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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Vrama

eine Autorität beschwatzt. Wäre es wohl denkbar, daß Sophokles diese Ge¬
stalt hätte schaffen und auf die Bühne bringen können, wenn sich ihr die
Athener uicht seelenverwandt gesuhlt hätten? In Fleisch und Blut verkörpert,
wird man freilich eine solche Jdealgcstalt in Athen selten genug angetroffen
haben, desto öfter Jünglinge von der Art des liebenswürdigen und schalk¬
haften Ion, der mit seinem schuldlosen, aber zugleich mühe- und gefahrlosen
Leben im bescheidnen Tempeldienste von Herzen zufrieden ist, jedoch auch ein
höheres Glück, wenn es ihm beschieden wird, nicht von sich weist und sich
den Gott als Vater und die Königin als Mutter gern gefallen läßt, ein Bild
derer, die gut bleiben, weil und so lange ihnen das Gute leicht gemacht wird.

Freilich, wurde der schöne Charakter für eine willenlos wachsende Blume
augesehen und die Herzensgüte des edeln Menschen für eine von aller Selbst-
thütigkeit so unabhängige Eigenschaft, wie die Geduld des Schafes und die
Sanftmut des Rindes, so würde dadurch der Begriff der Sittlichkeit hinfällig.
Daß dies aber nicht die Meinung der Griechen war, hat ja schon die Zer¬
gliederung der Eumeniden gezeigt. Das Gute, wozu sich der gute Mensch
von selbst aufgelegt und gezogen fühlt, erscheint als Erfüllung eines ewigen
göttlichen Gesetzes, wogegen der Mensch auch freveln kann, und durch dessen
Übertretung er den rächenden Göttern verfällt. Wie die Hellenen jedes große
Unglück als eine Strafe für Frevel, namentlich für Übermut auffaßten, das
ist zu bekannt, als daß wir dabei verweilen sollten. Und wird hie und da
der Neid der Götter als Urheber des Unheils genannt, so ist darunter doch
nicht das gewöhnliche Laster des Neides zu verstehen, der die Götter unter
die bessern Menschen erniedrigen würde, sondern eine berechtigte Reaktion der
göttlichen Weltmacht gegen die Überhebung der Großen und Gliicklichen unter
den Sterblichen. Jene Übereinstimmung des Willens mit dem göttlichen Ge¬
setze nun, die sich auch unter Widerwärtigkeiten bewähren soll, wird vor allem
Sinnengenuß als das wahre und höchste Glück gepriesen. In des Aischylos
Agamemnon singt der Chor:


Wie Zeus trifft, mag um" hier erkennen!
Und sehn kann, wer den Spuren nachgeht:
Sie Sälen, wie er mähte!
Irgend wer leugnet, daß die Götter
Hinzusehn würdigen,
Wenn auch ein Mensch Heiligstes

kein Raum gelassen. Und doch ist es nur natürlich, anzunehmen, daß gerade der Mensch, der
"von selbst," ohne sich erst besinnen und überwinden zu müssen, ohne sich also erst zu be¬
stimmen, das Gute thut, der eigentlich Sittliche sei." Grundriß einer einheitlichen
Trieblehre wiu Standpunkte des Determinismus. Von Julius Duboc. Leipzig, Otto
Wigand, 1392; S. 203. Wir kennen wenig Schriften, deren Auffassung sittlicher Dinge der
unsern so nahe käme, wie dieses vortreffliche, schon geschriebne und nicht sehr umfang¬
reiche Buch.
Die ätherische Volksmoral im Vrama

eine Autorität beschwatzt. Wäre es wohl denkbar, daß Sophokles diese Ge¬
stalt hätte schaffen und auf die Bühne bringen können, wenn sich ihr die
Athener uicht seelenverwandt gesuhlt hätten? In Fleisch und Blut verkörpert,
wird man freilich eine solche Jdealgcstalt in Athen selten genug angetroffen
haben, desto öfter Jünglinge von der Art des liebenswürdigen und schalk¬
haften Ion, der mit seinem schuldlosen, aber zugleich mühe- und gefahrlosen
Leben im bescheidnen Tempeldienste von Herzen zufrieden ist, jedoch auch ein
höheres Glück, wenn es ihm beschieden wird, nicht von sich weist und sich
den Gott als Vater und die Königin als Mutter gern gefallen läßt, ein Bild
derer, die gut bleiben, weil und so lange ihnen das Gute leicht gemacht wird.

