Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.Zur Lage Besitzenden und die der Proletarier und der in ihrem kleinen Besitz bedrohten. Damit ist allen Politikern, die Augen im Kopfe haben, und denen das Das ewige Geschrei über Vaterlandslosigteit, Partikularismus und Reichsfeindschaft
ist mit dem einen Worte abzufertigen: Ihr Vaterland lieben alle, und das Reich wäre ihnen schon recht; die Regierungen sollen nnr dafür sorgen, daß es einem jeden im Vaterlande gefalle, und daß "ein jeder sitze unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum (oder vor seinem Kuhstall und unter seinem Birnbaum) von Konstanz bis Königsberg." Zur Lage Besitzenden und die der Proletarier und der in ihrem kleinen Besitz bedrohten. Damit ist allen Politikern, die Augen im Kopfe haben, und denen das Das ewige Geschrei über Vaterlandslosigteit, Partikularismus und Reichsfeindschaft
ist mit dem einen Worte abzufertigen: Ihr Vaterland lieben alle, und das Reich wäre ihnen schon recht; die Regierungen sollen nnr dafür sorgen, daß es einem jeden im Vaterlande gefalle, und daß „ein jeder sitze unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum (oder vor seinem Kuhstall und unter seinem Birnbaum) von Konstanz bis Königsberg." <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215108"/> <fw type="header" place="top"> Zur Lage</fw><lb/> <p xml:id="ID_34" prev="#ID_33"> Besitzenden und die der Proletarier und der in ihrem kleinen Besitz bedrohten.<lb/> Zwar wird dieses Ergebnis noch einigermaßen verhüllt, auf der einen Seite<lb/> dnrch die Macht des Besitzes, der Gewohnheit, der Beamtenschaft, auf der<lb/> andern Seite dnrch den konfessionellen Gegensatz und die Abneigung der Süd¬<lb/> deutschen gegen Preußen,") allein die neue große Scheidungslinie, die ans<lb/> innerer Notwendigkeit beruht, während die andern Grenzen mehr willkürlich<lb/> und zufällig erscheinen, ist deutlich erkennbar. Die Militärvorlage hat den<lb/> Anlaß zur Scheidung gegeben. Die dafür find, das sind die Reichen und<lb/> Mächtigen, auf der andern Seite stehen die Armen, Kleinen und Schwachen,<lb/> deren Zahl natürlich die größere ist. Die Konservativen haben noch eine im¬<lb/> posante Stimmenzahl aufgebracht, weil in den östlichen Provinzen die Macht<lb/> der Rittergutsbesitzer und Ortsvorsteher über die kleinen Leute sehr groß ist;<lb/> wozu dann noch die Pietät der alten Kriegervereinskameraden gegen die per¬<lb/> sönlichen Wünsche des Monarchen und ihre Vorliebe fürs Militär kommt. Zu<lb/> den Nationalliberalen gehören viele große Unternehmer und fast alle höhern<lb/> Beamten; viele von jenen beeinflussen ihre Arbeiter, die höhern Beamten ihre<lb/> Untergebnen. Fielen diese Beschränkungen hinweg, so hätten wir eine Million<lb/> oppositioneller Stimmen mehr. Doch fängt die konservative Partei namentlich<lb/> in Sachsen an brüchig zu werden; die Kleinhandwerker wenden sich dem Anti¬<lb/> semitismus zu, der nnr eine Abart der Sozialdemokratie ist. Die Zentrums¬<lb/> leute köunen den Armen zugerechnet werden. Zwar sind die oberbairischen<lb/> Bauern und die Gewerbtreibenden Rheinpreußens wohlhabender als die Be¬<lb/> völkerung Pommerns, aber dem katholischen Teile der Deutschen gehören wenig<lb/> große Kapitalisten an, und die sich etwa finden, die wählen meistens nicht<lb/> fürs Zentrum, sondern liberal. Das Zentrum ist eine dem Großkapital im<lb/> ganzen feindliche Partei. Die noch übrigen „freisinnigen" Wühler sind meistens<lb/> Leute, die sich vorläufig noch für zu gut und zu vornehm halten, sich zu<lb/> den „Arbeitern" zu rechnen; mit der Zeit werden sie diese Scham ablegen.</p><lb/> <p xml:id="ID_35" next="#ID_36"> Damit ist allen Politikern, die Augen im Kopfe haben, und denen das<lb/> Wohl des Baterlandes ernstlich am Herzen liegt, das nächste Ziel ihrer Thätig¬<lb/> keit vorgeschrieben; es heißt: Rettung des Mittelstandes, des kleinen Besitzes,<lb/> so weit er noch vorhanden, Wiederherstellung, so weit er schon zu Grunde<lb/> gegangen ist. Aus dem Mittelstande und aus denen, die gern dazu gehören<lb/> möchten, oder die ihn neu gründen wollen, muß die Partei der Zukunft her¬<lb/> vorgehen. Diese hat die Regierenden auf den richtigen Weg zu drängen.<lb/> Constans hat in Toulouse u. a. gesagt, man müsse die Besitzenden nicht be-</p><lb/> <note xml:id="FID_2" place="foot"> Das ewige Geschrei über Vaterlandslosigteit, Partikularismus und Reichsfeindschaft<lb/> ist mit dem einen Worte abzufertigen: Ihr Vaterland lieben alle, und das Reich wäre ihnen<lb/> schon recht; die Regierungen sollen nnr dafür sorgen, daß es einem jeden im Vaterlande<lb/> gefalle, und daß „ein jeder sitze unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum<lb/> (oder vor seinem Kuhstall und unter seinem Birnbaum) von Konstanz bis Königsberg."</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0018]
Zur Lage
Besitzenden und die der Proletarier und der in ihrem kleinen Besitz bedrohten.
