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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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gebauten nichr hätten, war dadurch den Nationalliberalen ihre Haltung vor¬
geschrieben. Denn wie das Zentrum vom Kulturkampf, so lebt die national¬
liberale Partei, die abgesehen von kirchlichen Dingen kein grundsätzlicher
Unterschied mehr von den Konservativen trennt, nur noch von der Befehdung
des Zentrums; sie mußte also fortan die Militürvorlage entschieden vertreten.
Nun geriet Eugen Richter in die gräßlichste Verlegenheit. Wollte er die
Militärvvrlagc retten, so mußte er eine sehr bedeutende Anzahl seiner Truppen,
ja sogar das Gros nbkommandiren und das Odium der Wähler allein auf sich
und seine Partei nehmen. Half er dem Zentrum die Vorlage zu Falle bringen,
so beschwor er die Ncichstagsaufivsuug herauf, vor der sich zu fürchten er
ernstliche Gründe hatte, wie üZura, zeigt, und außerdem kränkte er eine Anzahl
seiner alten Getreuen, nämlich die, deren Sinn nach dem Hofe steht; "Wadl-
strümpfler" nennt sie der "Vorwärts." In seiner Ratlosigkeit wählte er das
zweite Übel, das er für das kleinere hielt, und siehe da, es war das größere!

Verdient haben die Herren ihre Niederlage schon durch ihren mit der
Waffe frecher Lüge geführten Kampf gegen den Volksschulgesetzentwurf des
Grafen Zedlitz. Die Annahme des Gesetzes hätte die Volksschule nicht kon¬
fessioneller gemacht, als sie von jeher gewesen ist, aber es enthielt einen echt
liberalen, echt freisinnigen .Keim: die Zulassung von Privatschulen; einen
Keim, dessen Ausgestaltung eine Unzahl von Schwierigkeiten gehoben und, als
erster Schritt der Erlösung von büreaukratischen Zwange, auch für die Lösung
der Schulfrage im allgemeinen von segensreichen Folgen gewesen sein würde.
Gerade dieser echt freisinnige, echt liberale Keim aber war es, vor dem sich diese
liberalen und freisinnigen Ritter vom Geiste fürchteten. Ja, wenn die Frei¬
sinnigen eine zwar bürgerliche und ans dem Boden der gegenwärtigen Gesell¬
schaftsordnung stehende, aber wirklich demokratische Partei wären, die den
kleinen Mann gegen den Kapitalisten und die Volksrechte gegen Polizei¬
willkür verteidigte, dann müßte man ihre Zertrümmerung aufrichtig bedauern.
So aber sind sie zur Judenschutztruppe herabgesunken, bekämpfen nnr eine
Form des Großkapitals, den Großgrundbesitz, um die Aufmerksamkeit und den
Haß von den andern beiden Formen abzulenken, verhöhnen und hindern die
Bestrebungen der Handwerker und Bauern nach Unabhängigkeit vom Kapital,
stellen sich im Kampfe der Arbeit gegen das Großkapital ganz und gar auf
die Seite des letztern, und schreien selbst am lautesten nach der Polizei, der
Zensur und dein Staatsanwalt, wo immer der Wind der Freiheit nicht dem
Gegner, sondern ihnen ins Gesicht bläst.

Da hatten wir nun die eigentliche Bedeutung der Wahlen. Mit der Ver¬
nichtung des bürgerlichen Liberalismus ist die Periode des politischen Partei¬
lebens vorläufig geschlossen und eine neue eröffnet, in der das öffentliche
Leben nnr noch vom Klassengegensätze beherrscht wird. Nur zwei große Par¬
teien bleiben uns übrig: die der Reichen und die der Armen, die der sicher


Grenzboten til 18W 2
Zur Lage

gebauten nichr hätten, war dadurch den Nationalliberalen ihre Haltung vor¬
geschrieben. Denn wie das Zentrum vom Kulturkampf, so lebt die national¬
liberale Partei, die abgesehen von kirchlichen Dingen kein grundsätzlicher
Unterschied mehr von den Konservativen trennt, nur noch von der Befehdung
des Zentrums; sie mußte also fortan die Militürvorlage entschieden vertreten.
Nun geriet Eugen Richter in die gräßlichste Verlegenheit. Wollte er die
Militärvvrlagc retten, so mußte er eine sehr bedeutende Anzahl seiner Truppen,
ja sogar das Gros nbkommandiren und das Odium der Wähler allein auf sich
und seine Partei nehmen. Half er dem Zentrum die Vorlage zu Falle bringen,
so beschwor er die Ncichstagsaufivsuug herauf, vor der sich zu fürchten er
ernstliche Gründe hatte, wie üZura, zeigt, und außerdem kränkte er eine Anzahl
seiner alten Getreuen, nämlich die, deren Sinn nach dem Hofe steht; „Wadl-
strümpfler" nennt sie der „Vorwärts." In seiner Ratlosigkeit wählte er das
zweite Übel, das er für das kleinere hielt, und siehe da, es war das größere!

