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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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unter solchen Umständen immer etwas schreckliches bleibt, so soll der Thäter
weder von Gewissensbissen ganz frei sein, nur daß diese ihn nicht zum Wahn¬
sinn treiben und nicht bis zum Tode plagen sollen, noch darf er ohne weiteres
losgesprochen werden; in der Stimmengleichheit liegt die Warnung, daß ein
Mörder noch keineswegs auf die Lossprechung sicher rechnen dürfe, wenn er
auch gute Gründe für seine That gehabt habe: ein Steinchen mehr in der
andern Urne bringt ihm den Tod. Auch ist die leibliche Befleckung durch eine
symbolische Handlung, durch ein Tieropfcr zu tilgen, damit der Mensch die
innerliche Verunreinigung, die er sich zugezogen hat, empfinde. Und die grausen
Bilder des Schuldbewußtseins, die Götter der Urzeit, sollen keineswegs aus
dem Gemüte und Gedankenkreise des Volkes verbannt, sondern mit der ge¬
läuterten Erkenntnis von ihrer Bedeutung erst recht darin aufgenommen werden.
Denn die neuen hellenischen Götter wollen zwar nichts andres als ein fröh¬
liches Gedeihen starker, gesunder, glücklicher Menschen, allein sie können das
der Urnacht und der Erde, dem geheimnisvollen Schoß aller Dinge, ent-
sprungne Gesetz nicht ändern, daß menschliches Glück und menschliches Leben
durch Frevel zerstört werden. Will sich also das Volk seine Fortdauer und
sein Glück sichern, so muß es die alten Götter, die des Frevlers Untergang
heischen, nicht minder ehren als die neuen, Leben, Lust und Liebe spendenden,
und es darf sich der heilsamen Furcht vor jenen nicht entschlagen. Nur soll
die Furcht durch Vernunft gezügelt werden und Abwehr des Frevels, Aus¬
rottung der Frevler nicht in sinnloses grausames Wüten ausarten. Das Drama
bedeutet also bei entschiedner Forderung eines schuldlosen Wandels die ebenso
entschiedne Ablehnung jener orientalischen Religion der Furcht und des Schreckens,
die aus den Göttern Fratzen und Scheusale macht, die Entmannung und Menschen¬
opfer fordert, die grausame Verschärfungen der Todesstrafe begünstigt, die auch
in der christlichen Zeit noch fortlebt und sich bald in dem Drohen mit ewigen
Höllenstrafen und in deren Ausmalung, bald in Selbstpeinigungen, bald in fana¬
tischer Verfolgung der Andersgläubigen, bald in einer barbarischen Strafjustiz
bethätigt. Die alten Rachegötter werden von den Griechen als Geschwister
ihrer neuen menschenfreundlichen, beide als Verkörperungen ein und desselben
ewigen Gesetzes erkannt, aber wie in der Natur die zerstörenden Gewalten den
aufbauenden dienstbar sein müssen, nicht umgekehrt, so wird auch für die sitt¬
liche Welt dasselbe Verhältnis festgehalten.

Ähnlich ist der Gedankengang im Pronietheus, oder vielmehr: ähnlich
würde er erscheinen, wenn uns nicht leider der zweite Teil, der entfesselte
Prometheus, verloren gegangen wäre. Nur hat die aller Folgerichtigkeit bare
Mythologie hier den Dichter gezwungen, die Rollen zu vertauschen, einen der
alten Götter, den Titanen Prometheus, als Menschenfreund, den Herrscher der
neuen Götter, Zeus, als Feind der Meuscheu und ihres Wohlthäters darzu¬
stellen. Wie sich in dem Verlornen Schluß der Konflikt beider Götterreiche in


unter solchen Umständen immer etwas schreckliches bleibt, so soll der Thäter
weder von Gewissensbissen ganz frei sein, nur daß diese ihn nicht zum Wahn¬
sinn treiben und nicht bis zum Tode plagen sollen, noch darf er ohne weiteres
losgesprochen werden; in der Stimmengleichheit liegt die Warnung, daß ein
Mörder noch keineswegs auf die Lossprechung sicher rechnen dürfe, wenn er
auch gute Gründe für seine That gehabt habe: ein Steinchen mehr in der
andern Urne bringt ihm den Tod. Auch ist die leibliche Befleckung durch eine
symbolische Handlung, durch ein Tieropfcr zu tilgen, damit der Mensch die
innerliche Verunreinigung, die er sich zugezogen hat, empfinde. Und die grausen
Bilder des Schuldbewußtseins, die Götter der Urzeit, sollen keineswegs aus
dem Gemüte und Gedankenkreise des Volkes verbannt, sondern mit der ge¬
läuterten Erkenntnis von ihrer Bedeutung erst recht darin aufgenommen werden.
Denn die neuen hellenischen Götter wollen zwar nichts andres als ein fröh¬
liches Gedeihen starker, gesunder, glücklicher Menschen, allein sie können das
der Urnacht und der Erde, dem geheimnisvollen Schoß aller Dinge, ent-
sprungne Gesetz nicht ändern, daß menschliches Glück und menschliches Leben
durch Frevel zerstört werden. Will sich also das Volk seine Fortdauer und
sein Glück sichern, so muß es die alten Götter, die des Frevlers Untergang
heischen, nicht minder ehren als die neuen, Leben, Lust und Liebe spendenden,
und es darf sich der heilsamen Furcht vor jenen nicht entschlagen. Nur soll
die Furcht durch Vernunft gezügelt werden und Abwehr des Frevels, Aus¬
rottung der Frevler nicht in sinnloses grausames Wüten ausarten. Das Drama
bedeutet also bei entschiedner Forderung eines schuldlosen Wandels die ebenso
entschiedne Ablehnung jener orientalischen Religion der Furcht und des Schreckens,
die aus den Göttern Fratzen und Scheusale macht, die Entmannung und Menschen¬
opfer fordert, die grausame Verschärfungen der Todesstrafe begünstigt, die auch
in der christlichen Zeit noch fortlebt und sich bald in dem Drohen mit ewigen
Höllenstrafen und in deren Ausmalung, bald in Selbstpeinigungen, bald in fana¬
tischer Verfolgung der Andersgläubigen, bald in einer barbarischen Strafjustiz
bethätigt. Die alten Rachegötter werden von den Griechen als Geschwister
ihrer neuen menschenfreundlichen, beide als Verkörperungen ein und desselben
ewigen Gesetzes erkannt, aber wie in der Natur die zerstörenden Gewalten den
aufbauenden dienstbar sein müssen, nicht umgekehrt, so wird auch für die sitt¬
liche Welt dasselbe Verhältnis festgehalten.

