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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Mas lehren uns die Wahlen?

Es ist ein häufiger und erklärlicher Irrtum, daß man bei andern dasselbe
Interesse voraussetzt, das man selber hat. Trotz der langen Zahlenreihen
über das deutsche und die fremden Heere, die man den Wählern vor Augen
geführt hat, ist die Notwendigkeit der Verstärkung nicht allgemein eingesehen
worden. Welcher Deutsche sollte sich auch einreden lassen, daß wir, die wir
1870 glänzend gesiegt haben, wir, die wir ein militärisches Volk in Waffen
sind, wir, bei denen die Fürsorge für die lieben Soldaten über alle andern
Rücksichten geht, mit einemmale nicht einmal für die Verteidigung stark genug
sein sollen? Daß wir aber eines stärkern Heers als die Nachbarstaaten be¬
dürfen, um im Kriegsfall uach guter deutscher Art gehörig angriffsweise vor¬
zugehen, hat man sich gescheut mit der wünschenswerten Deutlichkeit zu sagen.
Der Großherzog von Baden hat in einer vorzüglichen Ansprache eine Wen¬
dung gebraucht, die man vielleicht in dem Sinne, wie wir es meinen, zu ver¬
stehen berechtigt ist. Unsre Soldaten sind nicht bloß des lieben bewaffneten
Friedens, sondern auch des Krieges wegen da; man kaun das sagen, auch
wenn man an sich den Frieden will, so lange eben Friede möglich ist. Der
beständige klaffende Widerspruch zwischen Friedensbeteuerungen und gesteigerten
Rüstungen, der auch dem letzten Mann im Volke mittlerweile befremdlich ge-
worden ist, hat zur Folge, daß der Mann gegen das ihm gleichgiltige Gerede
kühl bis ans Herz hinan wird und seines Weges geht. Wir sind nach allen
unsern Beobachtungen der festen Überzeugung geworden, daß es nicht die
Militärvorlage gewesen ist, die der Abstimmung bei den Reichstagswahlen die
Bahn gewiesen hat. Auch ohne diese Vorlage wäre das Ergebnis im wesent¬
lichen dasselbe gewesen, Antisemiten und Sozialdemokratin! wären auch so mit
bedeutendem Zuwachs in den Neichstagssaal eingezogen, die Freisinnigen wären
auch so zurückgegangen. Es hätte auch gar keinen Zweck, noch einmal wählen
zu lassen, man würde dasselbe Ergebnis wieder haben, nur vielleicht noch
etwas deutlicher.

Der Fehler, die Militürvvrlage für das ausschlaggebende Gewicht bei
den Neuwahlen gehalten zu haben, hat sich denn auch an denen, die ihn ge¬
macht haben, gerächt. Da ist zunächst Eugen Richter, der mit der blassen
Parole in den Wahlkampf zog: Opposition gegen das von der Negierung
gewünschte Gesetz. Ein Unglück kommt nie allein, Richter hat den Abfall von
Fraltivnsgcnossen und den Verlust von so und so viel Sitzen zu beklagen.
Das Zentrum und die Sozialdemokraten sind klüger gewesen als der über-
zeuguugstreue Freisinn, sie haben sich wohl gehütet, alles auf die eine Militär¬
karte zu setzen, und haben den Wählern auch von andern großen Dingen er¬
zählt, die sie sich zu ihrem Besten vorgenommen Hütten. Ein Teil der Frei¬
sinnigen scheint, wenn man dem "Berliner Tageblatt" glauben darf, den Fehler
entdeckt zu haben, sie überlegen, ob es nicht besser wäre, "einen Tropfen (!)
sozialpolitischen Oich in sich aufzunehmen." Übrigens begann Richter schon


Mas lehren uns die Wahlen?

Es ist ein häufiger und erklärlicher Irrtum, daß man bei andern dasselbe
Interesse voraussetzt, das man selber hat. Trotz der langen Zahlenreihen
über das deutsche und die fremden Heere, die man den Wählern vor Augen
geführt hat, ist die Notwendigkeit der Verstärkung nicht allgemein eingesehen
worden. Welcher Deutsche sollte sich auch einreden lassen, daß wir, die wir
1870 glänzend gesiegt haben, wir, die wir ein militärisches Volk in Waffen
sind, wir, bei denen die Fürsorge für die lieben Soldaten über alle andern
Rücksichten geht, mit einemmale nicht einmal für die Verteidigung stark genug
sein sollen? Daß wir aber eines stärkern Heers als die Nachbarstaaten be¬
dürfen, um im Kriegsfall uach guter deutscher Art gehörig angriffsweise vor¬
zugehen, hat man sich gescheut mit der wünschenswerten Deutlichkeit zu sagen.
Der Großherzog von Baden hat in einer vorzüglichen Ansprache eine Wen¬
dung gebraucht, die man vielleicht in dem Sinne, wie wir es meinen, zu ver¬
stehen berechtigt ist. Unsre Soldaten sind nicht bloß des lieben bewaffneten
Friedens, sondern auch des Krieges wegen da; man kaun das sagen, auch
wenn man an sich den Frieden will, so lange eben Friede möglich ist. Der
beständige klaffende Widerspruch zwischen Friedensbeteuerungen und gesteigerten
Rüstungen, der auch dem letzten Mann im Volke mittlerweile befremdlich ge-
worden ist, hat zur Folge, daß der Mann gegen das ihm gleichgiltige Gerede
kühl bis ans Herz hinan wird und seines Weges geht. Wir sind nach allen
unsern Beobachtungen der festen Überzeugung geworden, daß es nicht die
Militärvorlage gewesen ist, die der Abstimmung bei den Reichstagswahlen die
Bahn gewiesen hat. Auch ohne diese Vorlage wäre das Ergebnis im wesent¬
lichen dasselbe gewesen, Antisemiten und Sozialdemokratin! wären auch so mit
bedeutendem Zuwachs in den Neichstagssaal eingezogen, die Freisinnigen wären
auch so zurückgegangen. Es hätte auch gar keinen Zweck, noch einmal wählen
zu lassen, man würde dasselbe Ergebnis wieder haben, nur vielleicht noch
etwas deutlicher.

