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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

Behauptung! In allen uns erhaltenen Dramen werden sittliche Probleme er¬
örtert, und man sieht, wie sehr ihre Ergründung dem Dichter und seinem
Publikum am Herzen liegt, aber vom Staat ist dabei fast nie die Rede;
höchstens wird gelegentlich einmal bemerkt, was sich ja für alle Zeiten und
Kulturvölker von selber versteht, daß der wackere Mann bestrebt sei, dem Ge¬
meinwesen zu nützen. Nur ein einziges Stück hat die grundsätzliche Erörte¬
rung des Konfliktes zwischen Privatmoral und Staatsgesetz zum Gegenstande
-- wie jedermann weiß, ist das die Antigone --, und darin entscheidet der
Dichter gegen den Staat. Er stellt ganz wie Petrus (Apostelgeschichte 5, 29)
den Grundsatz auf: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. ^Jsmene
will die Schwester von dem Vorsatze abbringen, gegen das Verbot des Königs
den Bruder zu bestatten. Als Frauen könnten sie ja gar nicht daran denken,
sich gegen die Herrschaft der Männer aufzulehnen, selbst wenn noch schlimmeres
geboten würde:


Ich flehe drum die in der Erde Schoß
Um Nachsicht an, da, wo Gewalt mich zwingt,
Den Machtgekrönten ich gehorchen will.
Denn über Kraft zu thun ist Unverstand.

Antigone erwidert, an Jsmenens Beistand sei ihr gar nichts gelegen; sie selbst
aber werde thun, was sie für ihre Pflicht halte.


Geliebt bei den Geliebten ruhen werd' ich dann,
Da frommen Frevel ich geübt. Denn länger muß
Den Toten ich gefallen als den Lebenden;
Dort lieg' ich ewig.

Und dem König ins Angesicht sagt sie später:


War es doch Zeus nicht, welcher dies verboten hat,
Und sie, die bei den unterirdschen Göttern thront.
Nie hat den Menschen Dike solch Gebot erteilt.
Noch glaubt ich so gewaltig deine Herrsche-rmacht,
Daß du der Götter Satzungen, ein Sterblicher,
Den ungeschriebnen, wandellosen trotzen darfst.
Denn nicht erst heut und gestern erst, nein immerdar
Sind sie lebendig; niemand weiß, wie alt sie sind.
Nicht wollt ich, daß um sie der Götter Strafen ich
Verfiele, weil ich eines Menschen Übermut
Gefürchtet. Sterben werd ich, dieses weiß ich wohl,
Auch ohne daß dn mirs gedroht. Muß vor der Zeit
Den Tod ich dulden, nun, das acht ich für ein Glück.

"Welche Stellung -- fährt Döllinger fort -- der einzelne im Gemeinwesen
einnehmen wollte, das war nicht seinem Gutdünken überlassen, sie war viel¬
mehr jedem schon im voraus angewiesen." Als ob das heute anders wäre!
"Es gab auch eigentlich kein Gebiet, innerhalb dessen der Grieche bloß als
Mensch nach seinem Ermessen frei zu schalten berechtigt gewesen wäre." Ist
wohl ein freieres Schalten denkbar als das des Sokrates, der freilich zu-


Die ätherische Volksmoral im Drama

Behauptung! In allen uns erhaltenen Dramen werden sittliche Probleme er¬
örtert, und man sieht, wie sehr ihre Ergründung dem Dichter und seinem
Publikum am Herzen liegt, aber vom Staat ist dabei fast nie die Rede;
höchstens wird gelegentlich einmal bemerkt, was sich ja für alle Zeiten und
Kulturvölker von selber versteht, daß der wackere Mann bestrebt sei, dem Ge¬
meinwesen zu nützen. Nur ein einziges Stück hat die grundsätzliche Erörte¬
rung des Konfliktes zwischen Privatmoral und Staatsgesetz zum Gegenstande
— wie jedermann weiß, ist das die Antigone —, und darin entscheidet der
Dichter gegen den Staat. Er stellt ganz wie Petrus (Apostelgeschichte 5, 29)
den Grundsatz auf: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. ^Jsmene
will die Schwester von dem Vorsatze abbringen, gegen das Verbot des Königs
den Bruder zu bestatten. Als Frauen könnten sie ja gar nicht daran denken,
sich gegen die Herrschaft der Männer aufzulehnen, selbst wenn noch schlimmeres
geboten würde:


Ich flehe drum die in der Erde Schoß
Um Nachsicht an, da, wo Gewalt mich zwingt,
Den Machtgekrönten ich gehorchen will.
Denn über Kraft zu thun ist Unverstand.

Antigone erwidert, an Jsmenens Beistand sei ihr gar nichts gelegen; sie selbst
aber werde thun, was sie für ihre Pflicht halte.