Freilich, wurde der schöne Charakter für eine willenlos wachsende Blume
augesehen und die Herzensgüte des edeln Menschen für eine von aller Selbst-
thütigkeit so unabhängige Eigenschaft, wie die Geduld des Schafes und die
Sanftmut des Rindes, so würde dadurch der Begriff der Sittlichkeit hinfällig.
Daß dies aber nicht die Meinung der Griechen war, hat ja schon die Zer¬
gliederung der Eumeniden gezeigt. Das Gute, wozu sich der gute Mensch
von selbst aufgelegt und gezogen fühlt, erscheint als Erfüllung eines ewigen
göttlichen Gesetzes, wogegen der Mensch auch freveln kann, und durch dessen
Übertretung er den rächenden Göttern verfällt. Wie die Hellenen jedes große
Unglück als eine Strafe für Frevel, namentlich für Übermut auffaßten, das
ist zu bekannt, als daß wir dabei verweilen sollten. Und wird hie und da
der Neid der Götter als Urheber des Unheils genannt, so ist darunter doch
nicht das gewöhnliche Laster des Neides zu verstehen, der die Götter unter
die bessern Menschen erniedrigen würde, sondern eine berechtigte Reaktion der
göttlichen Weltmacht gegen die Überhebung der Großen und Gliicklichen unter
den Sterblichen. Jene Übereinstimmung des Willens mit dem göttlichen Ge¬
setze nun, die sich auch unter Widerwärtigkeiten bewähren soll, wird vor allem
Sinnengenuß als das wahre und höchste Glück gepriesen. In des Aischylos
Agamemnon singt der Chor:


Wie Zeus trifft, mag um» hier erkennen!
Und sehn kann, wer den Spuren nachgeht:
Sie Sälen, wie er mähte!
Irgend wer leugnet, daß die Götter
Hinzusehn würdigen,
Wenn auch ein Mensch Heiligstes

kein Raum gelassen. Und doch ist es nur natürlich, anzunehmen, daß gerade der Mensch, der
»von selbst,« ohne sich erst besinnen und überwinden zu müssen, ohne sich also erst zu be¬
stimmen, das Gute thut, der eigentlich Sittliche sei." Grundriß einer einheitlichen
Trieblehre wiu Standpunkte des Determinismus. Von Julius Duboc. Leipzig, Otto
Wigand, 1392; S. 203. Wir kennen wenig Schriften, deren Auffassung sittlicher Dinge der
unsern so nahe käme, wie dieses vortreffliche, schon geschriebne und nicht sehr umfang¬
reiche Buch.
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[0167] Die ätherische Volksmoral im Vrama eine Autorität beschwatzt. Wäre es wohl denkbar, daß Sophokles diese Ge¬ stalt hätte schaffen und auf die Bühne bringen können, wenn sich ihr die Athener uicht seelenverwandt gesuhlt hätten? In Fleisch und Blut verkörpert, wird man freilich eine solche Jdealgcstalt in Athen selten genug angetroffen haben, desto öfter Jünglinge von der Art des liebenswürdigen und schalk¬ haften Ion, der mit seinem schuldlosen, aber zugleich mühe- und gefahrlosen Leben im bescheidnen Tempeldienste von Herzen zufrieden ist, jedoch auch ein höheres Glück, wenn es ihm beschieden wird, nicht von sich weist und sich den Gott als Vater und die Königin als Mutter gern gefallen läßt, ein Bild derer, die gut bleiben, weil und so lange ihnen das Gute leicht gemacht wird. Freilich, wurde der schöne Charakter für eine willenlos wachsende Blume augesehen und die Herzensgüte des edeln Menschen für eine von aller Selbst- thütigkeit so unabhängige Eigenschaft, wie die Geduld des Schafes und die Sanftmut des Rindes, so würde dadurch der Begriff der Sittlichkeit hinfällig. Daß dies aber nicht die Meinung der Griechen war, hat ja schon die Zer¬ gliederung der Eumeniden gezeigt. Das Gute, wozu sich der gute Mensch von selbst aufgelegt und gezogen fühlt, erscheint als Erfüllung eines ewigen göttlichen Gesetzes, wogegen der Mensch auch freveln kann, und durch dessen Übertretung er den rächenden Göttern verfällt. Wie die Hellenen jedes große Unglück als eine Strafe für Frevel, namentlich für Übermut auffaßten, das ist zu bekannt, als daß wir dabei verweilen sollten. Und wird hie und da der Neid der Götter als Urheber des Unheils genannt, so ist darunter doch nicht das gewöhnliche Laster des Neides zu verstehen, der die Götter unter die bessern Menschen erniedrigen würde, sondern eine berechtigte Reaktion der göttlichen Weltmacht gegen die Überhebung der Großen und Gliicklichen unter den Sterblichen. Jene Übereinstimmung des Willens mit dem göttlichen Ge¬ setze nun, die sich auch unter Widerwärtigkeiten bewähren soll, wird vor allem Sinnengenuß als das wahre und höchste Glück gepriesen. In des Aischylos Agamemnon singt der Chor: Wie Zeus trifft, mag um» hier erkennen! Und sehn kann, wer den Spuren nachgeht: Sie Sälen, wie er mähte! Irgend wer leugnet, daß die Götter Hinzusehn würdigen, Wenn auch ein Mensch Heiligstes kein Raum gelassen. Und doch ist es nur natürlich, anzunehmen, daß gerade der Mensch, der »von selbst,« ohne sich erst besinnen und überwinden zu müssen, ohne sich also erst zu be¬ stimmen, das Gute thut, der eigentlich Sittliche sei." Grundriß einer einheitlichen Trieblehre wiu Standpunkte des Determinismus. Von Julius Duboc. Leipzig, Otto Wigand, 1392; S. 203. Wir kennen wenig Schriften, deren Auffassung sittlicher Dinge der unsern so nahe käme, wie dieses vortreffliche, schon geschriebne und nicht sehr umfang¬ reiche Buch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/167>, abgerufen am 24.11.2024.