Veränderungen und Anpassungen wieder¬ kehren. Er hat ein Klischee für die Schilderung einer lebhaften Straße, er hat andre für die Beschreibung vou Landschaften am Morgen, am Mittag und am Abend. Er hat Klischees für Zimmereinrichtungen, insbesondre für Schlaf¬ stuben; er hat Klischees für Charakteristiken, er hat vor allem Klischees für Liebesszenen, und das sind die wirkungsvollsten i Liebesszenen von dem keuschen Erröten bis zur brutalsten Ausschweifung, von der leisen schüchternen An¬ deutung bis zur gemeinsten Ausmalung raffinirter Sinnlichkeit. Immer dieselben Ausdrücke, dieselben Wendungen, dieselben Bilder. Die stolze Auf¬ gabe, die Sittengeschichte einer als Typus aufgestellten Familie zu schreiben, hat Zola in ganz armseliger Weise gelöst. Vou deu gewaltigen geistigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/183>, abgerufen am 23.11.2024.