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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Vrama

werden schon nicht viele eine so wenig einseitige Neigung verraten, dergleichen
gehört nicht zum guten Ton auf unsern Hochschule". Ich denke mir nun,
einem Lehrer, der etwa die drei deutschen Fächer: Geschichte, Sprache und
Litteratur vertritt, könnte der Lehrplan eine bestimmte Anzahl Stunden zu¬
weisen. Wie er die einzelnen Stunden zweckmüßig verwendet, ist seine Sache,
das heißt, er entwirft innerhalb dieses Nahmens einen eignen Lehrplan, was
allerdings nicht ganz so bequem ist wie ein gedruckter, und legt ihn dem Leiter
der Anstalt zur Prüfung vor. Genehmigt ihn der, so mag er darnach unter¬
richten. Ich glaube, diese Praxis bekäme Lehrern und Schülern gleich gut.

Doch das war nur eine Anmerkung.


Paul Harms


Die ätherische Volksmoral im Drama
i

el einer frühern Gelegenheit habe ich die wunderliche Behaup¬
tung eines Professors erwähnt, die Alten hätten das Mitleid,
wenigstens "als Tugendempfindung einer großen Zahl," nicht
gekannt. Ich wies damals vorläufig nur auf den berühmten
Satz des Aristoteles hin, die Tragödie solle Mitleid und Furcht
erregen, um diese Empfindungen zu reinigen, oder, wie es andre verstehen,
um das Herz von diesen Empfindungen zu befreien, etwa wie Goethe den
Werther schrieb, um die Wcrtherstimmung loszuwerden. Nachträglich nahm:
ich mir vor, doch einmal das griechische Drama auf diesen Gegenstand hin
anzusehen; ich las daher die drei Tragiker und den Aristophanes--in Über¬
setzung -- hinter einander durch. Der Eindruck, den ich empfing, überraschte
mich. Ich fand, daß die Griechen, die Athener wenigstens, auf einer höhern
Stufe der Sittlichkeit gestanden haben, als man gewöhnlich annimmt, und daß
die Schätzung, die sie sowohl von unsern Theologen wie von den realistischen
Gegnern des humanistischen Gymnasiums zu erfahren Pflegen, ungerecht ist.
Ich faud aber auch, daß die Philologen an den Gymnasien die Ungunst, die
sie jetzt verfolgt, selbst verschuldet haben: warum peinigen sie die Schüler so
übermäßig lange mit Accenten und mit dem Unterschiede von ^ und ^
vo, anstatt sie mit der in den griechischen Dichtungen enthaltenen Geistesnah¬
rung zu speisen! Gewiß wäre Leichtfertigkeit und Oberflächlichkeit in der Ein-
prügung der Elemente nicht zu billigen; diese müssen festsitzen, wenn der In¬
halt in der Ursprache genossen werden soll. Aber man konnte wohl das eine


Grenzboten III 1393 16
Die ätherische Volksmoral im Vrama

werden schon nicht viele eine so wenig einseitige Neigung verraten, dergleichen
gehört nicht zum guten Ton auf unsern Hochschule». Ich denke mir nun,
einem Lehrer, der etwa die drei deutschen Fächer: Geschichte, Sprache und
Litteratur vertritt, könnte der Lehrplan eine bestimmte Anzahl Stunden zu¬
weisen. Wie er die einzelnen Stunden zweckmüßig verwendet, ist seine Sache,
das heißt, er entwirft innerhalb dieses Nahmens einen eignen Lehrplan, was
allerdings nicht ganz so bequem ist wie ein gedruckter, und legt ihn dem Leiter
der Anstalt zur Prüfung vor. Genehmigt ihn der, so mag er darnach unter¬
richten. Ich glaube, diese Praxis bekäme Lehrern und Schülern gleich gut.

Doch das war nur eine Anmerkung.


Paul Harms


Die ätherische Volksmoral im Drama
i

el einer frühern Gelegenheit habe ich die wunderliche Behaup¬
tung eines Professors erwähnt, die Alten hätten das Mitleid,
wenigstens „als Tugendempfindung einer großen Zahl," nicht
gekannt. Ich wies damals vorläufig nur auf den berühmten
Satz des Aristoteles hin, die Tragödie solle Mitleid und Furcht
erregen, um diese Empfindungen zu reinigen, oder, wie es andre verstehen,
um das Herz von diesen Empfindungen zu befreien, etwa wie Goethe den
Werther schrieb, um die Wcrtherstimmung loszuwerden. Nachträglich nahm:
ich mir vor, doch einmal das griechische Drama auf diesen Gegenstand hin
anzusehen; ich las daher die drei Tragiker und den Aristophanes—in Über¬
setzung — hinter einander durch. Der Eindruck, den ich empfing, überraschte
mich. Ich fand, daß die Griechen, die Athener wenigstens, auf einer höhern
Stufe der Sittlichkeit gestanden haben, als man gewöhnlich annimmt, und daß
die Schätzung, die sie sowohl von unsern Theologen wie von den realistischen
Gegnern des humanistischen Gymnasiums zu erfahren Pflegen, ungerecht ist.
Ich faud aber auch, daß die Philologen an den Gymnasien die Ungunst, die
sie jetzt verfolgt, selbst verschuldet haben: warum peinigen sie die Schüler so
übermäßig lange mit Accenten und mit dem Unterschiede von ^ und ^
vo, anstatt sie mit der in den griechischen Dichtungen enthaltenen Geistesnah¬
rung zu speisen! Gewiß wäre Leichtfertigkeit und Oberflächlichkeit in der Ein-
prügung der Elemente nicht zu billigen; diese müssen festsitzen, wenn der In¬
halt in der Ursprache genossen werden soll. Aber man konnte wohl das eine


Grenzboten III 1393 16
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/129>, abgerufen am 23.11.2024.