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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

nehmen, und sowohl Neoptolemos wie der ans seiner Schiffsmannschaft be¬
stehende Chor entschließen sich dazu, vom Mitleid überwältigt. Neoptolemos
warnt seine Mannen, nicht voreilig zuzusagen, denn sie sind, während er mit
Philoktet unterhandelt, in der Ferne stehen geblieben -- auf Philoktets Bitten,
damit sie nicht, durch den Gestank der Wunde abgeschreckt, es so machten, wie
es bisher alle an der Insel landenden gemacht Hütten, deren keiner sich mit
einem so ekelhaften Kranken habe schleppen mögen. Nach einem heftigen Anfall
seines Übels, worauf, wie er weiß, tiefer Schlummer zu folgen Pflegt, giebt
Philoktet dem Neoptolemos seine Waffen in Verwahrung. Der Chor wünscht
zwar dem Kranken Erleichterung und alles Gute, erinnert aber doch den
Neoptolemos daran, daß er jetzt eigentlich seinen Zweck erreicht habe und mit
dem Bogen gehen könne. Neoptolemos erwidert, dem Seherworte nach sei
nicht allein der Bogen, sondern auch der Mann vor Ilion nötig. Man er¬
wartet also sein Erwachen. Philoktet ist hoch erfreut, da er die Fremdlinge
wieder erblickt; hatte er doch gefürchtet, sie würden, während er schlummerte,
ihn verlassen. Mit Neoptolemos Hilfe richtet er sich auf, und von ihm ge¬
stützt, tritt er die Wanderung zum Schiffe an. Nun aber fällt es dem Jüng¬
linge schwer aufs Herz, daß jetzt binnen wenigen Minuten der Betrug offenbar
werden müsse. Er seufzt: Weh, weh mir, was werd' ich nun weiter thun!
Philoktet fragt verwundert, nach und nach kommt das Geständnis heraus.
Der Betrogne bricht in Verwünschungen aus und fordert seine Waffen zurück.
Schon steht Neoptolemos nach schwerem inneren Kampf im Begriff, sie zu über¬
geben, da tritt herbeieilend Odysseus dazwischen, hindert es und erklärt dem
Philoktet, wenn er nicht gutwillig komme, werde man Gewalt brauchen. Nach¬
dem sich alle Mühe, den Kranken zum Mitgehen zu überreden, vergeblich er¬
wiesen hat, entfernt sich Neoptolemos vorläufig mit Odysseus, die Schiffe zur
Abfahrt zu rüsten, doch befiehlt er vorher seinen Leuten, einstweilen bei dem
Elenden zu bleibe":


Odysseus wird mich schelten, daß Erbarmen mich
Erweiche hat; aber bleibet, wenn es dieser wünscht,
Bis uns die Mannschaft für die Abfahrt unser Schiff
Bereit gemacht und zu den Göttern wir gefleht;
Vielleicht entscheidet dieser Mann indessen sich
Für bessre Einsicht.

In der Zwischenzeit läßt es der Chor an Zureden und vernünftigen Vor¬
stellungen bei Philoktet nicht fehlen: mir an ihm liege es, seinem Elend ein
Ende zu machen. Schließlich zieht sich der Kranke, halb unsinnig vor Schmerz
und Seelenangst, in seine Höhle zurück. Da kommt Neoptolemos mit dem
Bogen gelaufen, ihm nach eilt Odysseus. Was er da wolle? ruft dieser
ihm nach.


Neoptolemos

Gut machen will ich alle meine frühre Schuld.


Die ätherische Volksmoral im Drama

nehmen, und sowohl Neoptolemos wie der ans seiner Schiffsmannschaft be¬
stehende Chor entschließen sich dazu, vom Mitleid überwältigt. Neoptolemos
warnt seine Mannen, nicht voreilig zuzusagen, denn sie sind, während er mit
Philoktet unterhandelt, in der Ferne stehen geblieben — auf Philoktets Bitten,
damit sie nicht, durch den Gestank der Wunde abgeschreckt, es so machten, wie
es bisher alle an der Insel landenden gemacht Hütten, deren keiner sich mit
einem so ekelhaften Kranken habe schleppen mögen. Nach einem heftigen Anfall
seines Übels, worauf, wie er weiß, tiefer Schlummer zu folgen Pflegt, giebt
Philoktet dem Neoptolemos seine Waffen in Verwahrung. Der Chor wünscht
zwar dem Kranken Erleichterung und alles Gute, erinnert aber doch den
Neoptolemos daran, daß er jetzt eigentlich seinen Zweck erreicht habe und mit
dem Bogen gehen könne. Neoptolemos erwidert, dem Seherworte nach sei
nicht allein der Bogen, sondern auch der Mann vor Ilion nötig. Man er¬
wartet also sein Erwachen. Philoktet ist hoch erfreut, da er die Fremdlinge
wieder erblickt; hatte er doch gefürchtet, sie würden, während er schlummerte,
ihn verlassen. Mit Neoptolemos Hilfe richtet er sich auf, und von ihm ge¬
stützt, tritt er die Wanderung zum Schiffe an. Nun aber fällt es dem Jüng¬
linge schwer aufs Herz, daß jetzt binnen wenigen Minuten der Betrug offenbar
werden müsse. Er seufzt: Weh, weh mir, was werd' ich nun weiter thun!
Philoktet fragt verwundert, nach und nach kommt das Geständnis heraus.
Der Betrogne bricht in Verwünschungen aus und fordert seine Waffen zurück.
Schon steht Neoptolemos nach schwerem inneren Kampf im Begriff, sie zu über¬
geben, da tritt herbeieilend Odysseus dazwischen, hindert es und erklärt dem
Philoktet, wenn er nicht gutwillig komme, werde man Gewalt brauchen. Nach¬
dem sich alle Mühe, den Kranken zum Mitgehen zu überreden, vergeblich er¬
wiesen hat, entfernt sich Neoptolemos vorläufig mit Odysseus, die Schiffe zur
Abfahrt zu rüsten, doch befiehlt er vorher seinen Leuten, einstweilen bei dem
Elenden zu bleibe»:


