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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

aber ohne Zweifel hat die Mehrzahl der Zuschauer gedacht: ein solcher Theseus,
ein solcher Neoptolcmos, eine solche Antigone, eine solche Äthra möchte ich
Wohl sein!

Jene eigentümliche Deukungs- und Sinnesart der Athener, der ihr Han¬
deln und ihre Lebensweise entsprang, hat mau mit Recht Humanität genannt.
Wahre Humanität wird ihnen heute von vielen abgesprochen, von christlichen
Apologeten wie von den Vertreter" jener modernen angeblich praktischen und
realistischen Richtung, deren Begriff vom Erhabnen und Schönen in den zwanzig-
stöckigen Hotels von Chicago, in den Kursgewinnen und Dividenden ihren
Ausdruck findet. Wir werden sehen, ob der hellenische Humanismus wirklich
nur Schein gewesen ist.

Es giebt unter den Tragödien des Aischylos eine, die uns gewissermaßen
seine, des Humanismus, Geburt vorführt: die Eumeniden. Orest, der Rächer
seines Vaters und Mörder seiner Mutter, ist, von den Rachegöttinnen ge¬
peitscht, ins Heiligtum des delphischen Apoll geflohen. Die Unholdinnen sind
entschlummert und lassen dem Unglücklichen einen Augenblick der Ruhe. Apoll
erscheint, verspricht ihn zu befreien und schickt ihn unter dein Schutze des
Hermes nach Athen, wo er sich an das alte Bild der Pallas setzen und es
fromm umschlingen soll. Der Schatten der Klhtaimnestra weckt die Ermüden
auf. Sie rasen, da sie gewahren, daß ihnen ihr Opfer entkommen ist, und
machen dem Apoll heftige Vorwürfe: "Uns greise Götter überrennst du junger
Gott! Den Muttermörder stahlst dn uns, und bist ein Gott!" Apoll aber
verjagt die allen Göttern, das heißt allen jungen Göttern verhaßten "Scheu¬
sale," die Ausgeburten der Urnacht, aus seinem Tempel:


FortI meiner Wohnung dürfet ihr nicht nahe sein!
Nein, da, wo mörderkopfendes, augauswühlendes
Gericht, wo Mordgemetzel, frevle Fehlgeburt,
Entmannung, Schändung, alles Jammers Übermaß,
Wo Aufgespießte jammerlant, Gesteinigte
Verröchelnd wimmern.

Also wo barbarische Unthaten von barbarischen Richtern barbarisch gestraft
werden, da gehören sie hin, nicht in das dein freundlichen Sonnengott ge¬
weihte Natioualheiligtum der Hellenen. Es folgt ein Streit des Gottes mit
den Eumeniden darüber, wessen Schuld die größere sei, Orests oder Klh-
taimnestras. Die Eumeniden behaupten, der Muttermörder sei der Schuldigere,
denn Klhtaimnestra habe nur den Gemahl erschlagen, und dieser sei ihr nicht
blutsverwandt gewesen. Darauf erwidert Apoll:


So ganz mißehrt wird und gering geschätzt von dir
Der großen Hera und des Zeus eidheilger Bund,
Mißehrt, verworfen Kypris auch mit solchem Wort,
Von der doch alles Liebste kommt den Sterblichen.
Geeint vom Schicksal ist des Manns und Weibes Bund,

Die ätherische Volksmoral im Drama

aber ohne Zweifel hat die Mehrzahl der Zuschauer gedacht: ein solcher Theseus,
ein solcher Neoptolcmos, eine solche Antigone, eine solche Äthra möchte ich
Wohl sein!

Jene eigentümliche Deukungs- und Sinnesart der Athener, der ihr Han¬
deln und ihre Lebensweise entsprang, hat mau mit Recht Humanität genannt.
Wahre Humanität wird ihnen heute von vielen abgesprochen, von christlichen
Apologeten wie von den Vertreter» jener modernen angeblich praktischen und
realistischen Richtung, deren Begriff vom Erhabnen und Schönen in den zwanzig-
stöckigen Hotels von Chicago, in den Kursgewinnen und Dividenden ihren
Ausdruck findet. Wir werden sehen, ob der hellenische Humanismus wirklich
nur Schein gewesen ist.

Es giebt unter den Tragödien des Aischylos eine, die uns gewissermaßen
seine, des Humanismus, Geburt vorführt: die Eumeniden. Orest, der Rächer
seines Vaters und Mörder seiner Mutter, ist, von den Rachegöttinnen ge¬
peitscht, ins Heiligtum des delphischen Apoll geflohen. Die Unholdinnen sind
entschlummert und lassen dem Unglücklichen einen Augenblick der Ruhe. Apoll
erscheint, verspricht ihn zu befreien und schickt ihn unter dein Schutze des
Hermes nach Athen, wo er sich an das alte Bild der Pallas setzen und es
fromm umschlingen soll. Der Schatten der Klhtaimnestra weckt die Ermüden
auf. Sie rasen, da sie gewahren, daß ihnen ihr Opfer entkommen ist, und
machen dem Apoll heftige Vorwürfe: „Uns greise Götter überrennst du junger
Gott! Den Muttermörder stahlst dn uns, und bist ein Gott!" Apoll aber
verjagt die allen Göttern, das heißt allen jungen Göttern verhaßten „Scheu¬
sale," die Ausgeburten der Urnacht, aus seinem Tempel:


