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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Zur Lage

vor, daß alle unsre Nachbarn noch weit mehr fürs Militär ausgeben als wir.
Darauf antwortet der anonyme Verfasser des Buches: "Volksdienst; von einem
Sozialaristokraten" (und spricht damit gewiß den innersten Gedanken von
Millionen aus): Daraus folgt doch nur, daß die andern Völker noch dümmer
sind als wir! Man rechnet uns vor, wie reich das deutsche Volk sei, und
wie leicht es noch weit mehr aufbringen konnte, als gefordert wird. Ja doch,
ja! Unser Nationaleinkommen ist stattlich genug. Miquel hat allein bei den
obern Dreihunderttausenden Preußens 1500 Millionen Einkommen mehr ent¬
deckt, als diese Herren das Jahr zuvor selbst gefunden hatten. Niemand wird
behaupten wollen, daß sie mit dem, was sie vor der neuen Einschätzung selbst
angegeben hatten, uicht standesgemäß leben könnten. Sie brauchen von diesen
1500 Millionen nur deu dritten Teil als Finderlvhn auf dein Altare des
Vaterlandes zu opfern -- natürlich alljährlich --, lind nicht allein die Kosten
der Militärvorlage sind gedeckt, sondern Staat und Reich sind aus allen
Finanznöten. Und dann werden sie auch einigermaßen berechtigt sein, in ihren
Blättern dem Mittelstande -- das Proletariat muß aus dem Spiele bleiben;
ihm Opfer fürs Vaterland zuzumuten, wäre aus mehr als einem Grunde un¬
anständig --, dem Mittelstände also Opferwilligkeit predigen zu lassen. Wenn
sie vor dieser That, die bei der jetzt in ihren Kreisen flutenden hohen patrio¬
tischen Begeisterung keine vier Wochen mehr auf sich warten lassen kann, schon
jetzt predigen lassen und auf ihre Predigt ein andres Amen erwarten, als ein
höllisches Hohngelächter, dann sind sie dumm.

Stunde der Feind wirklich an der Grenze oder gar schon im Lande,
dann wäre zum Rechnen keine Zeit, und jeder, auch der Proletarier, würde
opfern, ohne zu fragen, was der reiche Nachbar opfert oder dem Vaterlande
schäbig entzieht. Daß dem Volk Opfer zugemutet werden für Zwecke, die es
nicht kennt, von denen es argwöhnt, sie möchten mit seinem Wohle sehr wenig
zu schaffen haben, daß auf jede "unwiderruflich letzte" Militärvorlage eine
neue folgt, das bringt das Volk zur Verzweiflung. Es fühlt sich wehrlos
in einen Schraubstock gespannt, dessen Schraube ohne Ende seine wirtschaftliche
wie seine Charakter- und Geisteskraft zu zermalmen droht. Auf die "mili¬
tärische Spannung," nicht auf "Intentionen der Regierungen" hat Graf Kal-
uoky das europäische Wettrüsten zurückgeführt. Das heißt deutlich gesprochen:
nachdem die europäischen Staaten fast sämtlich Militärstaaten und die Offizier¬
korps der herrschende Stand geworden sind, giebt es nichts, was den jedem
Stande natürlichen Expansionstrieb beim Militär noch eiuschrünken und
hemmen könnte. Und jeder Ruck, mit dem sich das Heer des einen Staates
ausdehnt, liefert den Heeren aller andern Staaten den willkommnen Vorwand
für eine entsprechende Vergrößerung.

Nun soll uicht geleugnet werden, daß diese militärische Spannung durch
die Lage Europas gerechtfertigt wird. Nur muß man endlich einmal auf-


Zur Lage

vor, daß alle unsre Nachbarn noch weit mehr fürs Militär ausgeben als wir.
Darauf antwortet der anonyme Verfasser des Buches: „Volksdienst; von einem
Sozialaristokraten" (und spricht damit gewiß den innersten Gedanken von
Millionen aus): Daraus folgt doch nur, daß die andern Völker noch dümmer
sind als wir! Man rechnet uns vor, wie reich das deutsche Volk sei, und
wie leicht es noch weit mehr aufbringen konnte, als gefordert wird. Ja doch,
ja! Unser Nationaleinkommen ist stattlich genug. Miquel hat allein bei den
obern Dreihunderttausenden Preußens 1500 Millionen Einkommen mehr ent¬
deckt, als diese Herren das Jahr zuvor selbst gefunden hatten. Niemand wird
behaupten wollen, daß sie mit dem, was sie vor der neuen Einschätzung selbst
angegeben hatten, uicht standesgemäß leben könnten. Sie brauchen von diesen
1500 Millionen nur deu dritten Teil als Finderlvhn auf dein Altare des
Vaterlandes zu opfern — natürlich alljährlich —, lind nicht allein die Kosten
der Militärvorlage sind gedeckt, sondern Staat und Reich sind aus allen
Finanznöten. Und dann werden sie auch einigermaßen berechtigt sein, in ihren
Blättern dem Mittelstande — das Proletariat muß aus dem Spiele bleiben;
ihm Opfer fürs Vaterland zuzumuten, wäre aus mehr als einem Grunde un¬
anständig —, dem Mittelstände also Opferwilligkeit predigen zu lassen. Wenn
sie vor dieser That, die bei der jetzt in ihren Kreisen flutenden hohen patrio¬
tischen Begeisterung keine vier Wochen mehr auf sich warten lassen kann, schon
jetzt predigen lassen und auf ihre Predigt ein andres Amen erwarten, als ein
höllisches Hohngelächter, dann sind sie dumm.

