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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Ein neues Prozeßgesetz für "Österreich

UM unser Heer und unsre Marine zu stärken. Und wahrscheinlich dürfte noch
genug übrig bleiben, um auch den Werken des Friedens ein gut Teil zuwenden
zu können. Nehmen wir dann eine progressive Einkommensteuer und eine pro¬
gressive Erbschaftssteuer bis zu 25 Prozent hinzu, so würde man wohl auf
Jahre hinaus sichre finanzielle Grundlagen geschaffen haben.

Dazu gehört freilich, daß die rein individualistische Denkweise, die seit
dem vorigen Jahrhundert nicht nnr das wirtschaftliche Gebiet beherrschte,
sondern auch die gesamte Denkmeise durchsetzte, sodaß die Veziehuugen zur Ge¬
samtheit stark in den Hintergrund traten, auf ihr rechtes Maß zurückgeführt
werde. Hüten wir uns nur, daß wir nach der Herrschaft des Individualismus
nicht dem andern Extrem anheimfallen, einem unbedingten Sozialismus, wie
ihn die sozialdemokratische Partei vertritt. Beide Betrachtungsweisen brauchen
nicht Gegensätze zu bilden, sondern können sich recht wohl vereinigen lassen.
Für jetzt haben wir nur zu wünschen, daß die sozialistische Denkrichtung
vordringe. Ihre Herrschaft wird zur Errichtung einer sozialistischen Partei
sühren, die allein die Sozialdemokratie auflösen kann. Mit den demagogischen
Elementen wird die Gesellschaft schon fertig werden.




Gin neues Prozeßgesetz für Österreich
von <v. Bähr

s ist nun vierzehn Jahre her, daß bei uns die jetzt bestehende
Zivilprozeßordnung, angefertigt nach dem Muster der franzö¬
sischen, in Verbindung mit einer neuen Organisation der Ge¬
richte eingeführt wurde. Man hat seitdem über die Wirkungen
dieses Gesetzes reiche Erfahrungen machen können, und es hat
auch nicht ganz um öffentlicher Besprechung dieser Erfahrungen gefehlt. Gegen¬
wärtig ist nun in unserm deutschen Nachbarreiche, in Österreich, dem Abge¬
ordnetenhause der Entwurf einer Zivilprozeßordnung vorgelegt worden, bei
dem die bei uns gemachten Erfahrungen benutzt werden konnten und augen¬
scheinlich benutzt worden sind. Es ist interessant, zu sehen, in welcher Weise
dies dort geschehen ist. Man hat dabei offenbar einen viel unbefangnen Blick
gehabt, als bei uns, wo es noch heute viele Juristen giebt, die von der
ersten Begeisterung, mit der die deutsche Zivilprozeßordnung aufgenommen
wurde, nicht loskommen können. Zur Belehrung unsrer deutschen Fachge-


Ein neues Prozeßgesetz für «Österreich

UM unser Heer und unsre Marine zu stärken. Und wahrscheinlich dürfte noch
genug übrig bleiben, um auch den Werken des Friedens ein gut Teil zuwenden
zu können. Nehmen wir dann eine progressive Einkommensteuer und eine pro¬
gressive Erbschaftssteuer bis zu 25 Prozent hinzu, so würde man wohl auf
Jahre hinaus sichre finanzielle Grundlagen geschaffen haben.

Dazu gehört freilich, daß die rein individualistische Denkweise, die seit
dem vorigen Jahrhundert nicht nnr das wirtschaftliche Gebiet beherrschte,
sondern auch die gesamte Denkmeise durchsetzte, sodaß die Veziehuugen zur Ge¬
samtheit stark in den Hintergrund traten, auf ihr rechtes Maß zurückgeführt
werde. Hüten wir uns nur, daß wir nach der Herrschaft des Individualismus
nicht dem andern Extrem anheimfallen, einem unbedingten Sozialismus, wie
ihn die sozialdemokratische Partei vertritt. Beide Betrachtungsweisen brauchen
nicht Gegensätze zu bilden, sondern können sich recht wohl vereinigen lassen.
Für jetzt haben wir nur zu wünschen, daß die sozialistische Denkrichtung
vordringe. Ihre Herrschaft wird zur Errichtung einer sozialistischen Partei
sühren, die allein die Sozialdemokratie auflösen kann. Mit den demagogischen
Elementen wird die Gesellschaft schon fertig werden.