Zwar wird dieses Ergebnis noch einigermaßen verhüllt, auf der einen Seite
dnrch die Macht des Besitzes, der Gewohnheit, der Beamtenschaft, auf der
andern Seite dnrch den konfessionellen Gegensatz und die Abneigung der Süd¬
deutschen gegen Preußen,") allein die neue große Scheidungslinie, die ans
innerer Notwendigkeit beruht, während die andern Grenzen mehr willkürlich
und zufällig erscheinen, ist deutlich erkennbar. Die Militärvorlage hat den
Anlaß zur Scheidung gegeben. Die dafür find, das sind die Reichen und
Mächtigen, auf der andern Seite stehen die Armen, Kleinen und Schwachen,
deren Zahl natürlich die größere ist. Die Konservativen haben noch eine im¬
posante Stimmenzahl aufgebracht, weil in den östlichen Provinzen die Macht
der Rittergutsbesitzer und Ortsvorsteher über die kleinen Leute sehr groß ist;
wozu dann noch die Pietät der alten Kriegervereinskameraden gegen die per¬
sönlichen Wünsche des Monarchen und ihre Vorliebe fürs Militär kommt. Zu
den Nationalliberalen gehören viele große Unternehmer und fast alle höhern
Beamten; viele von jenen beeinflussen ihre Arbeiter, die höhern Beamten ihre
Untergebnen. Fielen diese Beschränkungen hinweg, so hätten wir eine Million
oppositioneller Stimmen mehr. Doch fängt die konservative Partei namentlich
in Sachsen an brüchig zu werden; die Kleinhandwerker wenden sich dem Anti¬
semitismus zu, der nnr eine Abart der Sozialdemokratie ist. Die Zentrums¬
leute köunen den Armen zugerechnet werden. Zwar sind die oberbairischen
Bauern und die Gewerbtreibenden Rheinpreußens wohlhabender als die Be¬
völkerung Pommerns, aber dem katholischen Teile der Deutschen gehören wenig
große Kapitalisten an, und die sich etwa finden, die wählen meistens nicht
fürs Zentrum, sondern liberal. Das Zentrum ist eine dem Großkapital im
ganzen feindliche Partei. Die noch übrigen „freisinnigen" Wühler sind meistens
Leute, die sich vorläufig noch für zu gut und zu vornehm halten, sich zu
den „Arbeitern" zu rechnen; mit der Zeit werden sie diese Scham ablegen.
Damit ist allen Politikern, die Augen im Kopfe haben, und denen das
Wohl des Baterlandes ernstlich am Herzen liegt, das nächste Ziel ihrer Thätig¬
keit vorgeschrieben; es heißt: Rettung des Mittelstandes, des kleinen Besitzes,
so weit er noch vorhanden, Wiederherstellung, so weit er schon zu Grunde
gegangen ist. Aus dem Mittelstande und aus denen, die gern dazu gehören
möchten, oder die ihn neu gründen wollen, muß die Partei der Zukunft her¬
vorgehen. Diese hat die Regierenden auf den richtigen Weg zu drängen.
Constans hat in Toulouse u. a. gesagt, man müsse die Besitzenden nicht be-
Das ewige Geschrei über Vaterlandslosigteit, Partikularismus und Reichsfeindschaft
ist mit dem einen Worte abzufertigen: Ihr Vaterland lieben alle, und das Reich wäre ihnen
schon recht; die Regierungen sollen nnr dafür sorgen, daß es einem jeden im Vaterlande
gefalle, und daß „ein jeder sitze unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum
(oder vor seinem Kuhstall und unter seinem Birnbaum) von Konstanz bis Königsberg."
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