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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Auch ein Lehrplan

bequemeren Wege vollständiger erreichen. Der Herr Professor hat denn
laut Zeitungsberichten auch scharf gegen das Mitreden der Laien in Unter¬
richtsfragen gerümpft. Ja, das möchte den Herren Wohl passen. Aber der
Kampf um die Schule ist kein Gelehrtenstreit, kein "Mönchsgezänk," es ist der
Kampf um die Zukunft des Reichs. Und da werden sich die Herren gefallen
lassen müssen, daß alle die ein Wort mitreden, die nicht nur sich, sondern
auch ihren Nachkommen das Vaterland erhalten wollen. Das Gut, das die
Väter mit ihrem Herzblut erstritten haben, wir wollen es erwerben, damit,
wenn nicht wir, so doch wenigstens die Enkel es wirklich besitzen.

Es scheint mir ein Fehler zu sein, daß man mit dem Verlangen nach
einem volkstümlichen Unterricht die Forderung verbunden hat, den Natur¬
wissenschaften noch mehr Raum im Lehrplan zu geben. Man erwartet, von
den riesigen Erfolgen der modernen Technik verführt, von den Naturwissen-
schaften Wunderdinge, die sie nie geleistet haben, und die sie nie leisten werden.
Man war es überdrüssig, den deutschen Geist in die Fesseln einer toten Kultur
schlagen zu lassen, und man warf sich blindlings der vaterlandslosesten aller
Wissenschaften in die Arme. Weil diese Wissenschaft in neuerer Zeit auch eine
Knlturmacht geworden ist wie keine andre, deshalb meinte man, sie müsse auch
einen Bildungswert besitzen wie keine andre. Aber so hoch auch die Natur¬
wissenschaft als Wissenschaft steht, der Schluß ist doch nicht berechtigt. Denn
moderne Kulturmüchte sind auch die Presse, die Mode, die Börse, das Theater,
ja schließlich auch das Tingeltangel, denen man doch kaum in ihrer All¬
gemeinheit irgend welchen Bildungswert zuschreiben kann. Wenn übrigens
nicht alle Zeichen trügen, so nimmt die Überschätzung der theoretischen Natur¬
wissenschaft fortdauernd ab. In dem Streit um die Schule würde sie schwerlich
noch eine Rolle spielen, wenn man ihrer nicht zu bedürfen glaubte, um die
Gleichberechtigung der Realgymnasien durchzusetzen. Dazu muß immer wieder
gezeigt werden, daß die Gymnasien für das Studium der Technik und der
Naturwissenschaften nur mangelhaft vorbereiten. In der That, da der Neal-
gymnasiast schon auf der Schule mehr von diesen Dingen gehört hat, so ist
er besser vorbereitet als der Gymnasiast, wobei nur noch die bescheidne Frage
Zu beantworten wäre, ob man etwa meint, daß einer von beiden überhaupt
gut vorbereitet sei. Jedenfalls müßte man folgerichtig nicht fordern, daß die
beiden Anstalten einander gleichgestellt würden, sondern daß dem Gymnasium
die Berechtigung entzogen würde, seine Schüler zum Studium der Natur¬
wissenschaften zu entlasten. Ein andrer Ausweg wäre dann freilich der, den
Zopf der alten Gelehrtenschule endlich abzuschneiden, der uns von der Zeit
des Magisters Philippus her noch hinten hängt. Was ist das heute für eine
ärmliche Aufgabe, die man unsern höhern Schulen immer noch stellen möchte,
"für die gelehrten Berufe vorzubereiten," die frischen Jungen schon auf den
Einsiedlerkrebs abzurichten, der sich in seinen gelehrten Beruf einkapselt und


Auch ein Lehrplan

bequemeren Wege vollständiger erreichen. Der Herr Professor hat denn
laut Zeitungsberichten auch scharf gegen das Mitreden der Laien in Unter¬
richtsfragen gerümpft. Ja, das möchte den Herren Wohl passen. Aber der
Kampf um die Schule ist kein Gelehrtenstreit, kein „Mönchsgezänk," es ist der
Kampf um die Zukunft des Reichs. Und da werden sich die Herren gefallen
lassen müssen, daß alle die ein Wort mitreden, die nicht nur sich, sondern
auch ihren Nachkommen das Vaterland erhalten wollen. Das Gut, das die
Väter mit ihrem Herzblut erstritten haben, wir wollen es erwerben, damit,
wenn nicht wir, so doch wenigstens die Enkel es wirklich besitzen.

