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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Zur Lag!

kurz oder lang werden sich die europäische" Regierungen vor die Frage ge¬
stellt sehen, ob es möglich sei, aus allen Männern zugleich vollkommne Sol¬
daten und vollkommne Handwerker, Künstler. Gelehrte, Fabrikarbeiter und
Bauern zu machen, und ob nicht "das Volk in Waffen" eine nur vorüber¬
gehend berechtigte, auf die Dauer aber unhaltbare Einrichtung sei. Ein Volk
ist entweder ein eroberndes Volk und dann ein Soldatenvolk, schwach im
Ackerbau, den es durch Sklaven betreiben läßt, schwach in Künsten und Wissen¬
schaften, in Handel und Gewerbe, oder es ist ein Volk friedlicher Bürger und
Bauern, dann kann es kein Svldatenvolk sein, und der Offizier kann nicht die
erste Rolle spielen.

Wenn die Kartcllpresfe alle diese Schwierigkeiten einfach totschweigt oder
mit einigen patriotischen Redensarten abfertigt, so ist das teils ein frivoles
Treiben gedankenloser Lohnschreiber, die jederzeit bereit sind, heute für und
morgen gegen ein und dieselbe Sache zu schreiben, teils rührt es daher, daß
die guten und ehrlichen Patrioten, die überall dabei sind, wo der Ruf ertönt:
Mit Gott für König und Vaterland, in ihrer Begeisterung unfähig siud, nüch¬
terne Erwägungen anzustellen, endlich auch daher, daß diese Presse unter dem
Einflüsse mächtiger Interessentengruppen steht, denen jede Vermehrung des
Militärs Vorteil bringt.

Die Drohung mit Franzosen und Kosnken wirkt nicht mehr. Jedermann
sagt sich, daß wir zwar selbstverständlich unter den heutigen Verhältnissen
ein großes. starkes und gutes Kriegsheer haben müssen, daß aber bei einer
Friedensstärke von beinahe einer halben Million das Schicksal des Vaterlandes
unmöglich von 20000 oder auch 50000 Mann mehr oder weniger abhängen
könne. Die großen Worte der Regierungsblätter und der Patrioten von Beruf
ziehen um so weniger, weil Fürst Bismarck, der doch Wohl zu deu Sach¬
verständigen gehört, von Anfang bis zu Ende in den "Hamburger Nachrichten"
behauptet hat: 1. nicht die Annahme, sondern die Ablehnung der Vorlage
würde eine Friedensbürgschaft sein, 2. die Durchführung der Vorlage würde
-- für die nächsten Jahre wenigstens -- eher eine Schwächung als eine
Stärkung unsrer Kriegsmacht bedeuten. Am 8, November v. I. hat denn auch ein
nationalliberales Blatt Badens geschrieben: Wir möchten den sehen, der jetzt,
nachdem Bismarck gesprochen hat, es noch wagen würde, diese Borlage auch
nur mit einem Worte zu verteidigen! Zu allem Überfluß hat dünn noch ein
Blatt der Mittelparteien kurz vor dem Wahltage in seiner Herzensangst ver¬
raten, daß es sich ja gar nicht um Franzosen und Kosaken, sondern um die
Sozialdemokraten handle, das heißt also, daß wir mehr Soldaten brauchen
für den latenten Bürgerkrieg; denn nicht eine Verschwörerbande ist die Sozial-
demokratie, sondern der organisirte vierte Stand.

Nicht weniger unwirksam als die Schreckgespenster sind die ans volks¬
wirtschaftliche Erwägungen gegründeten Moralpredigten. Man rechnet uns


Zur Lag!

kurz oder lang werden sich die europäische» Regierungen vor die Frage ge¬
stellt sehen, ob es möglich sei, aus allen Männern zugleich vollkommne Sol¬
daten und vollkommne Handwerker, Künstler. Gelehrte, Fabrikarbeiter und
Bauern zu machen, und ob nicht „das Volk in Waffen" eine nur vorüber¬
gehend berechtigte, auf die Dauer aber unhaltbare Einrichtung sei. Ein Volk
ist entweder ein eroberndes Volk und dann ein Soldatenvolk, schwach im
Ackerbau, den es durch Sklaven betreiben läßt, schwach in Künsten und Wissen¬
schaften, in Handel und Gewerbe, oder es ist ein Volk friedlicher Bürger und
Bauern, dann kann es kein Svldatenvolk sein, und der Offizier kann nicht die
erste Rolle spielen.

Wenn die Kartcllpresfe alle diese Schwierigkeiten einfach totschweigt oder
mit einigen patriotischen Redensarten abfertigt, so ist das teils ein frivoles
Treiben gedankenloser Lohnschreiber, die jederzeit bereit sind, heute für und
morgen gegen ein und dieselbe Sache zu schreiben, teils rührt es daher, daß
die guten und ehrlichen Patrioten, die überall dabei sind, wo der Ruf ertönt:
Mit Gott für König und Vaterland, in ihrer Begeisterung unfähig siud, nüch¬
terne Erwägungen anzustellen, endlich auch daher, daß diese Presse unter dem
Einflüsse mächtiger Interessentengruppen steht, denen jede Vermehrung des
Militärs Vorteil bringt.

