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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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strampelt, er heult, er kratzt und beißt. Die Tanten schreien: bindet ihn fester,
haut ihn! Und so geschieht es; aber natürlich, je mehr er geprügelt und je
fester er geschnürt wird, desto mehr rast er, und befreit man ihn nicht bald,
so wird nicht bloß ein Taugenichts, sondern ein Bösewicht daraus.

Noch ein andrer Punkt ist zu erwägen. Wenn Moltke gesagt hat, das
deutsche Volk werde die Errungenschaften von 1870 fünfzig Jahre hindurch
verteidigen müssen, so heißt das so viel wie: wir haben 1870 unser Ziel noch
nicht erreicht; Deutschland hat noch nicht die Gestalt und Größe, die es haben
muß, um unangreifbar und sicher dazustehen, es muß noch einen, vielleicht
noch eine Reihe von Kriegen führen, um dieses Ziel zu erreichen. Wollte
jemand die Worte des großen Strategen so verstehen, daß unser Volk fünfzig
Jahre lang der Gefahr von Überfällen ausgesetzt Gewehr beim Fuß dastehen
solle, ohne sich zu rühren, so hieße das, uns eine übermenschliche Geduld-
Prüfung zumuten, und schon nach fünfundzwanzig Jahren würde die Ungeduld
wie vor Paris "Macht doch endlich bum, bum, bum!" schreien und nicht mehr
zu zügeln sein. Ein Volk, das Jahrzehnte um seiner Sicherheit willen rüsten
müßte und die unerträgliche Spannung nicht durch einen Angriff zu lösen
wagte, würde nicht die Rolle der alten Römer spielen, sondern die der Kar¬
thager nach dem zweiten punischen Kriege.

Durch die Art nud Weise, wie Militärvorlagen behandelt zu werden pflegen,
wird die Lage der Regierung nicht eben verbessert. Zwei Leitmotive beherrschen
ihre parlamentarische Schlachteumusik: 1. In Militärsachen ist die Militär¬
verwaltung allein sachverständig. 2. Wer gegen uns stimmt, ist ein Feind
des Vaterlands. Der erste Satz ist unbedingt richtig, und deshalb hat es
keinen Sinn, im Parlament und in der Presse über Kadres und Manqueinents,
über das Verhältnis der Artillerie zur Infanterie u. tgi. zu disputiren. Läßt
man sich aber ans solche Erörterungen mit uns Laien ein, dann muß man
sichs auch gefallen lassen, wenn wir, die wir anf Autoritäten angewiesen sind,
uns unsre Autoritäten nach Belieben auswählen, Bismarck mehr glauben als
Caprivi, dem die Zahlenwut verspottenden Cnprivi von 1891 mehr als dem
Cnprivi vou 1893, und dem Kaiser Wilhelm, der vor reichlich einem Jahre
gesagt hat, eine kleinere gute Truppe sei ihm lieber als eine größere weniger
gute, mehr als demselben Kaiser Wilhelm, der später doch zum großen Mi߬
fallen der Konservativen diese Vorlage mit der zweijährigen Dienstzeit geneh¬
migt hat. Wenn aber auch der zweite Satz richtig sein sollte, wozu befragt
man dann überhaupt das Volk? Hat es einen Sinn, die Leute zu fragen, ob
sie Landesverräter sein wollen oder nicht, und den Beschlüssen einer landes-
verräterischen Mehrheit bindende Kraft zuzuerkennen? Entweder man hält den
Staatsbürger für berechtigt, auch eine Militärvvrlage abzulehnen, dann ist er,
wenn er es thut, kein Vaterlandsfeind; oder man glaubt, daß in Militürsachen
das Wohl des Baterlandes nur beim Monarchen geborgen sei, dann scheide


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strampelt, er heult, er kratzt und beißt. Die Tanten schreien: bindet ihn fester,
haut ihn! Und so geschieht es; aber natürlich, je mehr er geprügelt und je
fester er geschnürt wird, desto mehr rast er, und befreit man ihn nicht bald,
so wird nicht bloß ein Taugenichts, sondern ein Bösewicht daraus.

Noch ein andrer Punkt ist zu erwägen. Wenn Moltke gesagt hat, das
deutsche Volk werde die Errungenschaften von 1870 fünfzig Jahre hindurch
verteidigen müssen, so heißt das so viel wie: wir haben 1870 unser Ziel noch
nicht erreicht; Deutschland hat noch nicht die Gestalt und Größe, die es haben
muß, um unangreifbar und sicher dazustehen, es muß noch einen, vielleicht
noch eine Reihe von Kriegen führen, um dieses Ziel zu erreichen. Wollte
jemand die Worte des großen Strategen so verstehen, daß unser Volk fünfzig
Jahre lang der Gefahr von Überfällen ausgesetzt Gewehr beim Fuß dastehen
solle, ohne sich zu rühren, so hieße das, uns eine übermenschliche Geduld-
Prüfung zumuten, und schon nach fünfundzwanzig Jahren würde die Ungeduld
wie vor Paris „Macht doch endlich bum, bum, bum!" schreien und nicht mehr
zu zügeln sein. Ein Volk, das Jahrzehnte um seiner Sicherheit willen rüsten
müßte und die unerträgliche Spannung nicht durch einen Angriff zu lösen
wagte, würde nicht die Rolle der alten Römer spielen, sondern die der Kar¬
thager nach dem zweiten punischen Kriege.

Durch die Art nud Weise, wie Militärvorlagen behandelt zu werden pflegen,
wird die Lage der Regierung nicht eben verbessert. Zwei Leitmotive beherrschen
ihre parlamentarische Schlachteumusik: 1. In Militärsachen ist die Militär¬
verwaltung allein sachverständig. 2. Wer gegen uns stimmt, ist ein Feind
des Vaterlands. Der erste Satz ist unbedingt richtig, und deshalb hat es
keinen Sinn, im Parlament und in der Presse über Kadres und Manqueinents,
über das Verhältnis der Artillerie zur Infanterie u. tgi. zu disputiren. Läßt
man sich aber ans solche Erörterungen mit uns Laien ein, dann muß man
sichs auch gefallen lassen, wenn wir, die wir anf Autoritäten angewiesen sind,
uns unsre Autoritäten nach Belieben auswählen, Bismarck mehr glauben als
Caprivi, dem die Zahlenwut verspottenden Cnprivi von 1891 mehr als dem
Cnprivi vou 1893, und dem Kaiser Wilhelm, der vor reichlich einem Jahre
gesagt hat, eine kleinere gute Truppe sei ihm lieber als eine größere weniger
gute, mehr als demselben Kaiser Wilhelm, der später doch zum großen Mi߬
fallen der Konservativen diese Vorlage mit der zweijährigen Dienstzeit geneh¬
migt hat. Wenn aber auch der zweite Satz richtig sein sollte, wozu befragt
man dann überhaupt das Volk? Hat es einen Sinn, die Leute zu fragen, ob
sie Landesverräter sein wollen oder nicht, und den Beschlüssen einer landes-
verräterischen Mehrheit bindende Kraft zuzuerkennen? Entweder man hält den
Staatsbürger für berechtigt, auch eine Militärvvrlage abzulehnen, dann ist er,
wenn er es thut, kein Vaterlandsfeind; oder man glaubt, daß in Militürsachen
das Wohl des Baterlandes nur beim Monarchen geborgen sei, dann scheide


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/15>, abgerufen am 24.11.2024.