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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wir fragen: Wo bleiben denn die eignen Fehler der badischen Nationallibe¬
ralen, der Unduldsamsten dieser Partei? Und welchen Eindruck mag dieses Ge-
winsel auf den großen, greisen Staatsmann in Friedrichsruh machen? Mit welchem
Gefühl mag er auf die Zeit zurücksehen, wo er mit solchen Politikern arbeiten
mußte? Waren keine andern Gründe stark genug, die Süddeutsche" dem Norden
zuzudrängen, als nur die Politik Bismarcks? Giebt es denn keine Logik in der
Geschichte, die unerbittlich ans der Entwicklung der Jahrhunderte den Schluß zog,
daß in Deutschland die Zersplitterung aufhören und die Einheit erstehen müsse?
Welches deutsche Kleinparlament hatte, ehe Bismarcks Stern aufging, eine so über¬
zeugte kleindeutsch-nationnle Mehrheit wie das badische? Wir glauben Bismarck so
warm zu verehren wie nur irgend ein deutscher Mann, haben aber immer geglaubt,
daß der beste Dank, den wir ihm zollen könnten, in der Nacheiferung seines großen
Beispiels bestehe. Und deswegen haben wir seit jenen traurigen Märztagen nie¬
mals die Hände in den Schoß gelegt, sondern unverdrossen für das Baterlaud
fortgearbeitet, überzeugt, daß uach göttliche" Gesetzen doch einmal der Tag kommen
mußte, wo wir das Schiff ohne Bismarck steuern mußten. Im Leben eines großen
Volkes kann es -- so sagten wir uns -- zuletzt doch nicht auf ein paar Jahre
mehr oder weniger ankommen, die es ohne einen Mann sich erhalten muß, der
all sein Vertrauen und seine Liebe besaß. Menschen kommen und gehen, Völker
bestehen, wenn -- sie es wert sind. Bismarck am Steuer, und wenn er das volle
Vertrauen seines Herrn besäße, würde Deutschland heute nicht stärker machen. Die
Welt würde nur noch mißtrauischer dem Augenblick entgegensehen, wo sein Volk
die ersten Schritte ohne ihn zu thun hätte. Wir wagen es, die Ketzerei auszu-
sprechen, daß Deutschland in den Augen der Welt mir gewonnen hat durch den
Beweis, daß es auch ohne Bismarck stehen und gehen kann. Treue ist schön und
edel, und wir werden sie dem Vater unsers Vaterlandes immer und ewig be¬
wahren. Aber das Vaterland über die Person! Und müßte es gegen Bismarck
geschehen, wir würden nie durch trauernde Rückblicke unsre Stärke, sein Werk zu
erhalten glauben, sondern nur dadurch, daß wir in möglichst vielen Deutschen jene
Eigenschaften pflegen, die wir an ihm bewundern und lieben: die Festigkeit, die
Klarheit, den bei aller Wärme des Herzens kühlen Verstand in allen Dingen des
Staates. So statten wir ihm am besten unsern Dank ab; und so hoffen wir,
allen Jammerprinzen zum Trotz, noch lange zu beweisen, daß er seinem Volke ge¬
schenkt war, damit es von ihm lerne, und daß er seine Aufgabe, uns zu stählen,
erfüllt hat.


Die Landstreicherplage,

ebenso schwer im Volke empfunden wie meist
nutzlos erörtert, reicht bekanntlich bis ins graue Altertum hinauf; schou Homer
(Odyss. XI, 3K4) hat das streifende Gesindel mit treffenden Worten zeichnen können:


ein Gaudieb, wie ja so viele
Nährt die dunkle Erde, die weit sich zerstreuenden Menschen,
Die, wo keiner sich des versieht, uns umgaukeln mit Lügen.

