Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.!pas lehren uns die Wahlen? ihre Zeit wäre doch erst gekommen, wenn sich auf ihren kräftigen Schultern !pas lehren uns die Wahlen? ihre Zeit wäre doch erst gekommen, wenn sich auf ihren kräftigen Schultern <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0162" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215252"/> <fw type="header" place="top"> !pas lehren uns die Wahlen?</fw><lb/> <p xml:id="ID_520" prev="#ID_519"> ihre Zeit wäre doch erst gekommen, wenn sich auf ihren kräftigen Schultern<lb/> der Aufbau der neuen Gesellschaftsorganisation vollzöge, wenn jeder Stand<lb/> selbst energisch für sein Dasein einträte, wenn eine echt nationale Wirtschafts¬<lb/> politik die Losung würde. Jetzt erlaubt sich sogar die Lieblingspartei des<lb/> allgemeinen Wahlrechts, die Sozialdemokratie, den Mittelstand an sich heran¬<lb/> zulocken, indem sie ihm in grellen Farben vorhält, was alles an ihm gesündigt<lb/> wird: „Hinter der Militürvorlage, hinter dem Militarismus — schreibt der<lb/> »Vorwärts« — steht das kapitalistische Gesellschaftssystem, das auf der Aus¬<lb/> beutung und Knechtung des arbeitenden Volks beruht und den Mittelstand<lb/> in Stadt und Land: die Handwerker, Bauern und Kleingewerbtreibenden<lb/> jeder Art unbarmherzig zu Grunde richtet und in einem »starken Heer« seine<lb/> festeste Stütze, in dem allgemeinen Wahlrecht die größte Gefahr sieht." Die<lb/> Sozialdemokratin die sich als Retterin des Mittelstandes aufspielt, das ist<lb/> lächerlich und traurig in einem Atem! Sie spielt die Rolle des Arztes, der<lb/> dem Patienten die Fortsetzung der bisherigen Lebensweise unbedingt verbietet<lb/> und ihm Beschränkung des Daseinsgenusses oder eine Hungerkur empfiehlt,<lb/> und bestreitet dabei wie der Arzt, daß sie ein Feind des Patienten sei. Die<lb/> Diagnose der Sozialdemokratie ist nur halb richtig, und die Therapie ist ganz<lb/> verkehrt, befördert eigensüchtig nicht das Wohl des Mittel-, sondern das des<lb/> Arbeiterstandes. Die Macht der Partei beruht darauf, daß sie die politische<lb/> und die wirtschaftliche oder gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter, die zu<lb/> ihr stehen, neben einander hergehen läßt und ihre Parteitage sowie ihre Ge¬<lb/> werkschaftskongresse abhält; diese Taktik ist sehr angebracht und sehr nach¬<lb/> ahmenswert. Wenn einmal eine Regierung, um dem unausgesetzten Anschwellen<lb/> der Sozialdemokratie zu begegnen, diese Wahlparole für das gesamte Volk<lb/> ausgeben wollte: Treminng der politischen und der wirtschaftlichen Interessen,<lb/> organisatorische Fürsorge für alle, so würden die natürlichen Gruppen „wie<lb/> Krystalle zusammenschießen," und die Gesellschaftsorganisation wäre sofort da.<lb/> Zugleich würde aber auch das Ende der Sozialdemokratie dasein. Bis es aber<lb/> dahin kommt, werden wir wohl leider noch öfter in dem alten Stile wählen<lb/> müssen!</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0162]
!pas lehren uns die Wahlen?
ihre Zeit wäre doch erst gekommen, wenn sich auf ihren kräftigen Schultern
der Aufbau der neuen Gesellschaftsorganisation vollzöge, wenn jeder Stand
selbst energisch für sein Dasein einträte, wenn eine echt nationale Wirtschafts¬
politik die Losung würde. Jetzt erlaubt sich sogar die Lieblingspartei des
allgemeinen Wahlrechts, die Sozialdemokratie, den Mittelstand an sich heran¬
zulocken, indem sie ihm in grellen Farben vorhält, was alles an ihm gesündigt
wird: „Hinter der Militürvorlage, hinter dem Militarismus — schreibt der
»Vorwärts« — steht das kapitalistische Gesellschaftssystem, das auf der Aus¬
beutung und Knechtung des arbeitenden Volks beruht und den Mittelstand
in Stadt und Land: die Handwerker, Bauern und Kleingewerbtreibenden
jeder Art unbarmherzig zu Grunde richtet und in einem »starken Heer« seine
festeste Stütze, in dem allgemeinen Wahlrecht die größte Gefahr sieht." Die
Sozialdemokratin die sich als Retterin des Mittelstandes aufspielt, das ist
lächerlich und traurig in einem Atem! Sie spielt die Rolle des Arztes, der
dem Patienten die Fortsetzung der bisherigen Lebensweise unbedingt verbietet
und ihm Beschränkung des Daseinsgenusses oder eine Hungerkur empfiehlt,
und bestreitet dabei wie der Arzt, daß sie ein Feind des Patienten sei. Die
Diagnose der Sozialdemokratie ist nur halb richtig, und die Therapie ist ganz
verkehrt, befördert eigensüchtig nicht das Wohl des Mittel-, sondern das des
Arbeiterstandes. Die Macht der Partei beruht darauf, daß sie die politische
und die wirtschaftliche oder gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter, die zu
ihr stehen, neben einander hergehen läßt und ihre Parteitage sowie ihre Ge¬
werkschaftskongresse abhält; diese Taktik ist sehr angebracht und sehr nach¬
ahmenswert. Wenn einmal eine Regierung, um dem unausgesetzten Anschwellen
der Sozialdemokratie zu begegnen, diese Wahlparole für das gesamte Volk
ausgeben wollte: Treminng der politischen und der wirtschaftlichen Interessen,
organisatorische Fürsorge für alle, so würden die natürlichen Gruppen „wie
Krystalle zusammenschießen," und die Gesellschaftsorganisation wäre sofort da.
Zugleich würde aber auch das Ende der Sozialdemokratie dasein. Bis es aber
dahin kommt, werden wir wohl leider noch öfter in dem alten Stile wählen
müssen!
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