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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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einzuschmuggeln. Es genügt, wenn der Schüler einsieht, daß auch die reinste
Theorie nicht vom Himmel fällt, sondern aus dem Bedürfnis erwächst.

Aus demselben Grunde aber sollte man auch nicht gleich mit der Theorie
ins Haus fallen. Den Sextaner verschone man gefälligst mit den sogenannten
Axiomen. Einem Neger, den man lesen lehren will, Goethes Faust in die
Hand geben, und einem Sextaner den Grundsatz predigen, wenn zwei Großen
einer dritten gleich seien, so seien sie auch einander gleich, das ist eins so
sinnvoll wie das andre. Keinem Sextanergemüt wird es einfallen, Wider¬
spruch zu erheben, wenn der Lehrer den Grundsatz stillschweigend anwendet.
Spricht er ihn aber aus, so verführt er deu Schüler, etwas selbstverständliches
für hohe Weisheit zu halten, und das ist vom Übel. Theoretische Sätze gehen
über den Knabenverstand hinaus. Aber gerade darum ist die Mathematik so
sehr geeignet, schon dem ganz jugendlichen Verstand die Zügel folgerichtigen
Denkens anzulegen, weil man zwischen theoretischer und sinnlicher Wirklichkeit
nicht zu unterscheiden braucht. Was die Mathematik aussagt, sagt sie von
der Form aus. Die Form aber ist eine Eigenschaft der festen Körper; also
kann man die Sätze der Mathematik an sichtbaren und greifbaren Körpern
ableiten, ohne daß von Axiomen die Rede ist. Hat die fortschreitende Praxis
des Unterrichts den Schüler erst an streng mathematisches Denken gewöhnt,
so kann man ihn auf der Prima etwa bei einem Rückblick auch die rein philo¬
sophischen Grundsätze, die Axiome finden lassen. Denn dem sattelfesten Mathe¬
matiker kann man den Wert der reinen Theorie schon deutlich machen, nicht
aber dem tastenden Anfänger. Ich würde mich aber wohl hüten, dem Primaner,
der die analytische Geometrie zu studiren beginnt, zu erzählen, die Einheit
dieser Mathematik sei die unendlich kleine Größe.

Wie die Mathematik kann auch die Biologie gelehrt werden, ohne daß
man den Schüler gleich mit der Nase auf die Theorie stößt. Darum gehört
von den internationalen Wissenschaften vor allen diese auf die Schule. Mit
einer physischen Beschreibung unsers Wohnorts, der Erde beginnend, hat sie
durch Botanik und Zoologie die Entwicklung organischen Lebens zu verfolgen
bis auf den Menschen und seine allgemeinen Lebensbedingungen. Der Mensch
nun begnügt sich nicht damit, die unbewußten Triebe zur Erhaltung des Lebens
zu befriedigen. Er entwickelt sich aus dem Zustande der Natur zur Kultur,
und in diesem Zustande regt sich schon früh der Trieb, eine vom Zufall be¬
freite Welt der Ideale zu schaffen, in der sich darstellt, was dem Menschen
über irdische Schranken hinaus als begehrenswert erscheint. Diese Ideale ver¬
körpert die Kunst, und darum gesellt sich zur Biologie mit Recht die Kunst¬
geschichte. Wer diese beiden Zweige der Wissenschaft, wenn auch nur in großen
Zügen, kennen gelernt hat, der ist imstande, die Fühlung mit dem Geistes¬
leben unsrer Zeit zu wahren. Denn er hat das kennen gelernt, was gleichsam
Leitmotiv der modernen Wissenschaft geworden ist, das Bestreben, überall die


einzuschmuggeln. Es genügt, wenn der Schüler einsieht, daß auch die reinste
Theorie nicht vom Himmel fällt, sondern aus dem Bedürfnis erwächst.

Aus demselben Grunde aber sollte man auch nicht gleich mit der Theorie
ins Haus fallen. Den Sextaner verschone man gefälligst mit den sogenannten
Axiomen. Einem Neger, den man lesen lehren will, Goethes Faust in die
Hand geben, und einem Sextaner den Grundsatz predigen, wenn zwei Großen
einer dritten gleich seien, so seien sie auch einander gleich, das ist eins so
sinnvoll wie das andre. Keinem Sextanergemüt wird es einfallen, Wider¬
spruch zu erheben, wenn der Lehrer den Grundsatz stillschweigend anwendet.
Spricht er ihn aber aus, so verführt er deu Schüler, etwas selbstverständliches
für hohe Weisheit zu halten, und das ist vom Übel. Theoretische Sätze gehen
über den Knabenverstand hinaus. Aber gerade darum ist die Mathematik so
sehr geeignet, schon dem ganz jugendlichen Verstand die Zügel folgerichtigen
Denkens anzulegen, weil man zwischen theoretischer und sinnlicher Wirklichkeit
nicht zu unterscheiden braucht. Was die Mathematik aussagt, sagt sie von
der Form aus. Die Form aber ist eine Eigenschaft der festen Körper; also
kann man die Sätze der Mathematik an sichtbaren und greifbaren Körpern
ableiten, ohne daß von Axiomen die Rede ist. Hat die fortschreitende Praxis
des Unterrichts den Schüler erst an streng mathematisches Denken gewöhnt,
so kann man ihn auf der Prima etwa bei einem Rückblick auch die rein philo¬
sophischen Grundsätze, die Axiome finden lassen. Denn dem sattelfesten Mathe¬
matiker kann man den Wert der reinen Theorie schon deutlich machen, nicht
aber dem tastenden Anfänger. Ich würde mich aber wohl hüten, dem Primaner,
der die analytische Geometrie zu studiren beginnt, zu erzählen, die Einheit
dieser Mathematik sei die unendlich kleine Größe.

Wie die Mathematik kann auch die Biologie gelehrt werden, ohne daß
man den Schüler gleich mit der Nase auf die Theorie stößt. Darum gehört
von den internationalen Wissenschaften vor allen diese auf die Schule. Mit
einer physischen Beschreibung unsers Wohnorts, der Erde beginnend, hat sie
durch Botanik und Zoologie die Entwicklung organischen Lebens zu verfolgen
bis auf den Menschen und seine allgemeinen Lebensbedingungen. Der Mensch
nun begnügt sich nicht damit, die unbewußten Triebe zur Erhaltung des Lebens
zu befriedigen. Er entwickelt sich aus dem Zustande der Natur zur Kultur,
und in diesem Zustande regt sich schon früh der Trieb, eine vom Zufall be¬
freite Welt der Ideale zu schaffen, in der sich darstellt, was dem Menschen
über irdische Schranken hinaus als begehrenswert erscheint. Diese Ideale ver¬
körpert die Kunst, und darum gesellt sich zur Biologie mit Recht die Kunst¬
geschichte. Wer diese beiden Zweige der Wissenschaft, wenn auch nur in großen
Zügen, kennen gelernt hat, der ist imstande, die Fühlung mit dem Geistes¬
leben unsrer Zeit zu wahren. Denn er hat das kennen gelernt, was gleichsam
Leitmotiv der modernen Wissenschaft geworden ist, das Bestreben, überall die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/123>, abgerufen am 28.07.2024.