Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Auch ein Lehrplan

lustig mit Dingen, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen. Aber
nicht immer gehts so lustig zu im mathematischen Unterricht. Sitzt da vor
den Schülern der alte Pythagoras, schlägt würdig ein Bein übers andre, legt
den Finger an die Nase und dvzirt: "Hypothesis: Das Dreieck da hat einen
rechten Winkel. Thesis: Das Quadrat über der Hypotenuse ist gleich der
Summe der Quadrate über den beiden Katheten." Und nun zieht er ein paar
"Hilfslinien" und beweist seine Behauptung so schlagend, daß sich auch der
hartnäckigste Zweifler gefangen geben muß, und die Schüler haben die Teile
hübsch in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band. Es giebt Schulen,
die sich bemühen, die Euklidische Methode des Beweises durch eine anschau¬
liche zu ersetzen. Aber so lange es Schulen giebt, an denen die nichtsnutzigen
Kamblhschen Lehrbücher eingeführt sind, so lange werden diese "Mausefallen-
beweise," wie sie Schopenhauer in gerechtem Zorn genannt hat, Wohl noch
vorgetragen werden. Jede Mathematik, die überhaupt etwas beweisen will,
hat nicht den geringsten allgemeinen Vildnngswert. Denn eine Wissenschaft,
die etwas beweist, was dem Verstände nicht von selbst einleuchtet, stärkt nur
die Geisteskraft, durch die talentvolle Leute an der Börse ihr Profitcheu
machen. Diesen Leuten für ihren besondern Beruf etwas mit auf den Weg
zu geben, füllt aber nicht unter die Aufgaben der Schule. Den Verstand
gleichmäßig auszubilden, das vermag nur eine Mathematik, die entwickelt
statt zu beweisen, und zwar so entwickelt, daß das, was nach Euklidischer
Methode bewiesen wird, sich dem Verstand als unumgängliche Erkenntnis von
selbst aufdrängt. Solch ein Unterricht wird wohl noch so lauge ein schönes
Ideal bleiben, bis auf jeder Hochschule Geschichte der Mathematik gelehrt
wird. Aber wenn man ein Ideal auch nicht erreichen kann -- sonst wäre es
ja kein Ideal! --, so kann man ihm doch näher kommen, und um den Weg
vorläufig zu ebnen, müßte man den Unterrichtsstoff nach zwei Grundsätzen
auswählen: er muß erstens der Art sein, daß ihn auch der Durchschnittsschülcr
mühelos bewältigen kann, und er darf zweitens nicht in die Breite gehen,
sondern muß stetig fortschreiten. Der ersten Forderung genügt nun im all¬
gemeinen alles, was anschaulich dargestellt werden kaun, also die ganze Geo¬
metrie. Aber der Unterricht, wie er jetzt betrieben wird, geht viel zu sehr
ins Breite. Die allgemeinen Sätze von der Proportionalität der Linien
-- um nur einiges herauszugreifen -- sind nicht zu entbehren. Ihre be¬
sondre Ausbildung aber zu der Lehre von der harmonischen Teilung ist für
den Mathematiker von Beruf oder Neigung zwar sehr interessant, für den
Durchschnittsschüler aber unbequemer Ballast. Im Laufe des Unterrichts sind
natürlich auch einfache Aufgaben zu lösen, z.B. aus drei gegebnen Stücken
ein Dreieck zu konstruiren. Aber mit gewissen Kvnstruktionsaufgnben, die am
schönsten durch einen "Kniff" zu lösen sind, wird von manchem Lehrer ge¬
radezu ein Sport getrieben; diese ganze Kunststückmacherei leistet für die all-