Odysseus wird mich schelten, daß Erbarmen mich
Erweiche hat; aber bleibet, wenn es dieser wünscht,
Bis uns die Mannschaft für die Abfahrt unser Schiff
Bereit gemacht und zu den Göttern wir gefleht;
Vielleicht entscheidet dieser Mann indessen sich
Für bessre Einsicht.

In der Zwischenzeit läßt es der Chor an Zureden und vernünftigen Vor¬
stellungen bei Philoktet nicht fehlen: mir an ihm liege es, seinem Elend ein
Ende zu machen. Schließlich zieht sich der Kranke, halb unsinnig vor Schmerz
und Seelenangst, in seine Höhle zurück. Da kommt Neoptolemos mit dem
Bogen gelaufen, ihm nach eilt Odysseus. Was er da wolle? ruft dieser
ihm nach.


Neoptolemos

Gut machen will ich alle meine frühre Schuld.


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[0165] Die ätherische Volksmoral im Drama nehmen, und sowohl Neoptolemos wie der ans seiner Schiffsmannschaft be¬ stehende Chor entschließen sich dazu, vom Mitleid überwältigt. Neoptolemos warnt seine Mannen, nicht voreilig zuzusagen, denn sie sind, während er mit Philoktet unterhandelt, in der Ferne stehen geblieben — auf Philoktets Bitten, damit sie nicht, durch den Gestank der Wunde abgeschreckt, es so machten, wie es bisher alle an der Insel landenden gemacht Hütten, deren keiner sich mit einem so ekelhaften Kranken habe schleppen mögen. Nach einem heftigen Anfall seines Übels, worauf, wie er weiß, tiefer Schlummer zu folgen Pflegt, giebt Philoktet dem Neoptolemos seine Waffen in Verwahrung. Der Chor wünscht zwar dem Kranken Erleichterung und alles Gute, erinnert aber doch den Neoptolemos daran, daß er jetzt eigentlich seinen Zweck erreicht habe und mit dem Bogen gehen könne. Neoptolemos erwidert, dem Seherworte nach sei nicht allein der Bogen, sondern auch der Mann vor Ilion nötig. Man er¬ wartet also sein Erwachen. Philoktet ist hoch erfreut, da er die Fremdlinge wieder erblickt; hatte er doch gefürchtet, sie würden, während er schlummerte, ihn verlassen. Mit Neoptolemos Hilfe richtet er sich auf, und von ihm ge¬ stützt, tritt er die Wanderung zum Schiffe an. Nun aber fällt es dem Jüng¬ linge schwer aufs Herz, daß jetzt binnen wenigen Minuten der Betrug offenbar werden müsse. Er seufzt: Weh, weh mir, was werd' ich nun weiter thun! Philoktet fragt verwundert, nach und nach kommt das Geständnis heraus. Der Betrogne bricht in Verwünschungen aus und fordert seine Waffen zurück. Schon steht Neoptolemos nach schwerem inneren Kampf im Begriff, sie zu über¬ geben, da tritt herbeieilend Odysseus dazwischen, hindert es und erklärt dem Philoktet, wenn er nicht gutwillig komme, werde man Gewalt brauchen. Nach¬ dem sich alle Mühe, den Kranken zum Mitgehen zu überreden, vergeblich er¬ wiesen hat, entfernt sich Neoptolemos vorläufig mit Odysseus, die Schiffe zur Abfahrt zu rüsten, doch befiehlt er vorher seinen Leuten, einstweilen bei dem Elenden zu bleibe»: Odysseus wird mich schelten, daß Erbarmen mich Erweiche hat; aber bleibet, wenn es dieser wünscht, Bis uns die Mannschaft für die Abfahrt unser Schiff Bereit gemacht und zu den Göttern wir gefleht; Vielleicht entscheidet dieser Mann indessen sich Für bessre Einsicht. In der Zwischenzeit läßt es der Chor an Zureden und vernünftigen Vor¬ stellungen bei Philoktet nicht fehlen: mir an ihm liege es, seinem Elend ein Ende zu machen. Schließlich zieht sich der Kranke, halb unsinnig vor Schmerz und Seelenangst, in seine Höhle zurück. Da kommt Neoptolemos mit dem Bogen gelaufen, ihm nach eilt Odysseus. Was er da wolle? ruft dieser ihm nach. Neoptolemos Gut machen will ich alle meine frühre Schuld.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/165>, abgerufen am 23.11.2024.