Die Plage vergrößert sich bei sinkendem Volkswohlstande, auch schon bei nur
zeitweiligen Niedergang der Erwerbsverhältnisse; am ärgsten soll sie in Deutschland
nach dem dreißigjährigen Kriege gewesen sein. Auch jetzt ist sie, Ivie alle Welt
weiß, trotz aller Zurückdrängung durch die Polizei und Strafjustiz drückend genug;
die Frage ihrer Losung verquickt sich überdies, zu ihrer wesentlichen Erschwerung,
mit dem ihr verwandten Problem, ivie man der Arbeitslosigkeit engerer und weiterer
Volksschichten wirksam begegnen könne. Die Abhilfe ist auch dort in sorgfältig er-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wir fragen: Wo bleiben denn die eignen Fehler der badischen Nationallibe¬
ralen, der Unduldsamsten dieser Partei? Und welchen Eindruck mag dieses Ge-
winsel auf den großen, greisen Staatsmann in Friedrichsruh machen? Mit welchem
Gefühl mag er auf die Zeit zurücksehen, wo er mit solchen Politikern arbeiten
mußte? Waren keine andern Gründe stark genug, die Süddeutsche» dem Norden
zuzudrängen, als nur die Politik Bismarcks? Giebt es denn keine Logik in der
Geschichte, die unerbittlich ans der Entwicklung der Jahrhunderte den Schluß zog,
daß in Deutschland die Zersplitterung aufhören und die Einheit erstehen müsse?
Welches deutsche Kleinparlament hatte, ehe Bismarcks Stern aufging, eine so über¬
zeugte kleindeutsch-nationnle Mehrheit wie das badische? Wir glauben Bismarck so
warm zu verehren wie nur irgend ein deutscher Mann, haben aber immer geglaubt,
daß der beste Dank, den wir ihm zollen könnten, in der Nacheiferung seines großen
Beispiels bestehe. Und deswegen haben wir seit jenen traurigen Märztagen nie¬
mals die Hände in den Schoß gelegt, sondern unverdrossen für das Baterlaud
fortgearbeitet, überzeugt, daß uach göttliche» Gesetzen doch einmal der Tag kommen
mußte, wo wir das Schiff ohne Bismarck steuern mußten. Im Leben eines großen
Volkes kann es — so sagten wir uns — zuletzt doch nicht auf ein paar Jahre
mehr oder weniger ankommen, die es ohne einen Mann sich erhalten muß, der
all sein Vertrauen und seine Liebe besaß. Menschen kommen und gehen, Völker
bestehen, wenn — sie es wert sind. Bismarck am Steuer, und wenn er das volle
Vertrauen seines Herrn besäße, würde Deutschland heute nicht stärker machen. Die
Welt würde nur noch mißtrauischer dem Augenblick entgegensehen, wo sein Volk
die ersten Schritte ohne ihn zu thun hätte. Wir wagen es, die Ketzerei auszu-
sprechen, daß Deutschland in den Augen der Welt mir gewonnen hat durch den
Beweis, daß es auch ohne Bismarck stehen und gehen kann. Treue ist schön und
edel, und wir werden sie dem Vater unsers Vaterlandes immer und ewig be¬
wahren. Aber das Vaterland über die Person! Und müßte es gegen Bismarck
geschehen, wir würden nie durch trauernde Rückblicke unsre Stärke, sein Werk zu
erhalten glauben, sondern nur dadurch, daß wir in möglichst vielen Deutschen jene
Eigenschaften pflegen, die wir an ihm bewundern und lieben: die Festigkeit, die
Klarheit, den bei aller Wärme des Herzens kühlen Verstand in allen Dingen des
Staates. So statten wir ihm am besten unsern Dank ab; und so hoffen wir,
allen Jammerprinzen zum Trotz, noch lange zu beweisen, daß er seinem Volke ge¬
schenkt war, damit es von ihm lerne, und daß er seine Aufgabe, uns zu stählen,
erfüllt hat.


Die Landstreicherplage,

ebenso schwer im Volke empfunden wie meist
nutzlos erörtert, reicht bekanntlich bis ins graue Altertum hinauf; schou Homer
(Odyss. XI, 3K4) hat das streifende Gesindel mit treffenden Worten zeichnen können:


ein Gaudieb, wie ja so viele
Nährt die dunkle Erde, die weit sich zerstreuenden Menschen,
Die, wo keiner sich des versieht, uns umgaukeln mit Lügen.

Die Plage vergrößert sich bei sinkendem Volkswohlstande, auch schon bei nur
zeitweiligen Niedergang der Erwerbsverhältnisse; am ärgsten soll sie in Deutschland
nach dem dreißigjährigen Kriege gewesen sein. Auch jetzt ist sie, Ivie alle Welt
weiß, trotz aller Zurückdrängung durch die Polizei und Strafjustiz drückend genug;
die Frage ihrer Losung verquickt sich überdies, zu ihrer wesentlichen Erschwerung,
mit dem ihr verwandten Problem, ivie man der Arbeitslosigkeit engerer und weiterer
Volksschichten wirksam begegnen könne. Die Abhilfe ist auch dort in sorgfältig er-