Die Drohung mit Franzosen und Kosnken wirkt nicht mehr. Jedermann
sagt sich, daß wir zwar selbstverständlich unter den heutigen Verhältnissen
ein großes. starkes und gutes Kriegsheer haben müssen, daß aber bei einer
Friedensstärke von beinahe einer halben Million das Schicksal des Vaterlandes
unmöglich von 20000 oder auch 50000 Mann mehr oder weniger abhängen
könne. Die großen Worte der Regierungsblätter und der Patrioten von Beruf
ziehen um so weniger, weil Fürst Bismarck, der doch Wohl zu deu Sach¬
verständigen gehört, von Anfang bis zu Ende in den „Hamburger Nachrichten"
behauptet hat: 1. nicht die Annahme, sondern die Ablehnung der Vorlage
würde eine Friedensbürgschaft sein, 2. die Durchführung der Vorlage würde
— für die nächsten Jahre wenigstens — eher eine Schwächung als eine
Stärkung unsrer Kriegsmacht bedeuten. Am 8, November v. I. hat denn auch ein
nationalliberales Blatt Badens geschrieben: Wir möchten den sehen, der jetzt,
nachdem Bismarck gesprochen hat, es noch wagen würde, diese Borlage auch
nur mit einem Worte zu verteidigen! Zu allem Überfluß hat dünn noch ein
Blatt der Mittelparteien kurz vor dem Wahltage in seiner Herzensangst ver¬
raten, daß es sich ja gar nicht um Franzosen und Kosaken, sondern um die
Sozialdemokraten handle, das heißt also, daß wir mehr Soldaten brauchen
für den latenten Bürgerkrieg; denn nicht eine Verschwörerbande ist die Sozial-
demokratie, sondern der organisirte vierte Stand.

Nicht weniger unwirksam als die Schreckgespenster sind die ans volks¬
wirtschaftliche Erwägungen gegründeten Moralpredigten. Man rechnet uns


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[0011] Zur Lag! kurz oder lang werden sich die europäische» Regierungen vor die Frage ge¬ stellt sehen, ob es möglich sei, aus allen Männern zugleich vollkommne Sol¬ daten und vollkommne Handwerker, Künstler. Gelehrte, Fabrikarbeiter und Bauern zu machen, und ob nicht „das Volk in Waffen" eine nur vorüber¬ gehend berechtigte, auf die Dauer aber unhaltbare Einrichtung sei. Ein Volk ist entweder ein eroberndes Volk und dann ein Soldatenvolk, schwach im Ackerbau, den es durch Sklaven betreiben läßt, schwach in Künsten und Wissen¬ schaften, in Handel und Gewerbe, oder es ist ein Volk friedlicher Bürger und Bauern, dann kann es kein Svldatenvolk sein, und der Offizier kann nicht die erste Rolle spielen. Wenn die Kartcllpresfe alle diese Schwierigkeiten einfach totschweigt oder mit einigen patriotischen Redensarten abfertigt, so ist das teils ein frivoles Treiben gedankenloser Lohnschreiber, die jederzeit bereit sind, heute für und morgen gegen ein und dieselbe Sache zu schreiben, teils rührt es daher, daß die guten und ehrlichen Patrioten, die überall dabei sind, wo der Ruf ertönt: Mit Gott für König und Vaterland, in ihrer Begeisterung unfähig siud, nüch¬ terne Erwägungen anzustellen, endlich auch daher, daß diese Presse unter dem Einflüsse mächtiger Interessentengruppen steht, denen jede Vermehrung des Militärs Vorteil bringt. Die Drohung mit Franzosen und Kosnken wirkt nicht mehr. Jedermann sagt sich, daß wir zwar selbstverständlich unter den heutigen Verhältnissen ein großes. starkes und gutes Kriegsheer haben müssen, daß aber bei einer Friedensstärke von beinahe einer halben Million das Schicksal des Vaterlandes unmöglich von 20000 oder auch 50000 Mann mehr oder weniger abhängen könne. Die großen Worte der Regierungsblätter und der Patrioten von Beruf ziehen um so weniger, weil Fürst Bismarck, der doch Wohl zu deu Sach¬ verständigen gehört, von Anfang bis zu Ende in den „Hamburger Nachrichten" behauptet hat: 1. nicht die Annahme, sondern die Ablehnung der Vorlage würde eine Friedensbürgschaft sein, 2. die Durchführung der Vorlage würde — für die nächsten Jahre wenigstens — eher eine Schwächung als eine Stärkung unsrer Kriegsmacht bedeuten. Am 8, November v. I. hat denn auch ein nationalliberales Blatt Badens geschrieben: Wir möchten den sehen, der jetzt, nachdem Bismarck gesprochen hat, es noch wagen würde, diese Borlage auch nur mit einem Worte zu verteidigen! Zu allem Überfluß hat dünn noch ein Blatt der Mittelparteien kurz vor dem Wahltage in seiner Herzensangst ver¬ raten, daß es sich ja gar nicht um Franzosen und Kosaken, sondern um die Sozialdemokraten handle, das heißt also, daß wir mehr Soldaten brauchen für den latenten Bürgerkrieg; denn nicht eine Verschwörerbande ist die Sozial- demokratie, sondern der organisirte vierte Stand. Nicht weniger unwirksam als die Schreckgespenster sind die ans volks¬ wirtschaftliche Erwägungen gegründeten Moralpredigten. Man rechnet uns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/11>, abgerufen am 23.11.2024.