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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Nach den Wahlen

Mögen die Radaumacher in der Sozialdemokratie noch so sehr wüten und
gegen die bestehende Ordnung der Dinge toben, so müssen doch die Vertreter
dieser Ordnung immer daran denken, daß sie nicht die gleiche Kampfesweise
anwenden dürfen, wenn sie nicht die Kluft unüberbrückbar machen, wenn sie
nicht auf eine gewaltsame Unterdrückung hinarbeiten und den Haß der untern
Stände auf die Spitze treiben wollen. Die Sozialdemokratie ist ein durchaus
notwendiger Pfahl in dem Fleisch unsrer Besitzenden. Ohne diesen Pfahl
ruhten sie auf dem Pfühl. Er ist der Stachel, der sie beständig an die
Pflichten erinnert, die sie gegen die Besitzlosen zu erfüllen haben. Unsre große
soziale Gesetzgebung wäre nicht ins Werk gesetzt worden, wenn nicht die an¬
stürmende Bewegung von unten die behagliche Ruhe oben gestört und der
Tritt der Arbeitermassen, wenn auch noch aus weiter Ferne, ein gelindes
Grauen geweckt hätte.

Mittlerweile sind diese schon näher gerückt, und sie werden noch näher
kommen; denn so muß es kommen, weil die Ordnnngsparteien viel zu sehr die
agitatorische Außenseite der Arbeiterbewegung bekämpfen, ohne sich die berech¬
tigte Innenseite zu Gemüte zu führen. Mit Schlagworten wie vom Teilen,
worüber jeder Sozialdemokrat nur lacht, da das Parteiprogramm damit nicht
getroffen wird, mit Witzen und freisinnigen Volksschriften wird nichts aus¬
gerichtet. Das haben wir gesehen. Der große Hägener Volkstribnn glaubte
die Sozialdemokratie vernichtet zu haben. In Wahrheit ist er ihr Vorfechter,
den jetzt schon sein Schicksal erreicht hätte, wenn die Nationalliberalen in der
Stichwahl den Mut gehabt hätten, unter zwei Übeln das kleinere zu wühlen
und für den Sozialdemokraten Mann für Mann eingetreten wären.

Denn wir hätten es nicht bedauert, wenn jetzt schon die Sozialdemokratie
siebzig oder achtzig Mann stark in den Reichstag eingezogen wäre, aus dem
einfachen Grunde: je stärker die Partei dort vertreten ist, desto gefahrloser
wird sie, und desto mehr wird sie dem, was berechtigt ist in ihrem Programm,
Geltung verschaffen. Eine große Partei, die sich an der Gestaltung der wirt¬
schaftlichen Dinge beteiligt, wird ohne zu wollen von ihrem revolutionären
Geist verlieren, weil ihr die Macht des Gewordnen zu greifbar entgegentritt.
An der Mauer der geschichtlichen Mächte hat sich schon mancher harte Kopf
zerstoßen, der vermeint hatte, die Welt mir nichts dir nichts ans den Angeln
zu heben. Was psychologisch besehen durchaus verfehlt ist in dem Programm
der Sozialdemokraten, die Verkennung der Kraft der heimatlich-vaterländischen
wie der religiösen Gefühle, und die Geringschätzung des individuellen Selb¬
ständigkeitsgefühls gegenüber der Gesamtheit, wird eben als der menschlichen
Natur zuwiderlaufend immer bekämpft werden müssen. Aber warum sollten
Wir nicht zu einem gemäßigten Staatssozialismus übergehen? Das ist schlechter¬
dings nicht einzusehen.

Das Wort wirkt ja heutzutage auf viele noch wie ein Popanz. Das


Nach den Wahlen

Mögen die Radaumacher in der Sozialdemokratie noch so sehr wüten und
gegen die bestehende Ordnung der Dinge toben, so müssen doch die Vertreter
dieser Ordnung immer daran denken, daß sie nicht die gleiche Kampfesweise
anwenden dürfen, wenn sie nicht die Kluft unüberbrückbar machen, wenn sie
nicht auf eine gewaltsame Unterdrückung hinarbeiten und den Haß der untern
Stände auf die Spitze treiben wollen. Die Sozialdemokratie ist ein durchaus
notwendiger Pfahl in dem Fleisch unsrer Besitzenden. Ohne diesen Pfahl
ruhten sie auf dem Pfühl. Er ist der Stachel, der sie beständig an die
Pflichten erinnert, die sie gegen die Besitzlosen zu erfüllen haben. Unsre große
soziale Gesetzgebung wäre nicht ins Werk gesetzt worden, wenn nicht die an¬
stürmende Bewegung von unten die behagliche Ruhe oben gestört und der
Tritt der Arbeitermassen, wenn auch noch aus weiter Ferne, ein gelindes
Grauen geweckt hätte.

Mittlerweile sind diese schon näher gerückt, und sie werden noch näher
kommen; denn so muß es kommen, weil die Ordnnngsparteien viel zu sehr die
agitatorische Außenseite der Arbeiterbewegung bekämpfen, ohne sich die berech¬
tigte Innenseite zu Gemüte zu führen. Mit Schlagworten wie vom Teilen,
worüber jeder Sozialdemokrat nur lacht, da das Parteiprogramm damit nicht
getroffen wird, mit Witzen und freisinnigen Volksschriften wird nichts aus¬
gerichtet. Das haben wir gesehen. Der große Hägener Volkstribnn glaubte
die Sozialdemokratie vernichtet zu haben. In Wahrheit ist er ihr Vorfechter,
den jetzt schon sein Schicksal erreicht hätte, wenn die Nationalliberalen in der
Stichwahl den Mut gehabt hätten, unter zwei Übeln das kleinere zu wühlen
und für den Sozialdemokraten Mann für Mann eingetreten wären.