Verdient haben die Herren ihre Niederlage schon durch ihren mit der
Waffe frecher Lüge geführten Kampf gegen den Volksschulgesetzentwurf des
Grafen Zedlitz. Die Annahme des Gesetzes hätte die Volksschule nicht kon¬
fessioneller gemacht, als sie von jeher gewesen ist, aber es enthielt einen echt
liberalen, echt freisinnigen .Keim: die Zulassung von Privatschulen; einen
Keim, dessen Ausgestaltung eine Unzahl von Schwierigkeiten gehoben und, als
erster Schritt der Erlösung von büreaukratischen Zwange, auch für die Lösung
der Schulfrage im allgemeinen von segensreichen Folgen gewesen sein würde.
Gerade dieser echt freisinnige, echt liberale Keim aber war es, vor dem sich diese
liberalen und freisinnigen Ritter vom Geiste fürchteten. Ja, wenn die Frei¬
sinnigen eine zwar bürgerliche und ans dem Boden der gegenwärtigen Gesell¬
schaftsordnung stehende, aber wirklich demokratische Partei wären, die den
kleinen Mann gegen den Kapitalisten und die Volksrechte gegen Polizei¬
willkür verteidigte, dann müßte man ihre Zertrümmerung aufrichtig bedauern.
So aber sind sie zur Judenschutztruppe herabgesunken, bekämpfen nnr eine
Form des Großkapitals, den Großgrundbesitz, um die Aufmerksamkeit und den
Haß von den andern beiden Formen abzulenken, verhöhnen und hindern die
Bestrebungen der Handwerker und Bauern nach Unabhängigkeit vom Kapital,
stellen sich im Kampfe der Arbeit gegen das Großkapital ganz und gar auf
die Seite des letztern, und schreien selbst am lautesten nach der Polizei, der
Zensur und dein Staatsanwalt, wo immer der Wind der Freiheit nicht dem
Gegner, sondern ihnen ins Gesicht bläst.

Da hatten wir nun die eigentliche Bedeutung der Wahlen. Mit der Ver¬
nichtung des bürgerlichen Liberalismus ist die Periode des politischen Partei¬
lebens vorläufig geschlossen und eine neue eröffnet, in der das öffentliche
Leben nnr noch vom Klassengegensätze beherrscht wird. Nur zwei große Par¬
teien bleiben uns übrig: die der Reichen und die der Armen, die der sicher


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[0017] Zur Lage gebauten nichr hätten, war dadurch den Nationalliberalen ihre Haltung vor¬ geschrieben. Denn wie das Zentrum vom Kulturkampf, so lebt die national¬ liberale Partei, die abgesehen von kirchlichen Dingen kein grundsätzlicher Unterschied mehr von den Konservativen trennt, nur noch von der Befehdung des Zentrums; sie mußte also fortan die Militürvorlage entschieden vertreten. Nun geriet Eugen Richter in die gräßlichste Verlegenheit. Wollte er die Militärvvrlagc retten, so mußte er eine sehr bedeutende Anzahl seiner Truppen, ja sogar das Gros nbkommandiren und das Odium der Wähler allein auf sich und seine Partei nehmen. Half er dem Zentrum die Vorlage zu Falle bringen, so beschwor er die Ncichstagsaufivsuug herauf, vor der sich zu fürchten er ernstliche Gründe hatte, wie üZura, zeigt, und außerdem kränkte er eine Anzahl seiner alten Getreuen, nämlich die, deren Sinn nach dem Hofe steht; „Wadl- strümpfler" nennt sie der „Vorwärts." In seiner Ratlosigkeit wählte er das zweite Übel, das er für das kleinere hielt, und siehe da, es war das größere! Verdient haben die Herren ihre Niederlage schon durch ihren mit der Waffe frecher Lüge geführten Kampf gegen den Volksschulgesetzentwurf des Grafen Zedlitz. Die Annahme des Gesetzes hätte die Volksschule nicht kon¬ fessioneller gemacht, als sie von jeher gewesen ist, aber es enthielt einen echt liberalen, echt freisinnigen .Keim: die Zulassung von Privatschulen; einen Keim, dessen Ausgestaltung eine Unzahl von Schwierigkeiten gehoben und, als erster Schritt der Erlösung von büreaukratischen Zwange, auch für die Lösung der Schulfrage im allgemeinen von segensreichen Folgen gewesen sein würde. Gerade dieser echt freisinnige, echt liberale Keim aber war es, vor dem sich diese liberalen und freisinnigen Ritter vom Geiste fürchteten. Ja, wenn die Frei¬ sinnigen eine zwar bürgerliche und ans dem Boden der gegenwärtigen Gesell¬ schaftsordnung stehende, aber wirklich demokratische Partei wären, die den kleinen Mann gegen den Kapitalisten und die Volksrechte gegen Polizei¬ willkür verteidigte, dann müßte man ihre Zertrümmerung aufrichtig bedauern. So aber sind sie zur Judenschutztruppe herabgesunken, bekämpfen nnr eine Form des Großkapitals, den Großgrundbesitz, um die Aufmerksamkeit und den Haß von den andern beiden Formen abzulenken, verhöhnen und hindern die Bestrebungen der Handwerker und Bauern nach Unabhängigkeit vom Kapital, stellen sich im Kampfe der Arbeit gegen das Großkapital ganz und gar auf die Seite des letztern, und schreien selbst am lautesten nach der Polizei, der Zensur und dein Staatsanwalt, wo immer der Wind der Freiheit nicht dem Gegner, sondern ihnen ins Gesicht bläst. Da hatten wir nun die eigentliche Bedeutung der Wahlen. Mit der Ver¬ nichtung des bürgerlichen Liberalismus ist die Periode des politischen Partei¬ lebens vorläufig geschlossen und eine neue eröffnet, in der das öffentliche Leben nnr noch vom Klassengegensätze beherrscht wird. Nur zwei große Par¬ teien bleiben uns übrig: die der Reichen und die der Armen, die der sicher Grenzboten til 18W 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/17>, abgerufen am 01.09.2024.