Grenzbvten III 1393 15
Auch ein Lehrplan

lustig mit Dingen, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen. Aber
nicht immer gehts so lustig zu im mathematischen Unterricht. Sitzt da vor
den Schülern der alte Pythagoras, schlägt würdig ein Bein übers andre, legt
den Finger an die Nase und dvzirt: „Hypothesis: Das Dreieck da hat einen
rechten Winkel. Thesis: Das Quadrat über der Hypotenuse ist gleich der
Summe der Quadrate über den beiden Katheten." Und nun zieht er ein paar
„Hilfslinien" und beweist seine Behauptung so schlagend, daß sich auch der
hartnäckigste Zweifler gefangen geben muß, und die Schüler haben die Teile
hübsch in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band. Es giebt Schulen,
die sich bemühen, die Euklidische Methode des Beweises durch eine anschau¬
liche zu ersetzen. Aber so lange es Schulen giebt, an denen die nichtsnutzigen
Kamblhschen Lehrbücher eingeführt sind, so lange werden diese „Mausefallen-
beweise," wie sie Schopenhauer in gerechtem Zorn genannt hat, Wohl noch
vorgetragen werden. Jede Mathematik, die überhaupt etwas beweisen will,
hat nicht den geringsten allgemeinen Vildnngswert. Denn eine Wissenschaft,
die etwas beweist, was dem Verstände nicht von selbst einleuchtet, stärkt nur
die Geisteskraft, durch die talentvolle Leute an der Börse ihr Profitcheu
machen. Diesen Leuten für ihren besondern Beruf etwas mit auf den Weg
zu geben, füllt aber nicht unter die Aufgaben der Schule. Den Verstand
gleichmäßig auszubilden, das vermag nur eine Mathematik, die entwickelt
statt zu beweisen, und zwar so entwickelt, daß das, was nach Euklidischer
Methode bewiesen wird, sich dem Verstand als unumgängliche Erkenntnis von
selbst aufdrängt. Solch ein Unterricht wird wohl noch so lauge ein schönes
Ideal bleiben, bis auf jeder Hochschule Geschichte der Mathematik gelehrt
wird. Aber wenn man ein Ideal auch nicht erreichen kann — sonst wäre es
ja kein Ideal! —, so kann man ihm doch näher kommen, und um den Weg
vorläufig zu ebnen, müßte man den Unterrichtsstoff nach zwei Grundsätzen
auswählen: er muß erstens der Art sein, daß ihn auch der Durchschnittsschülcr
mühelos bewältigen kann, und er darf zweitens nicht in die Breite gehen,
sondern muß stetig fortschreiten. Der ersten Forderung genügt nun im all¬
gemeinen alles, was anschaulich dargestellt werden kaun, also die ganze Geo¬
metrie. Aber der Unterricht, wie er jetzt betrieben wird, geht viel zu sehr
ins Breite. Die allgemeinen Sätze von der Proportionalität der Linien
— um nur einiges herauszugreifen — sind nicht zu entbehren. Ihre be¬
sondre Ausbildung aber zu der Lehre von der harmonischen Teilung ist für
den Mathematiker von Beruf oder Neigung zwar sehr interessant, für den
Durchschnittsschüler aber unbequemer Ballast. Im Laufe des Unterrichts sind
natürlich auch einfache Aufgaben zu lösen, z.B. aus drei gegebnen Stücken
ein Dreieck zu konstruiren. Aber mit gewissen Kvnstruktionsaufgnben, die am
schönsten durch einen „Kniff" zu lösen sind, wird von manchem Lehrer ge¬
radezu ein Sport getrieben; diese ganze Kunststückmacherei leistet für die all-