Ähnlich ist der Gedankengang im Pronietheus, oder vielmehr: ähnlich
würde er erscheinen, wenn uns nicht leider der zweite Teil, der entfesselte
Prometheus, verloren gegangen wäre. Nur hat die aller Folgerichtigkeit bare
Mythologie hier den Dichter gezwungen, die Rollen zu vertauschen, einen der
alten Götter, den Titanen Prometheus, als Menschenfreund, den Herrscher der
neuen Götter, Zeus, als Feind der Meuscheu und ihres Wohlthäters darzu¬
stellen. Wie sich in dem Verlornen Schluß der Konflikt beider Götterreiche in


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[0135] unter solchen Umständen immer etwas schreckliches bleibt, so soll der Thäter weder von Gewissensbissen ganz frei sein, nur daß diese ihn nicht zum Wahn¬ sinn treiben und nicht bis zum Tode plagen sollen, noch darf er ohne weiteres losgesprochen werden; in der Stimmengleichheit liegt die Warnung, daß ein Mörder noch keineswegs auf die Lossprechung sicher rechnen dürfe, wenn er auch gute Gründe für seine That gehabt habe: ein Steinchen mehr in der andern Urne bringt ihm den Tod. Auch ist die leibliche Befleckung durch eine symbolische Handlung, durch ein Tieropfcr zu tilgen, damit der Mensch die innerliche Verunreinigung, die er sich zugezogen hat, empfinde. Und die grausen Bilder des Schuldbewußtseins, die Götter der Urzeit, sollen keineswegs aus dem Gemüte und Gedankenkreise des Volkes verbannt, sondern mit der ge¬ läuterten Erkenntnis von ihrer Bedeutung erst recht darin aufgenommen werden. Denn die neuen hellenischen Götter wollen zwar nichts andres als ein fröh¬ liches Gedeihen starker, gesunder, glücklicher Menschen, allein sie können das der Urnacht und der Erde, dem geheimnisvollen Schoß aller Dinge, ent- sprungne Gesetz nicht ändern, daß menschliches Glück und menschliches Leben durch Frevel zerstört werden. Will sich also das Volk seine Fortdauer und sein Glück sichern, so muß es die alten Götter, die des Frevlers Untergang heischen, nicht minder ehren als die neuen, Leben, Lust und Liebe spendenden, und es darf sich der heilsamen Furcht vor jenen nicht entschlagen. Nur soll die Furcht durch Vernunft gezügelt werden und Abwehr des Frevels, Aus¬ rottung der Frevler nicht in sinnloses grausames Wüten ausarten. Das Drama bedeutet also bei entschiedner Forderung eines schuldlosen Wandels die ebenso entschiedne Ablehnung jener orientalischen Religion der Furcht und des Schreckens, die aus den Göttern Fratzen und Scheusale macht, die Entmannung und Menschen¬ opfer fordert, die grausame Verschärfungen der Todesstrafe begünstigt, die auch in der christlichen Zeit noch fortlebt und sich bald in dem Drohen mit ewigen Höllenstrafen und in deren Ausmalung, bald in Selbstpeinigungen, bald in fana¬ tischer Verfolgung der Andersgläubigen, bald in einer barbarischen Strafjustiz bethätigt. Die alten Rachegötter werden von den Griechen als Geschwister ihrer neuen menschenfreundlichen, beide als Verkörperungen ein und desselben ewigen Gesetzes erkannt, aber wie in der Natur die zerstörenden Gewalten den aufbauenden dienstbar sein müssen, nicht umgekehrt, so wird auch für die sitt¬ liche Welt dasselbe Verhältnis festgehalten. Ähnlich ist der Gedankengang im Pronietheus, oder vielmehr: ähnlich würde er erscheinen, wenn uns nicht leider der zweite Teil, der entfesselte Prometheus, verloren gegangen wäre. Nur hat die aller Folgerichtigkeit bare Mythologie hier den Dichter gezwungen, die Rollen zu vertauschen, einen der alten Götter, den Titanen Prometheus, als Menschenfreund, den Herrscher der neuen Götter, Zeus, als Feind der Meuscheu und ihres Wohlthäters darzu¬ stellen. Wie sich in dem Verlornen Schluß der Konflikt beider Götterreiche in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/135>, abgerufen am 24.11.2024.