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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische volksmoral im Drama

Verworrnem Streben wilder Art das Leben schied,
Der uns den Geist einhauchte, der die Sprache hat,
Die Gedankeubotin.

Als Wohlthäter der Menschen, als hilfreicher Freund, als Beschützer aller
Unglücklichen erscheint Theseus, wo er nur auftritt. Führt er Krieg, so ge¬
schieht es nur, um ein Unrecht zu sühnen oder Unterdrückten zu ihrem Rechte
zu verhelfen. Auf das Flehen der Mütter der vor Theben gefallnen Sieben
bezwingt er (in den Schutzflehenden des Euripides) die Thebaner, aber fügt
der Stadt kein Leid zu, sondern zieht ab, nachdem mau ihm die Leichen, deren
Bestattung verweigert worden war, herausgegeben hat. Dieselbe Rolle läßt
Sophokles den Theseus im Ödipus auf Kolonos spielen, und da der Chor
vor Ankunft des Königs Bedenken trägt, ob der Fluchbeladne am heiligen
Orte geduldet werden dürfe, spricht Ödipus:


Wohl heißt es, aller Städte frömmste sei Athen,
Im Elend finde einzig der Vertriebne hier
Die Rettung; ihn zu schützen, sei sie stark genug.
Wie schlecht bewährt sich das an mir!

Aber Athen bewährt seinen Ruf. Voll Mitleid, armer Ödipus -- redet ihn
der herbeigerufne Theseus an --, frag ich dich,


was ists.
Das du vom Staate und von mir zu bitten hast,
Du selbst und deine mühbeladne Führerin?
Verkünde mir es. Furchtbar lauten müßte, was
Du bittest, sonst verweigr' ich die Erfüllung nicht.
Der Zeit gedenk ich, da im fremden Land ich selbst
Erzogen ward als Fremder und wie keiner sonst
Viel Kämpfe mit des eignen Haupts Gefahr bestand.
Drum wend ich nimmer mich von einem Fremden ab,
Der so mir nahte, ohne Beistand ihm zu leisten.
Ich weiß, daß ich ein Mensch bin, und daß von dem Tag,
Der morgen sein wird, mir nicht mehr als dir gehört.

Denselben ritterlichen Sinn erweist sein Sohn Demophon den Vertriebnen
Kindern des Herakles, als ihr aufopfernder, aber greiser und ohnmächtiger
Beschützer Jolaos, durch des Eurystheus Mannen von Stadt zu Stadt gejagt,
mit ihnen nach Athen kommt, dort Schutz zu suchen. Als selbstverständliche
Pflicht des edeln Mannes bezeichnet Jolaos in den Herakliden, was er an
seinen Schützlingen thut.


Für seinen Nächsten schafft und wagt der edle Mann;
Doch wer das Herz auf eignen Vorteil nur gewandt,
Fromme nicht dem Staat, ist unverträglich im Verkehr,
Strebt sich allein zu heben. Selbst erfuhr ich das.
Aus Mitgefühl, weil mir Berwcmdtschast heilig war,
Trug ich, der eine, vieles Leid mit Herakles,
Als er mit uns war, während ich behaglich froh

Grenzboten III 1393 17
Die ätherische volksmoral im Drama

Verworrnem Streben wilder Art das Leben schied,
Der uns den Geist einhauchte, der die Sprache hat,
Die Gedankeubotin.

Als Wohlthäter der Menschen, als hilfreicher Freund, als Beschützer aller
Unglücklichen erscheint Theseus, wo er nur auftritt. Führt er Krieg, so ge¬
schieht es nur, um ein Unrecht zu sühnen oder Unterdrückten zu ihrem Rechte
zu verhelfen. Auf das Flehen der Mütter der vor Theben gefallnen Sieben
bezwingt er (in den Schutzflehenden des Euripides) die Thebaner, aber fügt
der Stadt kein Leid zu, sondern zieht ab, nachdem mau ihm die Leichen, deren
Bestattung verweigert worden war, herausgegeben hat. Dieselbe Rolle läßt
Sophokles den Theseus im Ödipus auf Kolonos spielen, und da der Chor
vor Ankunft des Königs Bedenken trägt, ob der Fluchbeladne am heiligen
Orte geduldet werden dürfe, spricht Ödipus:


Wohl heißt es, aller Städte frömmste sei Athen,
Im Elend finde einzig der Vertriebne hier
Die Rettung; ihn zu schützen, sei sie stark genug.
Wie schlecht bewährt sich das an mir!

Aber Athen bewährt seinen Ruf. Voll Mitleid, armer Ödipus — redet ihn
der herbeigerufne Theseus an —, frag ich dich,


was ists.
Das du vom Staate und von mir zu bitten hast,
Du selbst und deine mühbeladne Führerin?
Verkünde mir es. Furchtbar lauten müßte, was
Du bittest, sonst verweigr' ich die Erfüllung nicht.
Der Zeit gedenk ich, da im fremden Land ich selbst
Erzogen ward als Fremder und wie keiner sonst
Viel Kämpfe mit des eignen Haupts Gefahr bestand.
Drum wend ich nimmer mich von einem Fremden ab,
Der so mir nahte, ohne Beistand ihm zu leisten.
Ich weiß, daß ich ein Mensch bin, und daß von dem Tag,
Der morgen sein wird, mir nicht mehr als dir gehört.

Denselben ritterlichen Sinn erweist sein Sohn Demophon den Vertriebnen
Kindern des Herakles, als ihr aufopfernder, aber greiser und ohnmächtiger
Beschützer Jolaos, durch des Eurystheus Mannen von Stadt zu Stadt gejagt,
mit ihnen nach Athen kommt, dort Schutz zu suchen. Als selbstverständliche
Pflicht des edeln Mannes bezeichnet Jolaos in den Herakliden, was er an
seinen Schützlingen thut.


Für seinen Nächsten schafft und wagt der edle Mann;
Doch wer das Herz auf eignen Vorteil nur gewandt,
Fromme nicht dem Staat, ist unverträglich im Verkehr,
Strebt sich allein zu heben. Selbst erfuhr ich das.
Aus Mitgefühl, weil mir Berwcmdtschast heilig war,
Trug ich, der eine, vieles Leid mit Herakles,
Als er mit uns war, während ich behaglich froh

Grenzboten III 1393 17
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/137>, abgerufen am 24.11.2024.