Grenzbvten III 1393 15
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0121" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215211"/>
          <fw type="header" place="top"> Auch ein Lehrplan</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_415" prev="#ID_414" next="#ID_416"> lustig mit Dingen, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen. Aber<lb/>
nicht immer gehts so lustig zu im mathematischen Unterricht. Sitzt da vor<lb/>
den Schülern der alte Pythagoras, schlägt würdig ein Bein übers andre, legt<lb/>
den Finger an die Nase und dvzirt: &#x201E;Hypothesis: Das Dreieck da hat einen<lb/>
rechten Winkel. Thesis: Das Quadrat über der Hypotenuse ist gleich der<lb/>
Summe der Quadrate über den beiden Katheten." Und nun zieht er ein paar<lb/>
&#x201E;Hilfslinien" und beweist seine Behauptung so schlagend, daß sich auch der<lb/>
hartnäckigste Zweifler gefangen geben muß, und die Schüler haben die Teile<lb/>
hübsch in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band. Es giebt Schulen,<lb/>
die sich bemühen, die Euklidische Methode des Beweises durch eine anschau¬<lb/>
liche zu ersetzen. Aber so lange es Schulen giebt, an denen die nichtsnutzigen<lb/>
Kamblhschen Lehrbücher eingeführt sind, so lange werden diese &#x201E;Mausefallen-<lb/>
beweise," wie sie Schopenhauer in gerechtem Zorn genannt hat, Wohl noch<lb/>
vorgetragen werden. Jede Mathematik, die überhaupt etwas beweisen will,<lb/>
hat nicht den geringsten allgemeinen Vildnngswert. Denn eine Wissenschaft,<lb/>
die etwas beweist, was dem Verstände nicht von selbst einleuchtet, stärkt nur<lb/>
die Geisteskraft, durch die talentvolle Leute an der Börse ihr Profitcheu<lb/>
machen. Diesen Leuten für ihren besondern Beruf etwas mit auf den Weg<lb/>
zu geben, füllt aber nicht unter die Aufgaben der Schule. Den Verstand<lb/>
gleichmäßig auszubilden, das vermag nur eine Mathematik, die entwickelt<lb/>
statt zu beweisen, und zwar so entwickelt, daß das, was nach Euklidischer<lb/>
Methode bewiesen wird, sich dem Verstand als unumgängliche Erkenntnis von<lb/>
selbst aufdrängt. Solch ein Unterricht wird wohl noch so lauge ein schönes<lb/>
Ideal bleiben, bis auf jeder Hochschule Geschichte der Mathematik gelehrt<lb/>
wird. Aber wenn man ein Ideal auch nicht erreichen kann &#x2014; sonst wäre es<lb/>
ja kein Ideal! &#x2014;, so kann man ihm doch näher kommen, und um den Weg<lb/>
vorläufig zu ebnen, müßte man den Unterrichtsstoff nach zwei Grundsätzen<lb/>
auswählen: er muß erstens der Art sein, daß ihn auch der Durchschnittsschülcr<lb/>
mühelos bewältigen kann, und er darf zweitens nicht in die Breite gehen,<lb/>
sondern muß stetig fortschreiten. Der ersten Forderung genügt nun im all¬<lb/>
gemeinen alles, was anschaulich dargestellt werden kaun, also die ganze Geo¬<lb/>
metrie. Aber der Unterricht, wie er jetzt betrieben wird, geht viel zu sehr<lb/>
ins Breite. Die allgemeinen Sätze von der Proportionalität der Linien<lb/>
&#x2014; um nur einiges herauszugreifen &#x2014; sind nicht zu entbehren. Ihre be¬<lb/>
sondre Ausbildung aber zu der Lehre von der harmonischen Teilung ist für<lb/>
den Mathematiker von Beruf oder Neigung zwar sehr interessant, für den<lb/>
Durchschnittsschüler aber unbequemer Ballast. Im Laufe des Unterrichts sind<lb/>
natürlich auch einfache Aufgaben zu lösen, z.B. aus drei gegebnen Stücken<lb/>
ein Dreieck zu konstruiren. Aber mit gewissen Kvnstruktionsaufgnben, die am<lb/>
schönsten durch einen &#x201E;Kniff" zu lösen sind, wird von manchem Lehrer ge¬<lb/>
radezu ein Sport getrieben; diese ganze Kunststückmacherei leistet für die all-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbvten III 1393 15</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0121] Auch ein Lehrplan lustig mit Dingen, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen. Aber nicht immer gehts so lustig zu im mathematischen Unterricht. Sitzt da vor den Schülern der alte Pythagoras, schlägt würdig ein Bein übers andre, legt den Finger an die Nase und dvzirt: „Hypothesis: Das Dreieck da hat einen rechten Winkel. Thesis: Das Quadrat über der Hypotenuse ist gleich der Summe der Quadrate über den beiden Katheten." Und nun zieht er ein paar „Hilfslinien" und beweist seine Behauptung so schlagend, daß sich auch der hartnäckigste Zweifler gefangen geben muß, und die Schüler haben die Teile hübsch in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band. Es giebt Schulen, die sich bemühen, die Euklidische Methode des Beweises durch eine anschau¬ liche zu ersetzen. Aber so lange es Schulen giebt, an denen die nichtsnutzigen Kamblhschen Lehrbücher eingeführt sind, so lange werden diese „Mausefallen- beweise," wie sie Schopenhauer in gerechtem Zorn genannt hat, Wohl noch vorgetragen werden. Jede Mathematik, die überhaupt etwas beweisen will, hat nicht den geringsten allgemeinen Vildnngswert. Denn eine Wissenschaft, die etwas beweist, was dem Verstände nicht von selbst einleuchtet, stärkt nur die Geisteskraft, durch die talentvolle Leute an der Börse ihr Profitcheu machen. Diesen Leuten für ihren besondern Beruf etwas mit auf den Weg zu geben, füllt aber nicht unter die Aufgaben der Schule. Den Verstand gleichmäßig auszubilden, das vermag nur eine Mathematik, die entwickelt statt zu beweisen, und zwar so entwickelt, daß das, was nach Euklidischer Methode bewiesen wird, sich dem Verstand als unumgängliche Erkenntnis von selbst aufdrängt. Solch ein Unterricht wird wohl noch so lauge ein schönes Ideal bleiben, bis auf jeder Hochschule Geschichte der Mathematik gelehrt wird. Aber wenn man ein Ideal auch nicht erreichen kann — sonst wäre es ja kein Ideal! —, so kann man ihm doch näher kommen, und um den Weg vorläufig zu ebnen, müßte man den Unterrichtsstoff nach zwei Grundsätzen auswählen: er muß erstens der Art sein, daß ihn auch der Durchschnittsschülcr mühelos bewältigen kann, und er darf zweitens nicht in die Breite gehen, sondern muß stetig fortschreiten. Der ersten Forderung genügt nun im all¬ gemeinen alles, was anschaulich dargestellt werden kaun, also die ganze Geo¬ metrie. Aber der Unterricht, wie er jetzt betrieben wird, geht viel zu sehr ins Breite. Die allgemeinen Sätze von der Proportionalität der Linien — um nur einiges herauszugreifen — sind nicht zu entbehren. Ihre be¬ sondre Ausbildung aber zu der Lehre von der harmonischen Teilung ist für den Mathematiker von Beruf oder Neigung zwar sehr interessant, für den Durchschnittsschüler aber unbequemer Ballast. Im Laufe des Unterrichts sind natürlich auch einfache Aufgaben zu lösen, z.B. aus drei gegebnen Stücken ein Dreieck zu konstruiren. Aber mit gewissen Kvnstruktionsaufgnben, die am schönsten durch einen „Kniff" zu lösen sind, wird von manchem Lehrer ge¬ radezu ein Sport getrieben; diese ganze Kunststückmacherei leistet für die all- Grenzbvten III 1393 15

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/121
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/121>, abgerufen am 28.07.2024.