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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Auch ein Lehrplan

gemeine Bildung vollends nichts. Die rechnende Mathematik, die Arithmetik,
beginnt ebenfalls mit der Anschauung, mit der Betrachtung gleicher Formen
an der Rechenmaschine, an der die "vier Spezies" -- übrigens eine schauder¬
hafte Bezeichnung -- entwickelt werden. Nun läßt sich wohl nicht die ganze
Arithmetik anschaulich darstellen. Man wird aber der Fassungskraft des
Schülers immer noch gerecht, wenn man nur solche Zweige der Arithmetik
verfolgt, die sich von der Anschauung nicht weit entfernen, oder die zur An¬
schauung wieder zurückkehren. Man würde aus diesen Grenzen nicht leicht
heraustreten, wenn man Arithmetik und Geometrie vereinigen könnte, sodaß
die arithmetische Entwicklung nur da weitergeführt würde, wo sich ein Be¬
dürfnis dazu geltend macht. Da jedoch die alte Praxis noch zu tief wurzelt, der
die Mathematik Selbstzweck ist, so wird man einstweilen die Arithmetik selb¬
ständig neben der Geometrie herfuhren müssen, etwa bis zur quadratischen
Gleichung. Dann aber kann man sie endgiltig mit der Geometrie vereinigen
zur messenden Mathematik. Vollständig wird diese Vereinigung in der ana¬
lytischen Geometrie, die darnach strebt, jedes Gebilde im Raum durch eine
Zahlgröße darzustellen. Um dem Schüler diese Vereinigung der beiden Zweige,
die aus einer Wurzel entspringen, klar zu machen, bedarf es nur eines geringen
Teils der analytischen Geometrie der Ebne, nämlich der Lehre von den Kegel¬
schnitten, bezogen auf ein rechtwinkliges Koordinatensystem. Faßt man dies als
Ziel des mathematischen Schulunterrichts ins Auge, so kann man von hier aus
rückwärts leicht bestimmen, was man ans dem unendlichen Gebiet der Mathematik
für die Schule auszuwählen hat. Die Kegelschnitte sind ebne Kurven, ihre Glei¬
chung ist vom zweiten Grade; ihre Theorie setzt also voraus die einfachsten Sätze
der Planimetrie und die der Arithmetik bis zur Gleichung zweiten Grades. Dieser
Lehrstoff wäre in durchschnittlich zwei Stunden für die Woche sicher bequem zu
bewältigen. Ja man konnte ihn wohl noch nach zwei Richtungen erweitern.
Man könnte den Anfang der Stereometrie hinzuziehen, aber gleich in Gestalt
der mathematischen Geographie. Und man könnte einen Blick thun in die
höhere Mathematik. Die analytische Geometrie ist ja eigentlich schon höhere
Mathematik, denn da sie jede Naumgröße durch eine Zahlgrvße darstellen will,
so muß sie der Einheit der Zahlgröße die Form einer unendlich kleinen Raum¬
größe geben. Thatsächlich nun sind die Quadratur des Kreises, der Parabel,
der Ellipse Aufgaben der Infinitesimalrechnung, die sich zum Teil aus solchen
Aufgaben entwickelt hat. Vielleicht ließe sich hier auch die Summirung
einiger unendlichen Reihen anknüpfen, damit dem Schüler das Verfahren der
Rechnung mit unendlich kleinen Größen deutlich würde. Das Hütte den Vor¬
zug, die kindliche Meinung zu zerstören, als wäre die Infinitesimalrechnung
eine Erfindung der Herren Newton und Leibniz, von diesen verschmitzten
Köpfen wunderbarerweise ganz unabhängig von einander gemacht. Es ist aber
gar nicht nötig, hier nun die Logarithmen und trigonometrischen Funktionen


