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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Mas lehren uns die Wahlen?

Viel früher ahnungslos in das kommende Unglück hineinzurennen, nämlich
als er in der berühmten Znknnftsstaatsdebatte, von allen Seiten bejubelt, die
Sozialisten, die ihm über sind, durch seine schönen Reden gegen einen nur auf
dem Programm stehenden, eingebildeten Zukunftsstaat umzubringen versuchte.

Aber Richter ist nicht der einzige, an dem sich begangne Fehler rächen.
Es ist sehr fraglich, ob die Negierung, die Richters Zukuuftsstaatsreden viel¬
leicht nicht ungern mit angehört, und die die Militärvorlage als einzige Wahl¬
parole ausgegeben hat, mit den vollzognen Wahlen ganz zufrieden ist. Freilich,
sie wird die von ihr so dringend ersehnte Vermehrung der Truppen durch-
setzen, und sie hat Ursache, darüber erfreut zu sein. Denn, wie die Dinge
nun einmal liegen, wird das Ansehen Deutschlands in gewisser Beziehung
wachsen, unsre Kriegsbereitschaft wird gesteigert werden. Die Elsaß-Lothringer
überzeugen sich allmählich, daß sie besser thun, sich mit den deutschen Ver¬
hältnissen zu befreunden, das gesamte Ausland ist geneigt, um die Überlegenheit
der Deutschen in einem künftigen Feldzuge zu glauben. Ja man kann in der
erhöhten Kriegstüchtigkeit sogar eine Niederlage der Sozialdemokratie erblicken,
insofern die Sozialdemokratie, die den "Militarismus" vernichten möchte, von
jeder militärischen Stärkung ähnlich wie von jedem Kriege ein zeitweiliges
Zurückdrängen der sozialistischen Bewegung befürchten muß. Aber in allem
übrigen sind die Wahlen eine ernste Warnung für die Regierungen. Vermeh¬
rung des Heers ist keine Hilfe gegen den "innern Feind." Die Juniwahlen
haben wenigstens den einen Nutzen gehabt, zu zeigen, welchen hohen Wert die
Massen des Volks auf die richtige Behandlung wirtschaftlicher und sozialer
Frage" legen. Man ist sogar genötigt, den Parteien, die gegen die Militär-
Vorlage aufgetreten sind, ein gewisses Verdienst zuzuerkennen, weil sie die Wich¬
tigkeit der Deckungsfrage nachdrücklich hervorgehoben haben. Man geht kaum
zu weit, wenn man vom wirtschaftlichen und sozialen Standpunkte aus die
Wahlen kurzweg als oppositionelle Wahlen bezeichnet. Es kann weder im
"alten" noch im "neuen Kurse" ewig so weiter gehen, wir müssen uns auf Ge¬
biete hinauswagen, die wir bis jetzt nicht recht den Mut hatten zu befahren.

Das Parteiwesen befindet sich in einer Übergangsperiode, in der nicht
nnr jede einzelne Partei, sondern auch die Regierung mit großen Schwierig¬
keiten zu kämpfen hat. Die politischen Parteien erhalten dadurch, daß sich
die wirtschaftlichen Interessentengruppen und die Berufskreise mit ihren Wün¬
schen und Beschwerden an sie hinandrüngen, ein ganz verändertes Aussehen.
Landwirte, Kaufleute, Handwerker, Beamte verlangen immer dringender die
Berücksichtigung von Lebensfragen, die sie nahe angehn, und wollen immer
weniger von den alten politischen Parteischablonen wissen. Die Stimmeuznhl,
über die die Stände und Klassen verfügen, steht der Partei in Aussicht, die
sich um ihre Forderungen zu kümmern verspricht. Da um aber uicht immer
die Interessen des einen auch die des andern sind, alle aber nach Befriedigung


Mas lehren uns die Wahlen?

Viel früher ahnungslos in das kommende Unglück hineinzurennen, nämlich
als er in der berühmten Znknnftsstaatsdebatte, von allen Seiten bejubelt, die
Sozialisten, die ihm über sind, durch seine schönen Reden gegen einen nur auf
dem Programm stehenden, eingebildeten Zukunftsstaat umzubringen versuchte.

Aber Richter ist nicht der einzige, an dem sich begangne Fehler rächen.
Es ist sehr fraglich, ob die Negierung, die Richters Zukuuftsstaatsreden viel¬
leicht nicht ungern mit angehört, und die die Militärvorlage als einzige Wahl¬
parole ausgegeben hat, mit den vollzognen Wahlen ganz zufrieden ist. Freilich,
sie wird die von ihr so dringend ersehnte Vermehrung der Truppen durch-
setzen, und sie hat Ursache, darüber erfreut zu sein. Denn, wie die Dinge
nun einmal liegen, wird das Ansehen Deutschlands in gewisser Beziehung
wachsen, unsre Kriegsbereitschaft wird gesteigert werden. Die Elsaß-Lothringer
überzeugen sich allmählich, daß sie besser thun, sich mit den deutschen Ver¬
hältnissen zu befreunden, das gesamte Ausland ist geneigt, um die Überlegenheit
der Deutschen in einem künftigen Feldzuge zu glauben. Ja man kann in der
erhöhten Kriegstüchtigkeit sogar eine Niederlage der Sozialdemokratie erblicken,
insofern die Sozialdemokratie, die den „Militarismus" vernichten möchte, von
jeder militärischen Stärkung ähnlich wie von jedem Kriege ein zeitweiliges
Zurückdrängen der sozialistischen Bewegung befürchten muß. Aber in allem
übrigen sind die Wahlen eine ernste Warnung für die Regierungen. Vermeh¬
rung des Heers ist keine Hilfe gegen den „innern Feind." Die Juniwahlen
haben wenigstens den einen Nutzen gehabt, zu zeigen, welchen hohen Wert die
Massen des Volks auf die richtige Behandlung wirtschaftlicher und sozialer
Frage» legen. Man ist sogar genötigt, den Parteien, die gegen die Militär-
Vorlage aufgetreten sind, ein gewisses Verdienst zuzuerkennen, weil sie die Wich¬
tigkeit der Deckungsfrage nachdrücklich hervorgehoben haben. Man geht kaum
zu weit, wenn man vom wirtschaftlichen und sozialen Standpunkte aus die
Wahlen kurzweg als oppositionelle Wahlen bezeichnet. Es kann weder im
„alten" noch im „neuen Kurse" ewig so weiter gehen, wir müssen uns auf Ge¬
biete hinauswagen, die wir bis jetzt nicht recht den Mut hatten zu befahren.

Das Parteiwesen befindet sich in einer Übergangsperiode, in der nicht
nnr jede einzelne Partei, sondern auch die Regierung mit großen Schwierig¬
keiten zu kämpfen hat. Die politischen Parteien erhalten dadurch, daß sich
die wirtschaftlichen Interessentengruppen und die Berufskreise mit ihren Wün¬
schen und Beschwerden an sie hinandrüngen, ein ganz verändertes Aussehen.
Landwirte, Kaufleute, Handwerker, Beamte verlangen immer dringender die
Berücksichtigung von Lebensfragen, die sie nahe angehn, und wollen immer
weniger von den alten politischen Parteischablonen wissen. Die Stimmeuznhl,
über die die Stände und Klassen verfügen, steht der Partei in Aussicht, die
sich um ihre Forderungen zu kümmern verspricht. Da um aber uicht immer
die Interessen des einen auch die des andern sind, alle aber nach Befriedigung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/157>, abgerufen am 01.09.2024.