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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Auch ein Lehrplan

glaubt, er sei. auch ein Mensch, Ich weiß wohl, es giebt auf deutschen Hoch¬
schule" noch eine andre Art von Einsiedlerkrebsen, die sich dort "studirens
halber" aufhält und die Kalkschale, mit der sie ihr mehr oder minder unver¬
dorbnes Gemüt nach und nach gegen jede nichtakademische Berührung ab¬
schließt, aus wesentlich anderm Stoff aufbaut. Aber das lernt sich außer¬
ordentlich leicht und bedarf kaum einer besonder" Vorbereitung auf der Schule.
Das braucht uns also nicht abzuhalten, der Schule die edlere Aufgabe zu
stellen, daß sie die Wurzel werde, aus der der weitverzweigte Baum des
deutschen Volkstums seine kräftigste Nahrung zieht.

Nun ist zwar schou längst das große Wort gefallen, das Deutsche müsse
im Mittelpunkt des Unterrichts stehn. Fragen wir einmal umgekehrt: was
muß das Deutsche lehren, um im Mittelpunkt des Unterrichts stehn zu können?
Wir hatten für die allgemeine Bildung des Verstandes zwei Hauptpunkte ge¬
funden. Einmal die Biologie als die Wissenschaft von der Entwicklung mensch¬
lichen Lebens überhaupt und ihren Bedingungen. Dazu tritt im deutschen
Unterricht die Lehre von der Entwicklung geselligen Lebens in der Kultur¬
gemeinschaft eines Volks, die deutsche Geschichte. An sie schließe sich, soweit
es notwendig ist, die Geschichte fremder Völker an, und ihr gehe, wie der
Biologie eine physische Erdbeschreibung, so eine Geschichte der antiken Kultur
in ihren Hauptzügen voran. Livius hübsche Geschichtchen ad urbs vouclita
brauchen dazu aber nicht im Urtext gelesen zu werden. Der zweite Haupt¬
punkt der Verstandesbildung war die Geschichte der internationalen Künste;
so bilde man den deutscheu Charakter zweitens an der Geschichte der nationalsten
Kunst, der deutschen Dichtkunst. Auch hier mögen sich fremde Litteraturen
nach Bedürfnis anschließen, besonders, sofern sie nicht schon im Unterricht der
fremden Sprachen behandelt werden. Eine wirkliche Geschichte der deutscheu
Dichtkunst aber, die nicht wie der gegenwärtige deutsche Unterricht uur von
wenigen Beeten spärlichen Honig sammelt, setzt die Geschichte der deutscheu
Sprache naturgemäß voraus. Deutsche Geschichte im vollkommensten Sinn
des Wortes, das wär also der Teil des Unterrichts, dem die Bildung des
Charakters zufüllt.

Ein Lehrplan, der sich dieses Ziel steckt, darf natürlich auch den Lehrer
nicht an so kurzem Zügel führen, wie einer, der nichts höheres zu erstreben
weiß als ein Abiturientenexamen. Innerhalb natürlicher Grenzen lasse man
dem Lehrer so viel persönliche Freiheit als möglich, und man räume vor
allem mit dem ängstlichen Fnknltätenzwang für das Staatsexamen auf. Aus
welchem Schubfach die ^ima urater ihre Weisheit verabreicht, darauf kommt
es nicht so sehr an. Gewisse Fächer werden für den Unterricht in einer Hand
vereinigt sein müssen, im übrigen aber sollte man froh sein, wenn ein Philo¬
loge Neigung zeigt, sich eine naturwissenschaftliche "Fakultas" zu holen, und
umgekehrt, und man sollte ihm das nicht nach Möglichkeit erschweren. Es


Auch ein Lehrplan

glaubt, er sei. auch ein Mensch, Ich weiß wohl, es giebt auf deutschen Hoch¬
schule» noch eine andre Art von Einsiedlerkrebsen, die sich dort „studirens
halber" aufhält und die Kalkschale, mit der sie ihr mehr oder minder unver¬
dorbnes Gemüt nach und nach gegen jede nichtakademische Berührung ab¬
schließt, aus wesentlich anderm Stoff aufbaut. Aber das lernt sich außer¬
ordentlich leicht und bedarf kaum einer besonder» Vorbereitung auf der Schule.
Das braucht uns also nicht abzuhalten, der Schule die edlere Aufgabe zu
stellen, daß sie die Wurzel werde, aus der der weitverzweigte Baum des
deutschen Volkstums seine kräftigste Nahrung zieht.

Nun ist zwar schou längst das große Wort gefallen, das Deutsche müsse
im Mittelpunkt des Unterrichts stehn. Fragen wir einmal umgekehrt: was
muß das Deutsche lehren, um im Mittelpunkt des Unterrichts stehn zu können?
Wir hatten für die allgemeine Bildung des Verstandes zwei Hauptpunkte ge¬
funden. Einmal die Biologie als die Wissenschaft von der Entwicklung mensch¬
lichen Lebens überhaupt und ihren Bedingungen. Dazu tritt im deutschen
Unterricht die Lehre von der Entwicklung geselligen Lebens in der Kultur¬
gemeinschaft eines Volks, die deutsche Geschichte. An sie schließe sich, soweit
es notwendig ist, die Geschichte fremder Völker an, und ihr gehe, wie der
Biologie eine physische Erdbeschreibung, so eine Geschichte der antiken Kultur
in ihren Hauptzügen voran. Livius hübsche Geschichtchen ad urbs vouclita
brauchen dazu aber nicht im Urtext gelesen zu werden. Der zweite Haupt¬
punkt der Verstandesbildung war die Geschichte der internationalen Künste;
so bilde man den deutscheu Charakter zweitens an der Geschichte der nationalsten
Kunst, der deutschen Dichtkunst. Auch hier mögen sich fremde Litteraturen
nach Bedürfnis anschließen, besonders, sofern sie nicht schon im Unterricht der
fremden Sprachen behandelt werden. Eine wirkliche Geschichte der deutscheu
Dichtkunst aber, die nicht wie der gegenwärtige deutsche Unterricht uur von
wenigen Beeten spärlichen Honig sammelt, setzt die Geschichte der deutscheu
Sprache naturgemäß voraus. Deutsche Geschichte im vollkommensten Sinn
des Wortes, das wär also der Teil des Unterrichts, dem die Bildung des
Charakters zufüllt.