Gin neues Prozeßgesetz für Österreich
von <v. Bähr

s ist nun vierzehn Jahre her, daß bei uns die jetzt bestehende
Zivilprozeßordnung, angefertigt nach dem Muster der franzö¬
sischen, in Verbindung mit einer neuen Organisation der Ge¬
richte eingeführt wurde. Man hat seitdem über die Wirkungen
dieses Gesetzes reiche Erfahrungen machen können, und es hat
auch nicht ganz um öffentlicher Besprechung dieser Erfahrungen gefehlt. Gegen¬
wärtig ist nun in unserm deutschen Nachbarreiche, in Österreich, dem Abge¬
ordnetenhause der Entwurf einer Zivilprozeßordnung vorgelegt worden, bei
dem die bei uns gemachten Erfahrungen benutzt werden konnten und augen¬
scheinlich benutzt worden sind. Es ist interessant, zu sehen, in welcher Weise
dies dort geschehen ist. Man hat dabei offenbar einen viel unbefangnen Blick
gehabt, als bei uns, wo es noch heute viele Juristen giebt, die von der
ersten Begeisterung, mit der die deutsche Zivilprozeßordnung aufgenommen
wurde, nicht loskommen können. Zur Belehrung unsrer deutschen Fachge-


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[0116] Ein neues Prozeßgesetz für «Österreich UM unser Heer und unsre Marine zu stärken. Und wahrscheinlich dürfte noch genug übrig bleiben, um auch den Werken des Friedens ein gut Teil zuwenden zu können. Nehmen wir dann eine progressive Einkommensteuer und eine pro¬ gressive Erbschaftssteuer bis zu 25 Prozent hinzu, so würde man wohl auf Jahre hinaus sichre finanzielle Grundlagen geschaffen haben. Dazu gehört freilich, daß die rein individualistische Denkweise, die seit dem vorigen Jahrhundert nicht nnr das wirtschaftliche Gebiet beherrschte, sondern auch die gesamte Denkmeise durchsetzte, sodaß die Veziehuugen zur Ge¬ samtheit stark in den Hintergrund traten, auf ihr rechtes Maß zurückgeführt werde. Hüten wir uns nur, daß wir nach der Herrschaft des Individualismus nicht dem andern Extrem anheimfallen, einem unbedingten Sozialismus, wie ihn die sozialdemokratische Partei vertritt. Beide Betrachtungsweisen brauchen nicht Gegensätze zu bilden, sondern können sich recht wohl vereinigen lassen. Für jetzt haben wir nur zu wünschen, daß die sozialistische Denkrichtung vordringe. Ihre Herrschaft wird zur Errichtung einer sozialistischen Partei sühren, die allein die Sozialdemokratie auflösen kann. Mit den demagogischen Elementen wird die Gesellschaft schon fertig werden. Gin neues Prozeßgesetz für Österreich von <v. Bähr s ist nun vierzehn Jahre her, daß bei uns die jetzt bestehende Zivilprozeßordnung, angefertigt nach dem Muster der franzö¬ sischen, in Verbindung mit einer neuen Organisation der Ge¬ richte eingeführt wurde. Man hat seitdem über die Wirkungen dieses Gesetzes reiche Erfahrungen machen können, und es hat auch nicht ganz um öffentlicher Besprechung dieser Erfahrungen gefehlt. Gegen¬ wärtig ist nun in unserm deutschen Nachbarreiche, in Österreich, dem Abge¬ ordnetenhause der Entwurf einer Zivilprozeßordnung vorgelegt worden, bei dem die bei uns gemachten Erfahrungen benutzt werden konnten und augen¬ scheinlich benutzt worden sind. Es ist interessant, zu sehen, in welcher Weise dies dort geschehen ist. Man hat dabei offenbar einen viel unbefangnen Blick gehabt, als bei uns, wo es noch heute viele Juristen giebt, die von der ersten Begeisterung, mit der die deutsche Zivilprozeßordnung aufgenommen wurde, nicht loskommen können. Zur Belehrung unsrer deutschen Fachge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/116>, abgerufen am 27.11.2024.