Denn wir hätten es nicht bedauert, wenn jetzt schon die Sozialdemokratie
siebzig oder achtzig Mann stark in den Reichstag eingezogen wäre, aus dem
einfachen Grunde: je stärker die Partei dort vertreten ist, desto gefahrloser
wird sie, und desto mehr wird sie dem, was berechtigt ist in ihrem Programm,
Geltung verschaffen. Eine große Partei, die sich an der Gestaltung der wirt¬
schaftlichen Dinge beteiligt, wird ohne zu wollen von ihrem revolutionären
Geist verlieren, weil ihr die Macht des Gewordnen zu greifbar entgegentritt.
An der Mauer der geschichtlichen Mächte hat sich schon mancher harte Kopf
zerstoßen, der vermeint hatte, die Welt mir nichts dir nichts ans den Angeln
zu heben. Was psychologisch besehen durchaus verfehlt ist in dem Programm
der Sozialdemokraten, die Verkennung der Kraft der heimatlich-vaterländischen
wie der religiösen Gefühle, und die Geringschätzung des individuellen Selb¬
ständigkeitsgefühls gegenüber der Gesamtheit, wird eben als der menschlichen
Natur zuwiderlaufend immer bekämpft werden müssen. Aber warum sollten
Wir nicht zu einem gemäßigten Staatssozialismus übergehen? Das ist schlechter¬
dings nicht einzusehen.

Das Wort wirkt ja heutzutage auf viele noch wie ein Popanz. Das


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[0107] Nach den Wahlen Mögen die Radaumacher in der Sozialdemokratie noch so sehr wüten und gegen die bestehende Ordnung der Dinge toben, so müssen doch die Vertreter dieser Ordnung immer daran denken, daß sie nicht die gleiche Kampfesweise anwenden dürfen, wenn sie nicht die Kluft unüberbrückbar machen, wenn sie nicht auf eine gewaltsame Unterdrückung hinarbeiten und den Haß der untern Stände auf die Spitze treiben wollen. Die Sozialdemokratie ist ein durchaus notwendiger Pfahl in dem Fleisch unsrer Besitzenden. Ohne diesen Pfahl ruhten sie auf dem Pfühl. Er ist der Stachel, der sie beständig an die Pflichten erinnert, die sie gegen die Besitzlosen zu erfüllen haben. Unsre große soziale Gesetzgebung wäre nicht ins Werk gesetzt worden, wenn nicht die an¬ stürmende Bewegung von unten die behagliche Ruhe oben gestört und der Tritt der Arbeitermassen, wenn auch noch aus weiter Ferne, ein gelindes Grauen geweckt hätte. Mittlerweile sind diese schon näher gerückt, und sie werden noch näher kommen; denn so muß es kommen, weil die Ordnnngsparteien viel zu sehr die agitatorische Außenseite der Arbeiterbewegung bekämpfen, ohne sich die berech¬ tigte Innenseite zu Gemüte zu führen. Mit Schlagworten wie vom Teilen, worüber jeder Sozialdemokrat nur lacht, da das Parteiprogramm damit nicht getroffen wird, mit Witzen und freisinnigen Volksschriften wird nichts aus¬ gerichtet. Das haben wir gesehen. Der große Hägener Volkstribnn glaubte die Sozialdemokratie vernichtet zu haben. In Wahrheit ist er ihr Vorfechter, den jetzt schon sein Schicksal erreicht hätte, wenn die Nationalliberalen in der Stichwahl den Mut gehabt hätten, unter zwei Übeln das kleinere zu wühlen und für den Sozialdemokraten Mann für Mann eingetreten wären. Denn wir hätten es nicht bedauert, wenn jetzt schon die Sozialdemokratie siebzig oder achtzig Mann stark in den Reichstag eingezogen wäre, aus dem einfachen Grunde: je stärker die Partei dort vertreten ist, desto gefahrloser wird sie, und desto mehr wird sie dem, was berechtigt ist in ihrem Programm, Geltung verschaffen. Eine große Partei, die sich an der Gestaltung der wirt¬ schaftlichen Dinge beteiligt, wird ohne zu wollen von ihrem revolutionären Geist verlieren, weil ihr die Macht des Gewordnen zu greifbar entgegentritt. An der Mauer der geschichtlichen Mächte hat sich schon mancher harte Kopf zerstoßen, der vermeint hatte, die Welt mir nichts dir nichts ans den Angeln zu heben. Was psychologisch besehen durchaus verfehlt ist in dem Programm der Sozialdemokraten, die Verkennung der Kraft der heimatlich-vaterländischen wie der religiösen Gefühle, und die Geringschätzung des individuellen Selb¬ ständigkeitsgefühls gegenüber der Gesamtheit, wird eben als der menschlichen Natur zuwiderlaufend immer bekämpft werden müssen. Aber warum sollten Wir nicht zu einem gemäßigten Staatssozialismus übergehen? Das ist schlechter¬ dings nicht einzusehen. Das Wort wirkt ja heutzutage auf viele noch wie ein Popanz. Das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/107>, abgerufen am 28.07.2024.