Stunde der Feind wirklich an der Grenze oder gar schon im Lande,
dann wäre zum Rechnen keine Zeit, und jeder, auch der Proletarier, würde
opfern, ohne zu fragen, was der reiche Nachbar opfert oder dem Vaterlande
schäbig entzieht. Daß dem Volk Opfer zugemutet werden für Zwecke, die es
nicht kennt, von denen es argwöhnt, sie möchten mit seinem Wohle sehr wenig
zu schaffen haben, daß auf jede „unwiderruflich letzte" Militärvorlage eine
neue folgt, das bringt das Volk zur Verzweiflung. Es fühlt sich wehrlos
in einen Schraubstock gespannt, dessen Schraube ohne Ende seine wirtschaftliche
wie seine Charakter- und Geisteskraft zu zermalmen droht. Auf die „mili¬
tärische Spannung," nicht auf „Intentionen der Regierungen" hat Graf Kal-
uoky das europäische Wettrüsten zurückgeführt. Das heißt deutlich gesprochen:
nachdem die europäischen Staaten fast sämtlich Militärstaaten und die Offizier¬
korps der herrschende Stand geworden sind, giebt es nichts, was den jedem
Stande natürlichen Expansionstrieb beim Militär noch eiuschrünken und
hemmen könnte. Und jeder Ruck, mit dem sich das Heer des einen Staates
ausdehnt, liefert den Heeren aller andern Staaten den willkommnen Vorwand
für eine entsprechende Vergrößerung.

Nun soll uicht geleugnet werden, daß diese militärische Spannung durch
die Lage Europas gerechtfertigt wird. Nur muß man endlich einmal auf-


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[0012] Zur Lage vor, daß alle unsre Nachbarn noch weit mehr fürs Militär ausgeben als wir. Darauf antwortet der anonyme Verfasser des Buches: „Volksdienst; von einem Sozialaristokraten" (und spricht damit gewiß den innersten Gedanken von Millionen aus): Daraus folgt doch nur, daß die andern Völker noch dümmer sind als wir! Man rechnet uns vor, wie reich das deutsche Volk sei, und wie leicht es noch weit mehr aufbringen konnte, als gefordert wird. Ja doch, ja! Unser Nationaleinkommen ist stattlich genug. Miquel hat allein bei den obern Dreihunderttausenden Preußens 1500 Millionen Einkommen mehr ent¬ deckt, als diese Herren das Jahr zuvor selbst gefunden hatten. Niemand wird behaupten wollen, daß sie mit dem, was sie vor der neuen Einschätzung selbst angegeben hatten, uicht standesgemäß leben könnten. Sie brauchen von diesen 1500 Millionen nur deu dritten Teil als Finderlvhn auf dein Altare des Vaterlandes zu opfern — natürlich alljährlich —, lind nicht allein die Kosten der Militärvorlage sind gedeckt, sondern Staat und Reich sind aus allen Finanznöten. Und dann werden sie auch einigermaßen berechtigt sein, in ihren Blättern dem Mittelstande — das Proletariat muß aus dem Spiele bleiben; ihm Opfer fürs Vaterland zuzumuten, wäre aus mehr als einem Grunde un¬ anständig —, dem Mittelstände also Opferwilligkeit predigen zu lassen. Wenn sie vor dieser That, die bei der jetzt in ihren Kreisen flutenden hohen patrio¬ tischen Begeisterung keine vier Wochen mehr auf sich warten lassen kann, schon jetzt predigen lassen und auf ihre Predigt ein andres Amen erwarten, als ein höllisches Hohngelächter, dann sind sie dumm. Stunde der Feind wirklich an der Grenze oder gar schon im Lande, dann wäre zum Rechnen keine Zeit, und jeder, auch der Proletarier, würde opfern, ohne zu fragen, was der reiche Nachbar opfert oder dem Vaterlande schäbig entzieht. Daß dem Volk Opfer zugemutet werden für Zwecke, die es nicht kennt, von denen es argwöhnt, sie möchten mit seinem Wohle sehr wenig zu schaffen haben, daß auf jede „unwiderruflich letzte" Militärvorlage eine neue folgt, das bringt das Volk zur Verzweiflung. Es fühlt sich wehrlos in einen Schraubstock gespannt, dessen Schraube ohne Ende seine wirtschaftliche wie seine Charakter- und Geisteskraft zu zermalmen droht. Auf die „mili¬ tärische Spannung," nicht auf „Intentionen der Regierungen" hat Graf Kal- uoky das europäische Wettrüsten zurückgeführt. Das heißt deutlich gesprochen: nachdem die europäischen Staaten fast sämtlich Militärstaaten und die Offizier¬ korps der herrschende Stand geworden sind, giebt es nichts, was den jedem Stande natürlichen Expansionstrieb beim Militär noch eiuschrünken und hemmen könnte. Und jeder Ruck, mit dem sich das Heer des einen Staates ausdehnt, liefert den Heeren aller andern Staaten den willkommnen Vorwand für eine entsprechende Vergrößerung. Nun soll uicht geleugnet werden, daß diese militärische Spannung durch die Lage Europas gerechtfertigt wird. Nur muß man endlich einmal auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/12>, abgerufen am 23.11.2024.