Ein Lehrplan, der sich dieses Ziel steckt, darf natürlich auch den Lehrer
nicht an so kurzem Zügel führen, wie einer, der nichts höheres zu erstreben
weiß als ein Abiturientenexamen. Innerhalb natürlicher Grenzen lasse man
dem Lehrer so viel persönliche Freiheit als möglich, und man räume vor
allem mit dem ängstlichen Fnknltätenzwang für das Staatsexamen auf. Aus
welchem Schubfach die ^ima urater ihre Weisheit verabreicht, darauf kommt
es nicht so sehr an. Gewisse Fächer werden für den Unterricht in einer Hand
vereinigt sein müssen, im übrigen aber sollte man froh sein, wenn ein Philo¬
loge Neigung zeigt, sich eine naturwissenschaftliche „Fakultas" zu holen, und
umgekehrt, und man sollte ihm das nicht nach Möglichkeit erschweren. Es


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[0128] Auch ein Lehrplan glaubt, er sei. auch ein Mensch, Ich weiß wohl, es giebt auf deutschen Hoch¬ schule» noch eine andre Art von Einsiedlerkrebsen, die sich dort „studirens halber" aufhält und die Kalkschale, mit der sie ihr mehr oder minder unver¬ dorbnes Gemüt nach und nach gegen jede nichtakademische Berührung ab¬ schließt, aus wesentlich anderm Stoff aufbaut. Aber das lernt sich außer¬ ordentlich leicht und bedarf kaum einer besonder» Vorbereitung auf der Schule. Das braucht uns also nicht abzuhalten, der Schule die edlere Aufgabe zu stellen, daß sie die Wurzel werde, aus der der weitverzweigte Baum des deutschen Volkstums seine kräftigste Nahrung zieht. Nun ist zwar schou längst das große Wort gefallen, das Deutsche müsse im Mittelpunkt des Unterrichts stehn. Fragen wir einmal umgekehrt: was muß das Deutsche lehren, um im Mittelpunkt des Unterrichts stehn zu können? Wir hatten für die allgemeine Bildung des Verstandes zwei Hauptpunkte ge¬ funden. Einmal die Biologie als die Wissenschaft von der Entwicklung mensch¬ lichen Lebens überhaupt und ihren Bedingungen. Dazu tritt im deutschen Unterricht die Lehre von der Entwicklung geselligen Lebens in der Kultur¬ gemeinschaft eines Volks, die deutsche Geschichte. An sie schließe sich, soweit es notwendig ist, die Geschichte fremder Völker an, und ihr gehe, wie der Biologie eine physische Erdbeschreibung, so eine Geschichte der antiken Kultur in ihren Hauptzügen voran. Livius hübsche Geschichtchen ad urbs vouclita brauchen dazu aber nicht im Urtext gelesen zu werden. Der zweite Haupt¬ punkt der Verstandesbildung war die Geschichte der internationalen Künste; so bilde man den deutscheu Charakter zweitens an der Geschichte der nationalsten Kunst, der deutschen Dichtkunst. Auch hier mögen sich fremde Litteraturen nach Bedürfnis anschließen, besonders, sofern sie nicht schon im Unterricht der fremden Sprachen behandelt werden. Eine wirkliche Geschichte der deutscheu Dichtkunst aber, die nicht wie der gegenwärtige deutsche Unterricht uur von wenigen Beeten spärlichen Honig sammelt, setzt die Geschichte der deutscheu Sprache naturgemäß voraus. Deutsche Geschichte im vollkommensten Sinn des Wortes, das wär also der Teil des Unterrichts, dem die Bildung des Charakters zufüllt. Ein Lehrplan, der sich dieses Ziel steckt, darf natürlich auch den Lehrer nicht an so kurzem Zügel führen, wie einer, der nichts höheres zu erstreben weiß als ein Abiturientenexamen. Innerhalb natürlicher Grenzen lasse man dem Lehrer so viel persönliche Freiheit als möglich, und man räume vor allem mit dem ängstlichen Fnknltätenzwang für das Staatsexamen auf. Aus welchem Schubfach die ^ima urater ihre Weisheit verabreicht, darauf kommt es nicht so sehr an. Gewisse Fächer werden für den Unterricht in einer Hand vereinigt sein müssen, im übrigen aber sollte man froh sein, wenn ein Philo¬ loge Neigung zeigt, sich eine naturwissenschaftliche „Fakultas" zu holen, und umgekehrt, und man sollte ihm das nicht nach Möglichkeit erschweren. Es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/128>, abgerufen am 27.11.2024.