Der Fehler, die Militürvvrlage für das ausschlaggebende Gewicht bei
den Neuwahlen gehalten zu haben, hat sich denn auch an denen, die ihn ge¬
macht haben, gerächt. Da ist zunächst Eugen Richter, der mit der blassen
Parole in den Wahlkampf zog: Opposition gegen das von der Negierung
gewünschte Gesetz. Ein Unglück kommt nie allein, Richter hat den Abfall von
Fraltivnsgcnossen und den Verlust von so und so viel Sitzen zu beklagen.
Das Zentrum und die Sozialdemokraten sind klüger gewesen als der über-
zeuguugstreue Freisinn, sie haben sich wohl gehütet, alles auf die eine Militär¬
karte zu setzen, und haben den Wählern auch von andern großen Dingen er¬
zählt, die sie sich zu ihrem Besten vorgenommen Hütten. Ein Teil der Frei¬
sinnigen scheint, wenn man dem „Berliner Tageblatt" glauben darf, den Fehler
entdeckt zu haben, sie überlegen, ob es nicht besser wäre, „einen Tropfen (!)
sozialpolitischen Oich in sich aufzunehmen." Übrigens begann Richter schon


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[0156] Mas lehren uns die Wahlen? Es ist ein häufiger und erklärlicher Irrtum, daß man bei andern dasselbe Interesse voraussetzt, das man selber hat. Trotz der langen Zahlenreihen über das deutsche und die fremden Heere, die man den Wählern vor Augen geführt hat, ist die Notwendigkeit der Verstärkung nicht allgemein eingesehen worden. Welcher Deutsche sollte sich auch einreden lassen, daß wir, die wir 1870 glänzend gesiegt haben, wir, die wir ein militärisches Volk in Waffen sind, wir, bei denen die Fürsorge für die lieben Soldaten über alle andern Rücksichten geht, mit einemmale nicht einmal für die Verteidigung stark genug sein sollen? Daß wir aber eines stärkern Heers als die Nachbarstaaten be¬ dürfen, um im Kriegsfall uach guter deutscher Art gehörig angriffsweise vor¬ zugehen, hat man sich gescheut mit der wünschenswerten Deutlichkeit zu sagen. Der Großherzog von Baden hat in einer vorzüglichen Ansprache eine Wen¬ dung gebraucht, die man vielleicht in dem Sinne, wie wir es meinen, zu ver¬ stehen berechtigt ist. Unsre Soldaten sind nicht bloß des lieben bewaffneten Friedens, sondern auch des Krieges wegen da; man kaun das sagen, auch wenn man an sich den Frieden will, so lange eben Friede möglich ist. Der beständige klaffende Widerspruch zwischen Friedensbeteuerungen und gesteigerten Rüstungen, der auch dem letzten Mann im Volke mittlerweile befremdlich ge- worden ist, hat zur Folge, daß der Mann gegen das ihm gleichgiltige Gerede kühl bis ans Herz hinan wird und seines Weges geht. Wir sind nach allen unsern Beobachtungen der festen Überzeugung geworden, daß es nicht die Militärvorlage gewesen ist, die der Abstimmung bei den Reichstagswahlen die Bahn gewiesen hat. Auch ohne diese Vorlage wäre das Ergebnis im wesent¬ lichen dasselbe gewesen, Antisemiten und Sozialdemokratin! wären auch so mit bedeutendem Zuwachs in den Neichstagssaal eingezogen, die Freisinnigen wären auch so zurückgegangen. Es hätte auch gar keinen Zweck, noch einmal wählen zu lassen, man würde dasselbe Ergebnis wieder haben, nur vielleicht noch etwas deutlicher. Der Fehler, die Militürvvrlage für das ausschlaggebende Gewicht bei den Neuwahlen gehalten zu haben, hat sich denn auch an denen, die ihn ge¬ macht haben, gerächt. Da ist zunächst Eugen Richter, der mit der blassen Parole in den Wahlkampf zog: Opposition gegen das von der Negierung gewünschte Gesetz. Ein Unglück kommt nie allein, Richter hat den Abfall von Fraltivnsgcnossen und den Verlust von so und so viel Sitzen zu beklagen. Das Zentrum und die Sozialdemokraten sind klüger gewesen als der über- zeuguugstreue Freisinn, sie haben sich wohl gehütet, alles auf die eine Militär¬ karte zu setzen, und haben den Wählern auch von andern großen Dingen er¬ zählt, die sie sich zu ihrem Besten vorgenommen Hütten. Ein Teil der Frei¬ sinnigen scheint, wenn man dem „Berliner Tageblatt" glauben darf, den Fehler entdeckt zu haben, sie überlegen, ob es nicht besser wäre, „einen Tropfen (!) sozialpolitischen Oich in sich aufzunehmen." Übrigens begann Richter schon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/156>, abgerufen am 28.07.2024.