Es scheint mir ein Fehler zu sein, daß man mit dem Verlangen nach
einem volkstümlichen Unterricht die Forderung verbunden hat, den Natur¬
wissenschaften noch mehr Raum im Lehrplan zu geben. Man erwartet, von
den riesigen Erfolgen der modernen Technik verführt, von den Naturwissen-
schaften Wunderdinge, die sie nie geleistet haben, und die sie nie leisten werden.
Man war es überdrüssig, den deutschen Geist in die Fesseln einer toten Kultur
schlagen zu lassen, und man warf sich blindlings der vaterlandslosesten aller
Wissenschaften in die Arme. Weil diese Wissenschaft in neuerer Zeit auch eine
Knlturmacht geworden ist wie keine andre, deshalb meinte man, sie müsse auch
einen Bildungswert besitzen wie keine andre. Aber so hoch auch die Natur¬
wissenschaft als Wissenschaft steht, der Schluß ist doch nicht berechtigt. Denn
moderne Kulturmüchte sind auch die Presse, die Mode, die Börse, das Theater,
ja schließlich auch das Tingeltangel, denen man doch kaum in ihrer All¬
gemeinheit irgend welchen Bildungswert zuschreiben kann. Wenn übrigens
nicht alle Zeichen trügen, so nimmt die Überschätzung der theoretischen Natur¬
wissenschaft fortdauernd ab. In dem Streit um die Schule würde sie schwerlich
noch eine Rolle spielen, wenn man ihrer nicht zu bedürfen glaubte, um die
Gleichberechtigung der Realgymnasien durchzusetzen. Dazu muß immer wieder
gezeigt werden, daß die Gymnasien für das Studium der Technik und der
Naturwissenschaften nur mangelhaft vorbereiten. In der That, da der Neal-
gymnasiast schon auf der Schule mehr von diesen Dingen gehört hat, so ist
er besser vorbereitet als der Gymnasiast, wobei nur noch die bescheidne Frage
Zu beantworten wäre, ob man etwa meint, daß einer von beiden überhaupt
gut vorbereitet sei. Jedenfalls müßte man folgerichtig nicht fordern, daß die
beiden Anstalten einander gleichgestellt würden, sondern daß dem Gymnasium
die Berechtigung entzogen würde, seine Schüler zum Studium der Natur¬
wissenschaften zu entlasten. Ein andrer Ausweg wäre dann freilich der, den
Zopf der alten Gelehrtenschule endlich abzuschneiden, der uns von der Zeit
des Magisters Philippus her noch hinten hängt. Was ist das heute für eine
ärmliche Aufgabe, die man unsern höhern Schulen immer noch stellen möchte,
„für die gelehrten Berufe vorzubereiten," die frischen Jungen schon auf den
Einsiedlerkrebs abzurichten, der sich in seinen gelehrten Beruf einkapselt und


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[0127] Auch ein Lehrplan bequemeren Wege vollständiger erreichen. Der Herr Professor hat denn laut Zeitungsberichten auch scharf gegen das Mitreden der Laien in Unter¬ richtsfragen gerümpft. Ja, das möchte den Herren Wohl passen. Aber der Kampf um die Schule ist kein Gelehrtenstreit, kein „Mönchsgezänk," es ist der Kampf um die Zukunft des Reichs. Und da werden sich die Herren gefallen lassen müssen, daß alle die ein Wort mitreden, die nicht nur sich, sondern auch ihren Nachkommen das Vaterland erhalten wollen. Das Gut, das die Väter mit ihrem Herzblut erstritten haben, wir wollen es erwerben, damit, wenn nicht wir, so doch wenigstens die Enkel es wirklich besitzen. Es scheint mir ein Fehler zu sein, daß man mit dem Verlangen nach einem volkstümlichen Unterricht die Forderung verbunden hat, den Natur¬ wissenschaften noch mehr Raum im Lehrplan zu geben. Man erwartet, von den riesigen Erfolgen der modernen Technik verführt, von den Naturwissen- schaften Wunderdinge, die sie nie geleistet haben, und die sie nie leisten werden. Man war es überdrüssig, den deutschen Geist in die Fesseln einer toten Kultur schlagen zu lassen, und man warf sich blindlings der vaterlandslosesten aller Wissenschaften in die Arme. Weil diese Wissenschaft in neuerer Zeit auch eine Knlturmacht geworden ist wie keine andre, deshalb meinte man, sie müsse auch einen Bildungswert besitzen wie keine andre. Aber so hoch auch die Natur¬ wissenschaft als Wissenschaft steht, der Schluß ist doch nicht berechtigt. Denn moderne Kulturmüchte sind auch die Presse, die Mode, die Börse, das Theater, ja schließlich auch das Tingeltangel, denen man doch kaum in ihrer All¬ gemeinheit irgend welchen Bildungswert zuschreiben kann. Wenn übrigens nicht alle Zeichen trügen, so nimmt die Überschätzung der theoretischen Natur¬ wissenschaft fortdauernd ab. In dem Streit um die Schule würde sie schwerlich noch eine Rolle spielen, wenn man ihrer nicht zu bedürfen glaubte, um die Gleichberechtigung der Realgymnasien durchzusetzen. Dazu muß immer wieder gezeigt werden, daß die Gymnasien für das Studium der Technik und der Naturwissenschaften nur mangelhaft vorbereiten. In der That, da der Neal- gymnasiast schon auf der Schule mehr von diesen Dingen gehört hat, so ist er besser vorbereitet als der Gymnasiast, wobei nur noch die bescheidne Frage Zu beantworten wäre, ob man etwa meint, daß einer von beiden überhaupt gut vorbereitet sei. Jedenfalls müßte man folgerichtig nicht fordern, daß die beiden Anstalten einander gleichgestellt würden, sondern daß dem Gymnasium die Berechtigung entzogen würde, seine Schüler zum Studium der Natur¬ wissenschaften zu entlasten. Ein andrer Ausweg wäre dann freilich der, den Zopf der alten Gelehrtenschule endlich abzuschneiden, der uns von der Zeit des Magisters Philippus her noch hinten hängt. Was ist das heute für eine ärmliche Aufgabe, die man unsern höhern Schulen immer noch stellen möchte, „für die gelehrten Berufe vorzubereiten," die frischen Jungen schon auf den Einsiedlerkrebs abzurichten, der sich in seinen gelehrten Beruf einkapselt und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/127>, abgerufen am 28.07.2024.