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[0150] Maßgebliches und Unmaßgebliches Wir fragen: Wo bleiben denn die eignen Fehler der badischen Nationallibe¬ ralen, der Unduldsamsten dieser Partei? Und welchen Eindruck mag dieses Ge- winsel auf den großen, greisen Staatsmann in Friedrichsruh machen? Mit welchem Gefühl mag er auf die Zeit zurücksehen, wo er mit solchen Politikern arbeiten mußte? Waren keine andern Gründe stark genug, die Süddeutsche» dem Norden zuzudrängen, als nur die Politik Bismarcks? Giebt es denn keine Logik in der Geschichte, die unerbittlich ans der Entwicklung der Jahrhunderte den Schluß zog, daß in Deutschland die Zersplitterung aufhören und die Einheit erstehen müsse? Welches deutsche Kleinparlament hatte, ehe Bismarcks Stern aufging, eine so über¬ zeugte kleindeutsch-nationnle Mehrheit wie das badische? Wir glauben Bismarck so warm zu verehren wie nur irgend ein deutscher Mann, haben aber immer geglaubt, daß der beste Dank, den wir ihm zollen könnten, in der Nacheiferung seines großen Beispiels bestehe. Und deswegen haben wir seit jenen traurigen Märztagen nie¬ mals die Hände in den Schoß gelegt, sondern unverdrossen für das Baterlaud fortgearbeitet, überzeugt, daß uach göttliche» Gesetzen doch einmal der Tag kommen mußte, wo wir das Schiff ohne Bismarck steuern mußten. Im Leben eines großen Volkes kann es — so sagten wir uns — zuletzt doch nicht auf ein paar Jahre mehr oder weniger ankommen, die es ohne einen Mann sich erhalten muß, der all sein Vertrauen und seine Liebe besaß. Menschen kommen und gehen, Völker bestehen, wenn — sie es wert sind. Bismarck am Steuer, und wenn er das volle Vertrauen seines Herrn besäße, würde Deutschland heute nicht stärker machen. Die Welt würde nur noch mißtrauischer dem Augenblick entgegensehen, wo sein Volk die ersten Schritte ohne ihn zu thun hätte. Wir wagen es, die Ketzerei auszu- sprechen, daß Deutschland in den Augen der Welt mir gewonnen hat durch den Beweis, daß es auch ohne Bismarck stehen und gehen kann. Treue ist schön und edel, und wir werden sie dem Vater unsers Vaterlandes immer und ewig be¬ wahren. Aber das Vaterland über die Person! Und müßte es gegen Bismarck geschehen, wir würden nie durch trauernde Rückblicke unsre Stärke, sein Werk zu erhalten glauben, sondern nur dadurch, daß wir in möglichst vielen Deutschen jene Eigenschaften pflegen, die wir an ihm bewundern und lieben: die Festigkeit, die Klarheit, den bei aller Wärme des Herzens kühlen Verstand in allen Dingen des Staates. So statten wir ihm am besten unsern Dank ab; und so hoffen wir, allen Jammerprinzen zum Trotz, noch lange zu beweisen, daß er seinem Volke ge¬ schenkt war, damit es von ihm lerne, und daß er seine Aufgabe, uns zu stählen, erfüllt hat. Die Landstreicherplage, ebenso schwer im Volke empfunden wie meist nutzlos erörtert, reicht bekanntlich bis ins graue Altertum hinauf; schou Homer (Odyss. XI, 3K4) hat das streifende Gesindel mit treffenden Worten zeichnen können: ein Gaudieb, wie ja so viele Nährt die dunkle Erde, die weit sich zerstreuenden Menschen, Die, wo keiner sich des versieht, uns umgaukeln mit Lügen. Die Plage vergrößert sich bei sinkendem Volkswohlstande, auch schon bei nur zeitweiligen Niedergang der Erwerbsverhältnisse; am ärgsten soll sie in Deutschland nach dem dreißigjährigen Kriege gewesen sein. Auch jetzt ist sie, Ivie alle Welt weiß, trotz aller Zurückdrängung durch die Polizei und Strafjustiz drückend genug; die Frage ihrer Losung verquickt sich überdies, zu ihrer wesentlichen Erschwerung, mit dem ihr verwandten Problem, ivie man der Arbeitslosigkeit engerer und weiterer Volksschichten wirksam begegnen könne. Die Abhilfe ist auch dort in sorgfältig er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/150>, abgerufen am 23.11.2024.