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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Auch ein Lehrplan

Meter Grundfläche und siebenundzwanzig Metern Höhe. Eine gegebne Raum¬
größe ihrerseits kann durch eine Zahl dargestellt werden, sofern sie sich in
Raumgrößen von gleicher Form zerlegen läßt. Rechnende und anschauende
Mathematik haben also ein gemeinsames Gebiet, ans dem sie durch Zahlgröße
und Naumgröße gewisse Formen bestimmen, mit denen andre Formen ver¬
glichen werden können; es ist das Gebiet der messenden Mathematik. Nun
kann ich jede endliche Raumgröße in Teile von gleicher Form zerlegen, wenn
ich die Teile unendlich klein nehme. Wenn ich also der Einheit der Zahlgröße
die Form einer unendlich kleinen Raumgröße geben kaun, so kann ich jede
Ranmgröße durch eine Zahlgrößc darstellen. Dies in möglichst allgemeinem
Umfang zu thun, ist die Aufgabe der höhern Mathematik oder Infinitesimal¬
rechnung.

Der Bildungswcrt der ganzen Mathematik nun liegt darin, daß sie ihre
theoretische Betrachtung gründet auf die Betrachtung einer einzigen Eigenschaft
des Körpers, nämlich seiner Form. Das vermag keine andre Theorie. Schon
die ihr nahestehende Mechanik geht von zwei Eigenschaften aus: von der
Eigenschaft des Körpers, auf seine Unterlage einen Druck auszuüben, und von
der fernern, sich in einer bestimmten Richtung zu bewegen, wenn ihm die
Unterlage entzogen wird. Daraus bildet die Mechanik die Begriffe der Masse
und der bewegenden Kraft. Diese Begriffe lassen sich durch keine theoretische
Betrachtung verknüpfen, sondern wie die beiden Eigenschaften, denen sie ent¬
stammen, nur durch eine sinnliche, durch die experimentelle Bestimmung der
Anziehungskraft der Erde. Je mehr Eigenschaften ich nun in die Theorie
hineinziehe, um so weniger ist es möglich, die theoretische Betrachtung un¬
unterbrochen weiterzuführen, wie denn ebensowohl die Molekulartheorie ihre
Lücken hat als die Descendenztheoric. Die Mathematik dagegen führt ihre
Betrachtung stetig fort und zwingt dadurch den menschlichen Verstand zu folge¬
richtigem Denken. Wer aber ein begrenztes Gebiet in strenger Folgerichtigkeit
durchdacht hat, dem ist lässiges und sprunghaftes Denken fortan unmöglich.
Die Mathematik ist also in hohem Grade fähig, das zu geben, was unsre
Altertumsfcumtiker formale Bildung nennen.

Freilich nicht die Mathematik, die auf unsern höhern Schulen getrieben
wird. Sprünge, das ist dieser Mathematik gar nichts, die leicht und elegant
dahinhüpft wie ein Kautschukmann. Kaum hat sie die Rechnung mit Potenzen
dnrch, so schlägt sie fröhlich einen Purzelbaum, kehrt dabei diese ganze Rech¬
nungsart um und steht nun mit beiden Beinen und einer lächelnden Ver¬
beugung in der Rechnung mit Logarithmen. Nun geht es eine Strecke mensch¬
lich horizontal weiter. Da, ein unerwartetes Hindernis: ist man imstande,
zu einer gegebnen Zahl den Logarithmus zu berechnen? Das ist die Lebens¬
frage dieser Rechnungsart! Pah, was kümmert uns eine Lebensfrage.
Ein Anlauf, ein kühner Sprung, und schon sind wir drüber weg und rechnen


Auch ein Lehrplan

Meter Grundfläche und siebenundzwanzig Metern Höhe. Eine gegebne Raum¬
größe ihrerseits kann durch eine Zahl dargestellt werden, sofern sie sich in
Raumgrößen von gleicher Form zerlegen läßt. Rechnende und anschauende
Mathematik haben also ein gemeinsames Gebiet, ans dem sie durch Zahlgröße
und Naumgröße gewisse Formen bestimmen, mit denen andre Formen ver¬
glichen werden können; es ist das Gebiet der messenden Mathematik. Nun
kann ich jede endliche Raumgröße in Teile von gleicher Form zerlegen, wenn
ich die Teile unendlich klein nehme. Wenn ich also der Einheit der Zahlgröße
die Form einer unendlich kleinen Raumgröße geben kaun, so kann ich jede
Ranmgröße durch eine Zahlgrößc darstellen. Dies in möglichst allgemeinem
Umfang zu thun, ist die Aufgabe der höhern Mathematik oder Infinitesimal¬
rechnung.