FortI meiner Wohnung dürfet ihr nicht nahe sein!
Nein, da, wo mörderkopfendes, augauswühlendes
Gericht, wo Mordgemetzel, frevle Fehlgeburt,
Entmannung, Schändung, alles Jammers Übermaß,
Wo Aufgespießte jammerlant, Gesteinigte
Verröchelnd wimmern.

Also wo barbarische Unthaten von barbarischen Richtern barbarisch gestraft
werden, da gehören sie hin, nicht in das dein freundlichen Sonnengott ge¬
weihte Natioualheiligtum der Hellenen. Es folgt ein Streit des Gottes mit
den Eumeniden darüber, wessen Schuld die größere sei, Orests oder Klh-
taimnestras. Die Eumeniden behaupten, der Muttermörder sei der Schuldigere,
denn Klhtaimnestra habe nur den Gemahl erschlagen, und dieser sei ihr nicht
blutsverwandt gewesen. Darauf erwidert Apoll:


So ganz mißehrt wird und gering geschätzt von dir
Der großen Hera und des Zeus eidheilger Bund,
Mißehrt, verworfen Kypris auch mit solchem Wort,
Von der doch alles Liebste kommt den Sterblichen.
Geeint vom Schicksal ist des Manns und Weibes Bund,

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[0131] Die ätherische Volksmoral im Drama aber ohne Zweifel hat die Mehrzahl der Zuschauer gedacht: ein solcher Theseus, ein solcher Neoptolcmos, eine solche Antigone, eine solche Äthra möchte ich Wohl sein! Jene eigentümliche Deukungs- und Sinnesart der Athener, der ihr Han¬ deln und ihre Lebensweise entsprang, hat mau mit Recht Humanität genannt. Wahre Humanität wird ihnen heute von vielen abgesprochen, von christlichen Apologeten wie von den Vertreter» jener modernen angeblich praktischen und realistischen Richtung, deren Begriff vom Erhabnen und Schönen in den zwanzig- stöckigen Hotels von Chicago, in den Kursgewinnen und Dividenden ihren Ausdruck findet. Wir werden sehen, ob der hellenische Humanismus wirklich nur Schein gewesen ist. Es giebt unter den Tragödien des Aischylos eine, die uns gewissermaßen seine, des Humanismus, Geburt vorführt: die Eumeniden. Orest, der Rächer seines Vaters und Mörder seiner Mutter, ist, von den Rachegöttinnen ge¬ peitscht, ins Heiligtum des delphischen Apoll geflohen. Die Unholdinnen sind entschlummert und lassen dem Unglücklichen einen Augenblick der Ruhe. Apoll erscheint, verspricht ihn zu befreien und schickt ihn unter dein Schutze des Hermes nach Athen, wo er sich an das alte Bild der Pallas setzen und es fromm umschlingen soll. Der Schatten der Klhtaimnestra weckt die Ermüden auf. Sie rasen, da sie gewahren, daß ihnen ihr Opfer entkommen ist, und machen dem Apoll heftige Vorwürfe: „Uns greise Götter überrennst du junger Gott! Den Muttermörder stahlst dn uns, und bist ein Gott!" Apoll aber verjagt die allen Göttern, das heißt allen jungen Göttern verhaßten „Scheu¬ sale," die Ausgeburten der Urnacht, aus seinem Tempel: FortI meiner Wohnung dürfet ihr nicht nahe sein! Nein, da, wo mörderkopfendes, augauswühlendes Gericht, wo Mordgemetzel, frevle Fehlgeburt, Entmannung, Schändung, alles Jammers Übermaß, Wo Aufgespießte jammerlant, Gesteinigte Verröchelnd wimmern. Also wo barbarische Unthaten von barbarischen Richtern barbarisch gestraft werden, da gehören sie hin, nicht in das dein freundlichen Sonnengott ge¬ weihte Natioualheiligtum der Hellenen. Es folgt ein Streit des Gottes mit den Eumeniden darüber, wessen Schuld die größere sei, Orests oder Klh- taimnestras. Die Eumeniden behaupten, der Muttermörder sei der Schuldigere, denn Klhtaimnestra habe nur den Gemahl erschlagen, und dieser sei ihr nicht blutsverwandt gewesen. Darauf erwidert Apoll: So ganz mißehrt wird und gering geschätzt von dir Der großen Hera und des Zeus eidheilger Bund, Mißehrt, verworfen Kypris auch mit solchem Wort, Von der doch alles Liebste kommt den Sterblichen. Geeint vom Schicksal ist des Manns und Weibes Bund,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/131>, abgerufen am 23.11.2024.