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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Joas lehren uns die Wahlen?

streben, so machen sich die Parteien einander immer schärfere Konkurrenz, um
sich gegenseitig Stimmen abzujagen, und haben immer mehr Mühe, in den
Wahlkreisen eine Mehrheit von Stimmen an sich zu fesseln. Der Handwerker
würde, wie er es bei dieser Reichstagswahl öfter ausgesprochen hat, am liebsten
seines gleichen, einen Handwerker, wählen und stimmt nur notgedrungen für
eine politische Partei, der Landwirt zöge es gleichfalls vor,-einen Landwirt
zu wühlen, anstatt konservativ oder nativnalliberal zu stimmen, und so weiter.
Daher erklärt sich auch ein gewisser demokratischer Zug, der den letzten Reichs¬
tagswahlen anhaftete, indem sich die verschiedensten bürgerlichen Verufskreise
mehr als jemals zuvor um Mandate bewarben bis zum Volksschullehrer und
Postassistenten herab. Auf dieselben Gründe geht die Abneigung gegen die ein¬
seitig von den großstädtischen Parteileitungen ausgesuchten Kandidaten, die sich
hie und da gezeigt hat, und die kein eigentlicher "Partikularismus" ist, zurück.
Es ist dem Kaufmann, der vielleicht liberal gestimmt hat, nicht gerade um
den "Liberalismus" zu thun gewesen, ebensowenig dem Handwerker, der etwa
konservativ gewühlt hat, um die politische "Reaktion" im ältern Sinne des
Worts. "Konservativ" ist nicht mehr konservativ, "liberal" ist nicht mehr
liberal, diese Begriffe sind nicht mehr zu umgrenzen. Der Negierung aber
wird es nun schwerer und schwerer, mit Hilfe der parlamentarischen Parteien
das Staatsschiff gut und sicher zu steuern. Das Schicksal wirtschaftlicher und
sozialpolitischer Vorlagen ist bei der bunten Zusammensetzung des Parlaments
und bei der Verquickung von Politik und Berufsinteresse völlig unberechenbar.

Schon die Ansprüche, mit denen die bürgerlichen Berufskreise dnrch die
Vermittlung des Parlamentarismus an sie hinantreteu, sowie die Notwen¬
digkeit, sich mit den sogenannten bürgerlichen oder auch "staatserhaltenden"
Parteien, die unter sich nicht einig sind, zu verständigen, machen es der Re¬
gierung schwer, den rechten Weg zu finden; aber wie bedrohlich und gefährlich
erscheint ihr nicht erst das ungestüme Drängen einer sich bei jeder Neichs-
tagswcchl Verstürkenden unbürgerlichen Partei, die die parlamentarische Ver¬
tretung der großen arbeitenden Masse an sich gerissen hat! Die Sozialdemo-
kratie hat sich, wie jeder urteilsfähige Politiker voraussehen mußte, wieder
eine Reihe neuer Mandate erobert. Unter den 397 Abgeordneten werden
44 sein, die den sogenannten "Umsturz alles Bestehenden" wollen, während
die übrigen die sogenannte "Erhaltung des Bestehenden" wollen. Die Sozial¬
demokratie war mit dem Schlachtrufe: "Das ganze Deutschland soll es sein"
in den Wahlkampf gezogen und hatte fast in allen Wahlkreisen ihre "Arbeiter¬
kandidaten" mit den der bürgerlichen Welt meist merkwürdig unbekannt er¬
scheinenden Namen aufgestellt. Ihr größter Erfolg ist die Eroberung der
Großstadt gewesen, die bekanntlich in Deutschland an der Spitze der Zivili¬
sation marschiert. "Wenn auch das deutsche Reich sich nicht rühmen kann,"
schrieb der "Vorwärts," "um der Spitze der Zivilisation zu marschieren, so


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streben, so machen sich die Parteien einander immer schärfere Konkurrenz, um
sich gegenseitig Stimmen abzujagen, und haben immer mehr Mühe, in den
Wahlkreisen eine Mehrheit von Stimmen an sich zu fesseln. Der Handwerker
würde, wie er es bei dieser Reichstagswahl öfter ausgesprochen hat, am liebsten
seines gleichen, einen Handwerker, wählen und stimmt nur notgedrungen für
eine politische Partei, der Landwirt zöge es gleichfalls vor,-einen Landwirt
zu wühlen, anstatt konservativ oder nativnalliberal zu stimmen, und so weiter.
Daher erklärt sich auch ein gewisser demokratischer Zug, der den letzten Reichs¬
tagswahlen anhaftete, indem sich die verschiedensten bürgerlichen Verufskreise
mehr als jemals zuvor um Mandate bewarben bis zum Volksschullehrer und
Postassistenten herab. Auf dieselben Gründe geht die Abneigung gegen die ein¬
seitig von den großstädtischen Parteileitungen ausgesuchten Kandidaten, die sich
hie und da gezeigt hat, und die kein eigentlicher „Partikularismus" ist, zurück.
Es ist dem Kaufmann, der vielleicht liberal gestimmt hat, nicht gerade um
den „Liberalismus" zu thun gewesen, ebensowenig dem Handwerker, der etwa
konservativ gewühlt hat, um die politische „Reaktion" im ältern Sinne des
Worts. „Konservativ" ist nicht mehr konservativ, „liberal" ist nicht mehr
liberal, diese Begriffe sind nicht mehr zu umgrenzen. Der Negierung aber
wird es nun schwerer und schwerer, mit Hilfe der parlamentarischen Parteien
das Staatsschiff gut und sicher zu steuern. Das Schicksal wirtschaftlicher und
sozialpolitischer Vorlagen ist bei der bunten Zusammensetzung des Parlaments
und bei der Verquickung von Politik und Berufsinteresse völlig unberechenbar.