Geliebt bei den Geliebten ruhen werd' ich dann,
Da frommen Frevel ich geübt. Denn länger muß
Den Toten ich gefallen als den Lebenden;
Dort lieg' ich ewig.

Und dem König ins Angesicht sagt sie später:


War es doch Zeus nicht, welcher dies verboten hat,
Und sie, die bei den unterirdschen Göttern thront.
Nie hat den Menschen Dike solch Gebot erteilt.
Noch glaubt ich so gewaltig deine Herrsche-rmacht,
Daß du der Götter Satzungen, ein Sterblicher,
Den ungeschriebnen, wandellosen trotzen darfst.
Denn nicht erst heut und gestern erst, nein immerdar
Sind sie lebendig; niemand weiß, wie alt sie sind.
Nicht wollt ich, daß um sie der Götter Strafen ich
Verfiele, weil ich eines Menschen Übermut
Gefürchtet. Sterben werd ich, dieses weiß ich wohl,
Auch ohne daß dn mirs gedroht. Muß vor der Zeit
Den Tod ich dulden, nun, das acht ich für ein Glück.

„Welche Stellung — fährt Döllinger fort — der einzelne im Gemeinwesen
einnehmen wollte, das war nicht seinem Gutdünken überlassen, sie war viel¬
mehr jedem schon im voraus angewiesen." Als ob das heute anders wäre!
„Es gab auch eigentlich kein Gebiet, innerhalb dessen der Grieche bloß als
Mensch nach seinem Ermessen frei zu schalten berechtigt gewesen wäre." Ist
wohl ein freieres Schalten denkbar als das des Sokrates, der freilich zu-


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[0171] Die ätherische Volksmoral im Drama Behauptung! In allen uns erhaltenen Dramen werden sittliche Probleme er¬ örtert, und man sieht, wie sehr ihre Ergründung dem Dichter und seinem Publikum am Herzen liegt, aber vom Staat ist dabei fast nie die Rede; höchstens wird gelegentlich einmal bemerkt, was sich ja für alle Zeiten und Kulturvölker von selber versteht, daß der wackere Mann bestrebt sei, dem Ge¬ meinwesen zu nützen. Nur ein einziges Stück hat die grundsätzliche Erörte¬ rung des Konfliktes zwischen Privatmoral und Staatsgesetz zum Gegenstande — wie jedermann weiß, ist das die Antigone —, und darin entscheidet der Dichter gegen den Staat. Er stellt ganz wie Petrus (Apostelgeschichte 5, 29) den Grundsatz auf: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. ^Jsmene will die Schwester von dem Vorsatze abbringen, gegen das Verbot des Königs den Bruder zu bestatten. Als Frauen könnten sie ja gar nicht daran denken, sich gegen die Herrschaft der Männer aufzulehnen, selbst wenn noch schlimmeres geboten würde: Ich flehe drum die in der Erde Schoß Um Nachsicht an, da, wo Gewalt mich zwingt, Den Machtgekrönten ich gehorchen will. Denn über Kraft zu thun ist Unverstand. Antigone erwidert, an Jsmenens Beistand sei ihr gar nichts gelegen; sie selbst aber werde thun, was sie für ihre Pflicht halte. Geliebt bei den Geliebten ruhen werd' ich dann, Da frommen Frevel ich geübt. Denn länger muß Den Toten ich gefallen als den Lebenden; Dort lieg' ich ewig. Und dem König ins Angesicht sagt sie später: War es doch Zeus nicht, welcher dies verboten hat, Und sie, die bei den unterirdschen Göttern thront. Nie hat den Menschen Dike solch Gebot erteilt. Noch glaubt ich so gewaltig deine Herrsche-rmacht, Daß du der Götter Satzungen, ein Sterblicher, Den ungeschriebnen, wandellosen trotzen darfst. Denn nicht erst heut und gestern erst, nein immerdar Sind sie lebendig; niemand weiß, wie alt sie sind. Nicht wollt ich, daß um sie der Götter Strafen ich Verfiele, weil ich eines Menschen Übermut Gefürchtet. Sterben werd ich, dieses weiß ich wohl, Auch ohne daß dn mirs gedroht. Muß vor der Zeit Den Tod ich dulden, nun, das acht ich für ein Glück. „Welche Stellung — fährt Döllinger fort — der einzelne im Gemeinwesen einnehmen wollte, das war nicht seinem Gutdünken überlassen, sie war viel¬ mehr jedem schon im voraus angewiesen." Als ob das heute anders wäre! „Es gab auch eigentlich kein Gebiet, innerhalb dessen der Grieche bloß als Mensch nach seinem Ermessen frei zu schalten berechtigt gewesen wäre." Ist wohl ein freieres Schalten denkbar als das des Sokrates, der freilich zu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/171>, abgerufen am 24.11.2024.