Der Bildungswcrt der ganzen Mathematik nun liegt darin, daß sie ihre
theoretische Betrachtung gründet auf die Betrachtung einer einzigen Eigenschaft
des Körpers, nämlich seiner Form. Das vermag keine andre Theorie. Schon
die ihr nahestehende Mechanik geht von zwei Eigenschaften aus: von der
Eigenschaft des Körpers, auf seine Unterlage einen Druck auszuüben, und von
der fernern, sich in einer bestimmten Richtung zu bewegen, wenn ihm die
Unterlage entzogen wird. Daraus bildet die Mechanik die Begriffe der Masse
und der bewegenden Kraft. Diese Begriffe lassen sich durch keine theoretische
Betrachtung verknüpfen, sondern wie die beiden Eigenschaften, denen sie ent¬
stammen, nur durch eine sinnliche, durch die experimentelle Bestimmung der
Anziehungskraft der Erde. Je mehr Eigenschaften ich nun in die Theorie
hineinziehe, um so weniger ist es möglich, die theoretische Betrachtung un¬
unterbrochen weiterzuführen, wie denn ebensowohl die Molekulartheorie ihre
Lücken hat als die Descendenztheoric. Die Mathematik dagegen führt ihre
Betrachtung stetig fort und zwingt dadurch den menschlichen Verstand zu folge¬
richtigem Denken. Wer aber ein begrenztes Gebiet in strenger Folgerichtigkeit
durchdacht hat, dem ist lässiges und sprunghaftes Denken fortan unmöglich.
Die Mathematik ist also in hohem Grade fähig, das zu geben, was unsre
Altertumsfcumtiker formale Bildung nennen.

Freilich nicht die Mathematik, die auf unsern höhern Schulen getrieben
wird. Sprünge, das ist dieser Mathematik gar nichts, die leicht und elegant
dahinhüpft wie ein Kautschukmann. Kaum hat sie die Rechnung mit Potenzen
dnrch, so schlägt sie fröhlich einen Purzelbaum, kehrt dabei diese ganze Rech¬
nungsart um und steht nun mit beiden Beinen und einer lächelnden Ver¬
beugung in der Rechnung mit Logarithmen. Nun geht es eine Strecke mensch¬
lich horizontal weiter. Da, ein unerwartetes Hindernis: ist man imstande,
zu einer gegebnen Zahl den Logarithmus zu berechnen? Das ist die Lebens¬
frage dieser Rechnungsart! Pah, was kümmert uns eine Lebensfrage.
Ein Anlauf, ein kühner Sprung, und schon sind wir drüber weg und rechnen


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[0120] Auch ein Lehrplan Meter Grundfläche und siebenundzwanzig Metern Höhe. Eine gegebne Raum¬ größe ihrerseits kann durch eine Zahl dargestellt werden, sofern sie sich in Raumgrößen von gleicher Form zerlegen läßt. Rechnende und anschauende Mathematik haben also ein gemeinsames Gebiet, ans dem sie durch Zahlgröße und Naumgröße gewisse Formen bestimmen, mit denen andre Formen ver¬ glichen werden können; es ist das Gebiet der messenden Mathematik. Nun kann ich jede endliche Raumgröße in Teile von gleicher Form zerlegen, wenn ich die Teile unendlich klein nehme. Wenn ich also der Einheit der Zahlgröße die Form einer unendlich kleinen Raumgröße geben kaun, so kann ich jede Ranmgröße durch eine Zahlgrößc darstellen. Dies in möglichst allgemeinem Umfang zu thun, ist die Aufgabe der höhern Mathematik oder Infinitesimal¬ rechnung. Der Bildungswcrt der ganzen Mathematik nun liegt darin, daß sie ihre theoretische Betrachtung gründet auf die Betrachtung einer einzigen Eigenschaft des Körpers, nämlich seiner Form. Das vermag keine andre Theorie. Schon die ihr nahestehende Mechanik geht von zwei Eigenschaften aus: von der Eigenschaft des Körpers, auf seine Unterlage einen Druck auszuüben, und von der fernern, sich in einer bestimmten Richtung zu bewegen, wenn ihm die Unterlage entzogen wird. Daraus bildet die Mechanik die Begriffe der Masse und der bewegenden Kraft. Diese Begriffe lassen sich durch keine theoretische Betrachtung verknüpfen, sondern wie die beiden Eigenschaften, denen sie ent¬ stammen, nur durch eine sinnliche, durch die experimentelle Bestimmung der Anziehungskraft der Erde. Je mehr Eigenschaften ich nun in die Theorie hineinziehe, um so weniger ist es möglich, die theoretische Betrachtung un¬ unterbrochen weiterzuführen, wie denn ebensowohl die Molekulartheorie ihre Lücken hat als die Descendenztheoric. Die Mathematik dagegen führt ihre Betrachtung stetig fort und zwingt dadurch den menschlichen Verstand zu folge¬ richtigem Denken. Wer aber ein begrenztes Gebiet in strenger Folgerichtigkeit durchdacht hat, dem ist lässiges und sprunghaftes Denken fortan unmöglich. Die Mathematik ist also in hohem Grade fähig, das zu geben, was unsre Altertumsfcumtiker formale Bildung nennen. Freilich nicht die Mathematik, die auf unsern höhern Schulen getrieben wird. Sprünge, das ist dieser Mathematik gar nichts, die leicht und elegant dahinhüpft wie ein Kautschukmann. Kaum hat sie die Rechnung mit Potenzen dnrch, so schlägt sie fröhlich einen Purzelbaum, kehrt dabei diese ganze Rech¬ nungsart um und steht nun mit beiden Beinen und einer lächelnden Ver¬ beugung in der Rechnung mit Logarithmen. Nun geht es eine Strecke mensch¬ lich horizontal weiter. Da, ein unerwartetes Hindernis: ist man imstande, zu einer gegebnen Zahl den Logarithmus zu berechnen? Das ist die Lebens¬ frage dieser Rechnungsart! Pah, was kümmert uns eine Lebensfrage. Ein Anlauf, ein kühner Sprung, und schon sind wir drüber weg und rechnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/120>, abgerufen am 27.11.2024.