Schon die Ansprüche, mit denen die bürgerlichen Berufskreise dnrch die
Vermittlung des Parlamentarismus an sie hinantreteu, sowie die Notwen¬
digkeit, sich mit den sogenannten bürgerlichen oder auch „staatserhaltenden"
Parteien, die unter sich nicht einig sind, zu verständigen, machen es der Re¬
gierung schwer, den rechten Weg zu finden; aber wie bedrohlich und gefährlich
erscheint ihr nicht erst das ungestüme Drängen einer sich bei jeder Neichs-
tagswcchl Verstürkenden unbürgerlichen Partei, die die parlamentarische Ver¬
tretung der großen arbeitenden Masse an sich gerissen hat! Die Sozialdemo-
kratie hat sich, wie jeder urteilsfähige Politiker voraussehen mußte, wieder
eine Reihe neuer Mandate erobert. Unter den 397 Abgeordneten werden
44 sein, die den sogenannten „Umsturz alles Bestehenden" wollen, während
die übrigen die sogenannte „Erhaltung des Bestehenden" wollen. Die Sozial¬
demokratie war mit dem Schlachtrufe: „Das ganze Deutschland soll es sein"
in den Wahlkampf gezogen und hatte fast in allen Wahlkreisen ihre „Arbeiter¬
kandidaten" mit den der bürgerlichen Welt meist merkwürdig unbekannt er¬
scheinenden Namen aufgestellt. Ihr größter Erfolg ist die Eroberung der
Großstadt gewesen, die bekanntlich in Deutschland an der Spitze der Zivili¬
sation marschiert. „Wenn auch das deutsche Reich sich nicht rühmen kann,"
schrieb der »Vorwärts,« „um der Spitze der Zivilisation zu marschieren, so


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[0158] Joas lehren uns die Wahlen? streben, so machen sich die Parteien einander immer schärfere Konkurrenz, um sich gegenseitig Stimmen abzujagen, und haben immer mehr Mühe, in den Wahlkreisen eine Mehrheit von Stimmen an sich zu fesseln. Der Handwerker würde, wie er es bei dieser Reichstagswahl öfter ausgesprochen hat, am liebsten seines gleichen, einen Handwerker, wählen und stimmt nur notgedrungen für eine politische Partei, der Landwirt zöge es gleichfalls vor,-einen Landwirt zu wühlen, anstatt konservativ oder nativnalliberal zu stimmen, und so weiter. Daher erklärt sich auch ein gewisser demokratischer Zug, der den letzten Reichs¬ tagswahlen anhaftete, indem sich die verschiedensten bürgerlichen Verufskreise mehr als jemals zuvor um Mandate bewarben bis zum Volksschullehrer und Postassistenten herab. Auf dieselben Gründe geht die Abneigung gegen die ein¬ seitig von den großstädtischen Parteileitungen ausgesuchten Kandidaten, die sich hie und da gezeigt hat, und die kein eigentlicher „Partikularismus" ist, zurück. Es ist dem Kaufmann, der vielleicht liberal gestimmt hat, nicht gerade um den „Liberalismus" zu thun gewesen, ebensowenig dem Handwerker, der etwa konservativ gewühlt hat, um die politische „Reaktion" im ältern Sinne des Worts. „Konservativ" ist nicht mehr konservativ, „liberal" ist nicht mehr liberal, diese Begriffe sind nicht mehr zu umgrenzen. Der Negierung aber wird es nun schwerer und schwerer, mit Hilfe der parlamentarischen Parteien das Staatsschiff gut und sicher zu steuern. Das Schicksal wirtschaftlicher und sozialpolitischer Vorlagen ist bei der bunten Zusammensetzung des Parlaments und bei der Verquickung von Politik und Berufsinteresse völlig unberechenbar. Schon die Ansprüche, mit denen die bürgerlichen Berufskreise dnrch die Vermittlung des Parlamentarismus an sie hinantreteu, sowie die Notwen¬ digkeit, sich mit den sogenannten bürgerlichen oder auch „staatserhaltenden" Parteien, die unter sich nicht einig sind, zu verständigen, machen es der Re¬ gierung schwer, den rechten Weg zu finden; aber wie bedrohlich und gefährlich erscheint ihr nicht erst das ungestüme Drängen einer sich bei jeder Neichs- tagswcchl Verstürkenden unbürgerlichen Partei, die die parlamentarische Ver¬ tretung der großen arbeitenden Masse an sich gerissen hat! Die Sozialdemo- kratie hat sich, wie jeder urteilsfähige Politiker voraussehen mußte, wieder eine Reihe neuer Mandate erobert. Unter den 397 Abgeordneten werden 44 sein, die den sogenannten „Umsturz alles Bestehenden" wollen, während die übrigen die sogenannte „Erhaltung des Bestehenden" wollen. Die Sozial¬ demokratie war mit dem Schlachtrufe: „Das ganze Deutschland soll es sein" in den Wahlkampf gezogen und hatte fast in allen Wahlkreisen ihre „Arbeiter¬ kandidaten" mit den der bürgerlichen Welt meist merkwürdig unbekannt er¬ scheinenden Namen aufgestellt. Ihr größter Erfolg ist die Eroberung der Großstadt gewesen, die bekanntlich in Deutschland an der Spitze der Zivili¬ sation marschiert. „Wenn auch das deutsche Reich sich nicht rühmen kann," schrieb der »Vorwärts,« „um der Spitze der Zivilisation zu marschieren, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/158>, abgerufen am 01.09.2024.