Auch ein Lehrplan

gemeine Bildung vollends nichts. Die rechnende Mathematik, die Arithmetik,
beginnt ebenfalls mit der Anschauung, mit der Betrachtung gleicher Formen
an der Rechenmaschine, an der die „vier Spezies" — übrigens eine schauder¬
hafte Bezeichnung — entwickelt werden. Nun läßt sich wohl nicht die ganze
Arithmetik anschaulich darstellen. Man wird aber der Fassungskraft des
Schülers immer noch gerecht, wenn man nur solche Zweige der Arithmetik
verfolgt, die sich von der Anschauung nicht weit entfernen, oder die zur An¬
schauung wieder zurückkehren. Man würde aus diesen Grenzen nicht leicht
heraustreten, wenn man Arithmetik und Geometrie vereinigen könnte, sodaß
die arithmetische Entwicklung nur da weitergeführt würde, wo sich ein Be¬
dürfnis dazu geltend macht. Da jedoch die alte Praxis noch zu tief wurzelt, der
die Mathematik Selbstzweck ist, so wird man einstweilen die Arithmetik selb¬
ständig neben der Geometrie herfuhren müssen, etwa bis zur quadratischen
Gleichung. Dann aber kann man sie endgiltig mit der Geometrie vereinigen
zur messenden Mathematik. Vollständig wird diese Vereinigung in der ana¬
lytischen Geometrie, die darnach strebt, jedes Gebilde im Raum durch eine
Zahlgröße darzustellen. Um dem Schüler diese Vereinigung der beiden Zweige,
die aus einer Wurzel entspringen, klar zu machen, bedarf es nur eines geringen
Teils der analytischen Geometrie der Ebne, nämlich der Lehre von den Kegel¬
schnitten, bezogen auf ein rechtwinkliges Koordinatensystem. Faßt man dies als
Ziel des mathematischen Schulunterrichts ins Auge, so kann man von hier aus
rückwärts leicht bestimmen, was man ans dem unendlichen Gebiet der Mathematik
für die Schule auszuwählen hat. Die Kegelschnitte sind ebne Kurven, ihre Glei¬
chung ist vom zweiten Grade; ihre Theorie setzt also voraus die einfachsten Sätze
der Planimetrie und die der Arithmetik bis zur Gleichung zweiten Grades. Dieser
Lehrstoff wäre in durchschnittlich zwei Stunden für die Woche sicher bequem zu
bewältigen. Ja man konnte ihn wohl noch nach zwei Richtungen erweitern.
Man könnte den Anfang der Stereometrie hinzuziehen, aber gleich in Gestalt
der mathematischen Geographie. Und man könnte einen Blick thun in die
höhere Mathematik. Die analytische Geometrie ist ja eigentlich schon höhere
Mathematik, denn da sie jede Naumgröße durch eine Zahlgrvße darstellen will,
so muß sie der Einheit der Zahlgröße die Form einer unendlich kleinen Raum¬
größe geben. Thatsächlich nun sind die Quadratur des Kreises, der Parabel,
der Ellipse Aufgaben der Infinitesimalrechnung, die sich zum Teil aus solchen
Aufgaben entwickelt hat. Vielleicht ließe sich hier auch die Summirung
einiger unendlichen Reihen anknüpfen, damit dem Schüler das Verfahren der
Rechnung mit unendlich kleinen Größen deutlich würde. Das Hütte den Vor¬
zug, die kindliche Meinung zu zerstören, als wäre die Infinitesimalrechnung
eine Erfindung der Herren Newton und Leibniz, von diesen verschmitzten
Köpfen wunderbarerweise ganz unabhängig von einander gemacht. Es ist aber
gar nicht nötig, hier nun die Logarithmen und trigonometrischen Funktionen


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[0122] Auch ein Lehrplan gemeine Bildung vollends nichts. Die rechnende Mathematik, die Arithmetik, beginnt ebenfalls mit der Anschauung, mit der Betrachtung gleicher Formen an der Rechenmaschine, an der die „vier Spezies" — übrigens eine schauder¬ hafte Bezeichnung — entwickelt werden. Nun läßt sich wohl nicht die ganze Arithmetik anschaulich darstellen. Man wird aber der Fassungskraft des Schülers immer noch gerecht, wenn man nur solche Zweige der Arithmetik verfolgt, die sich von der Anschauung nicht weit entfernen, oder die zur An¬ schauung wieder zurückkehren. Man würde aus diesen Grenzen nicht leicht heraustreten, wenn man Arithmetik und Geometrie vereinigen könnte, sodaß die arithmetische Entwicklung nur da weitergeführt würde, wo sich ein Be¬ dürfnis dazu geltend macht. Da jedoch die alte Praxis noch zu tief wurzelt, der die Mathematik Selbstzweck ist, so wird man einstweilen die Arithmetik selb¬ ständig neben der Geometrie herfuhren müssen, etwa bis zur quadratischen Gleichung. Dann aber kann man sie endgiltig mit der Geometrie vereinigen zur messenden Mathematik. Vollständig wird diese Vereinigung in der ana¬ lytischen Geometrie, die darnach strebt, jedes Gebilde im Raum durch eine Zahlgröße darzustellen. Um dem Schüler diese Vereinigung der beiden Zweige, die aus einer Wurzel entspringen, klar zu machen, bedarf es nur eines geringen Teils der analytischen Geometrie der Ebne, nämlich der Lehre von den Kegel¬ schnitten, bezogen auf ein rechtwinkliges Koordinatensystem. Faßt man dies als Ziel des mathematischen Schulunterrichts ins Auge, so kann man von hier aus rückwärts leicht bestimmen, was man ans dem unendlichen Gebiet der Mathematik für die Schule auszuwählen hat. Die Kegelschnitte sind ebne Kurven, ihre Glei¬ chung ist vom zweiten Grade; ihre Theorie setzt also voraus die einfachsten Sätze der Planimetrie und die der Arithmetik bis zur Gleichung zweiten Grades. Dieser Lehrstoff wäre in durchschnittlich zwei Stunden für die Woche sicher bequem zu bewältigen. Ja man konnte ihn wohl noch nach zwei Richtungen erweitern. Man könnte den Anfang der Stereometrie hinzuziehen, aber gleich in Gestalt der mathematischen Geographie. Und man könnte einen Blick thun in die höhere Mathematik. Die analytische Geometrie ist ja eigentlich schon höhere Mathematik, denn da sie jede Naumgröße durch eine Zahlgrvße darstellen will, so muß sie der Einheit der Zahlgröße die Form einer unendlich kleinen Raum¬ größe geben. Thatsächlich nun sind die Quadratur des Kreises, der Parabel, der Ellipse Aufgaben der Infinitesimalrechnung, die sich zum Teil aus solchen Aufgaben entwickelt hat. Vielleicht ließe sich hier auch die Summirung einiger unendlichen Reihen anknüpfen, damit dem Schüler das Verfahren der Rechnung mit unendlich kleinen Größen deutlich würde. Das Hütte den Vor¬ zug, die kindliche Meinung zu zerstören, als wäre die Infinitesimalrechnung eine Erfindung der Herren Newton und Leibniz, von diesen verschmitzten Köpfen wunderbarerweise ganz unabhängig von einander gemacht. Es ist aber gar nicht nötig, hier nun die Logarithmen und trigonometrischen Funktionen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/122>, abgerufen am 27.11.2024.